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Die im Jahre 1291 gegründete Schweiz bezeichnete sich gern als die verlässlichste Demokratie der Welt. Das Parlament gründete sich auf zwei gleichberechtigte Kammern: den Nationalrat, der die Bevölkerung repräsentierte und dessen zweihundert Mitglieder proportional zur Bevölkerungsanzahl der sechsundzwanzig Kantone gewählt wurden, und den Ständerat, der sich aus jeweils zwei Mitgliedern der zwanzig Kantone und jeweils einem Mitglied der sechs Halbkantone zusammensetzte. Alle vier Jahre kamen die Mitglieder beider Kammern zusammen, um die sieben Mitglieder des Bundesrates neu zu wählen. Die Sitze im Bundesrat wurden proportional zur Vertretung der jeweiligen Parteien vergeben. Jedes Mitglied des Bundesrates übernahm die Leitung eines Departements oder eines Bereiches der Bundesverwaltung. Der Bundespräsident oder die Bundespräsidentin wurde einmal jährlich vom Parlament gewählt.
Mit seinen fünfundvierzig Jahren war Alphons Marti das jüngste Mitglied des Bundesrates, aber er war wild entschlossen, keine sechs Jahre auf das Amt des Bundespräsidenten zu warten. Er hatte sich den Ruf eines Kreuzritters erworben. Zunächst in seinem Heimatkanton Genf, wo er kurzen Prozess mit dem organisierten Verbrechen gemacht hatte, und seit neuestem auch auf internationaler Ebene, wo er einen Feldzug gegen die amerikanische Praxis der »Extraordinary Rendition«, der »außerordentlichen Überstellung« oder besser gesagt der »Verschleppung von Terrorverdächtigen«, gestartet hatte.
An jenem kühlen Freitagmorgen saß er hinter seinem teuren Schreibtisch, studierte die Dokumente in seiner Hand und wusste, dass die Informationen, die in ihnen zu finden waren, ihn zweifellos direkt auf den Präsidentensessel katapultieren würden.
Die Unterlagen waren ihm vor zehn Minuten von der Swisscom übermittelt worden und enthielten eine Auflistung aller Telefonate, die von Marcus von Daenikens privaten und dienstlichen Anschlüssen aus geführt und an diese gegangen waren. Alles in allem waren es achtunddreißig Telefongespräche. Die meisten der Nummern gehörten von Daenikens Kollegen beim Nachrichtendienst. Marti entdeckte seine eigene Nummer gleich dreimal: um 8:50 Uhr, als er von Daeniken die von ONYX übermittelte Passagierliste der CIA-Chartermaschine durchgegeben hatte; um 12:15 Uhr, als das amerikanische Flugzeug um Landeerlaubnis auf Schweizer Boden gebeten hatte, und um 1:50 Uhr, als er mit von Daeniken die Fahrt zum Flughafen besprochen hatte.
Während er die Liste der Telefonnummern überprüfte, blieb er bei einer 001-Ländervorwahl hängen. Die Vereinigten Staaten. Vorwahl 703 - für Langley, Virginia. Es war die Nummer der Central Intelligence Agency der Vereinigten Staaten von Amerika - besser bekannt als CIA.
Hier also hatte Marti seinen Beweis.
Er warf die Unterlagen auf den Schreibtisch und rief Hardenberg an, den Ermittler, mit dem er letzte Nacht gesprochen hatte. »Wo ist von Daeniken? Ich muss ihn dringend sprechen.«
»Er hat vor fünfzehn Minuten in Zürich einen Hubschrauber bestiegen«, erwiderte Hardenberg. »Er ist mit Kurt Meyer auf dem Weg nach Davos.«
»Davos?« Marti blieb der Mund offen stehen. »Warum denn das um alles in der Welt?«
»Wir sind Jonathan Ransom dicht auf den Fersen. Allem Anschein nach soll er Parvez Jinn, dem iranischen Technologieminister, ein Auto übergeben.«
Marti kniff sich so stark in den Nasenrücken, dass es weh tat. »Haben Sie den Sicherheitsdienst in Davos alarmiert?«
»Soweit ich weiß, ja.«
»Wenn Sie was Neues erfahren, lassen Sie es mich sofort wissen.«
Marti legte auf und rief auf der Stelle den Chef des Eidgenössischen Departements für Verteidigung am anderen Ende der Stadt an. »Ja, Herr Direktor«, sagte er. »Wir haben da ein massives Problem. Ein hochrangiger DAP-Mitarbeiter wurde soeben überführt, für einen ausländischen Geheimdienst zu arbeiten. Der Mann, um den es sich handelt, ist Marcus von Daeniken. Ja, ich war genauso überrascht wie Sie. Man weiß nie, wem man wirklich trauen kann.«
Er blickte von der verräterischen Liste auf und starrte aus dem Fenster. Sein Blick fiel auf die Berge im Osten.
»Wie schnell können Sie Ihre Männer nach Davos schicken?«