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»Zweiundsiebzig Stunden«, sagte von Daeniken, während er die Jacke auszog und über die Stuhllehne warf. »Mehr Zeit haben wir nicht. Ransom ist unser Mann. Daran besteht kein Zweifel. Er hat so was schon häufiger gemacht. Dinge in die Luft gejagt, meine ich, und zwar in Beirut, im Kosovo und in Darfur. Er bringt Leute um, und er geht sehr professionell dabei vor.«
Die Sondereinsatztruppe hatte sich in der »Leichenhalle« eingerichtet, einem seelenlosen Konferenzraum im Keller des Nachrichtendienstes. Fünf Schreibtische waren in einem Halbkreis aufgestellt und Computer, Telefone und Kopiergeräte herbeigeschafft worden. Ein Nervenzentrum auf der Suche nach dem dazugehörigen Körper. Im Augenblick waren nur Seiler und Hardenberg anwesend. Der Anblick der unbesetzten Schreibtische in dem höhlenartigen Raum war nicht gerade dazu angetan, von Daenikens Laune zu verbessern.
»Nun mal langsam, Marcus«, sagte Max Seiler. »Was meinst du mit ›zweiundsiebzig Stunden‹?«
Von Daeniken setzte sich auf einen Stuhl und brachte die beiden Kollegen auf den neuesten Stand. »Er macht sich nach der Durchführung seiner Taten sofort aus dem Staub«, schloss er, nachdem er die Verbrechen von Ransom detailliert beschrieben hatte. »Und wie’s aussieht, ist unser Dr. Ransom im Begriff, sich am Sonntagabend nach Pakistan abzusetzen. Er tut vielleicht so, als ob er davon noch gar nichts weiß, aber er ist genau im Bilde. Seine Leute haben vermutlich den armen Teufel, der vor ihm vor Ort war und dessen Platz er einnehmen soll, getötet. Wir müssen Ransom unbedingt aufspüren, und zwar auf der Stelle. Was gibt es Neues über den Kleintransporter? Irgendjemand muss ihn doch gesehen haben.«
»Irgendjemand« bedeutete in diesem Fall eine der europäischen Überwachungskameras zwischen Dublin und Dubrovnik.
»Nicht die geringste Spur«, sagte Hardenberg. »Meyer ist gerade bei ISIS und versucht, denen Feuer unterm Arsch zu machen.«
»Zwei Millionen Kameras und alle blind. Ist denn das zu fassen?« Von Daeniken schüttelte frustriert den Kopf.
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Kurt Meyer trottete herein. Beim Gehen zog er sich den Gürtel über den gewaltigen Bauch.
»Da bist du ja«, sagte von Daeniken. »Haben gerade von dir gesprochen. Was hast du herausgefunden?«
Meyer warf einen Blick auf die erwartungsvollen Gesichter. Es war offensichtlich, dass er Neuigkeiten hatte. Er hielt einige Fotos in die Höhe. »Leipzig, vor zehn Tagen. Das Bild wurde in der Nähe des Bayerischen Platzes beim Bahnhof aufgenommen. Wir haben den Kleintransporter.«
»Gott sei Dank!«, rief von Daeniken aus. Er erhob sich und sah sich das Bild genauer an.
Auf dem bemerkenswert scharfen Foto war ein weißer VW-Kleintransporter mit Schweizer Nummernschild zu sehen, den ein bärtiger Mann mit einer Drahtgestellbrille fuhr. »Gassan sitzt am Steuer. Nachdem ich die Kennzeichen hatte, konnte ich eine erweiterte Suche starten. Hab einen Treffer gelandet; das hier wurde in Zürich vor einer Woche aufgenommen.« Ein weiteres Foto wurde herumgereicht. »Dieses Mal sitzt Blitz am Steuer.«
»Wo genau befand sich die Kamera?«, fragte von Daeniken.
»Ecke Badener Straße und Hardplatz.«
»Das ist in der Nähe von Lammers’ Firma, oder?«
»Nur wenige Kilometer davon entfernt«, sagte Meyer. »Schaut mal durch die Rückscheibe. Da liegt was ziemlich Großes im Kleintransporter. Wir haben die Fotos analysiert und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich dabei um große Stahlboxen handelt.
»Die Drohne?«
»Keine Ahnung. Aber was immer es ist, es ist groß und ziemlich schwer. Seht mal, wie tief das Fahrgestell auf der Radaufhängung liegt. Vergleicht einmal dieses Bild mit dem anderen. Wir vermuten, dass der Kleintransporter auf dem zweiten Bild eine Last von mindestens sechshundert Kilo geladen hat.« Meyer nahm ein weiteres Bild vom Stapel und reichte es herum. »Das letzte Bild wurde am Samstag in Lugano aufgenommen.«
Lugano war nur dreißig Kilometer von Ascona entfernt, wo Blitz gewohnt hatte. Von Daeniken hatte sich bei den Lackspuren in Blitz’ Garage also nicht geirrt. Der Kleintransporter hatte dort gestanden. »Gassan nimmt also den Sprengstoff in Leipzig in Empfang, übergibt ihn zusammen mit dem Kleintransporter an Blitz und begibt sich dann auf schnellstem Weg nach Schweden. Blitz fährt den Transporter nach Zürich und holt die Drohne aus Lammers’ Fabrik ab.« Er studierte die Fotos noch einige Zeit. »Ist das alles?«
»Das ist alles, was wir über den weißen Kleintransporter haben.«
Von Daeniken warf Meyer einen Blick zu. »Was soll das heißen, ›über den weißen Kleintransporten? Gibt’s noch einen anderen, von dem ich nichts weiß?«
»Allerdings. Sie fahren inzwischen einen schwarzen Kleintransporter. Sie haben die Kiste neu lackiert.«
»Woher weißt du das?«
»Wir wissen nicht, wie sie in den Besitz des weißen Kleintransporters gekommen sind, aber wir wissen, dass die Nummernschilder von einem Fahrzeug gleichen Typs in Schaffhausen gestohlen wurden. Die meisten Leute machen sich nicht die Mühe, so was bei der Polizei anzuzeigen. Sie denken, jemand hat ihnen einen bösen Streich gespielt und melden den Verlust lediglich bei der Kfz-Meldestelle. Gassan und seine Komplizen denken, dass sie alles ziemlich clever eingefädelt haben. Aber wir sind besser. Ich bin davon ausgegangen, dass sie nach dem ersten geglückten Diebstahl der Kennzeichen so was vielleicht noch mal versuchen würden. Also hab ich ein wenig nachgeforscht und alle Meldungen über verlorene und gestohlene Nummernschilder überprüft. Der Besitzer eines schwarzen Kleintransporters aus Lausanne hat vor zwei Wochen den Verlust seiner Nummernschilder gemeldet. Nicht der Wagen ist verschwunden, nur die Nummernschilder. Ich habe das Autokennzeichen bei ISIS überprüfen lassen. Schaut, was ich gefunden haben.«
Meyer reichte das letzte Foto an die anderen weiter. Das Bild eines schwarzen VW-Kleintransporters, der mit der vorgeschriebenen Geschwindigkeit eine Kreuzung überquerte. Im Hintergrund waren ein Werbeplakat für Lindt-Schokolade und das Hinweisschild eines bekannten Möbelhauses zu erkennen.
»Das Foto wurde gestern Nachmittag um fünf am Stadtrand von Zürich aufgenommen.«
»Und woher wissen wir, dass es derselbe Kleintransporter ist?«
»Sieh dir mal die vorderen Stoßstangen der Wagen an. Beide haben eine auffällige Beule unter dem Scheinwerfer. Und in beiden Wagen hängt ein Lufterfrischer in Form eines Tannenbaums am Rückspiegel. Eine Gemeinsamkeit könnte Zufall sein. Aber zwei? Niemals.«
»Verständige die städtische Polizei«, sagte von Daeniken. »Sie sollen eine Suchmeldung nach dem Kleintransporter rausgeben. Und kontrolliere die Bilder von allen Fahrzeugen, die in den letzten vierundzwanzig Stunden im östlichen Teil des Landes aufgenommen worden sind.«
»Wird erledigt.«
Von Daeniken betrachtete das Foto noch einmal aus der Nähe. »Wer sitzt denn da am Steuer? Blitz kann es nicht sein. Der war zu diesem Zeitpunkt schon tot.« Er zeigte Meyer das Foto, der die Stirn in Falten legte und eine Gleitsichtbrille aufsetzte. »Etwas stimmt hier nicht. Der Typ sieht irgendwie … komisch aus.«
»Bring das Foto ins kriminaltechnische Labor. Sie sollen es vergrößern und an Interpol weiterleiten.«
Meyer schlurfte wieder aus dem Raum.
Von Daeniken drehte sich auf seinem Stuhl und wandte sich den anderen beiden Männern zu. »Soweit von der Ostfront. Irgendwelche Fortschritte im Westen?«
Das war das Stichwort für Klaus Hardenberg. Hardenberg, der dickliche Ermittler mit dem teigigen Gesicht, der eine einträgliche Karriere bei einem internationalen Züricher Wirtschaftsprüfer gegen das raue und undankbare Leben bei einer Strafvollzugsbehörde eingetauscht hatte.
»Blitz hat seine Bankgeschäfte bei der Banca Popolare del Ticino abgewickelt. Wir haben den Namen von seiner Eurocard und wissen somit, dass Blitz dort ein Konto unterhielt. Für gewöhnlich hatte er im Monat zwölftausend Franken auf seinem Konto. Im Großen und Ganzen hat er darüber die üblichen Zahlungen laufen lassen: Haushaltsrechnungen, Kreditkartengeschäfte, Gas, Strom und so weiter. Blitz hat wöchentlich fünfhundert Franken am immer gleichen Automaten in Ascona abgehoben. Alles in allem ein bescheidener Lebensstil für einen Mann, der einen Luxuswagen fuhr und in einer Villa lebte, die mehrere Millionen Franken gekostet hat.«
»Es sei denn, die Villa gehörte ihm gar nicht.«
»Ja, das hab ich mir auch gedacht.« Hardenberg lächelte zaghaft. »Die erste Auffälligkeit, die ins Auge fiel, war eine Überweisung über einhunderttausend Franken, die vor einer Woche auf dem Konto eingegangen sind. Auf dem Überweisungsträger stand: »Geschenk für P. J.«. Am folgenden Tag hat Blitz die gesamte Summe in bar am Schalter der Zweigstelle in Lugano abgehoben. Alles völlig sauber. Er hatte vorher in der Bank angerufen, direkt mit dem Direktor gesprochen und gesagt, dass es sich bei dem Betrag um die Anzahlung für ein Boot handelt, das er in Antibes bauen lässt.«
»Hat man das Geld in seinem Haus gefunden?«
»Nein, hat man nicht. Ich hab bei Leutnant Conti deswegen nachgefragt.«
»Wer hat Blitz die hunderttausend Franken überwiesen?«
»Tja«, sagte Hardenberg, »und hier kommen wir zum wirklich interessanten Teil. Das Geld kam von einem Nummernkonto der Royal Trust and Credit Bank auf den Bahamas. Zweigstelle Freetown.«
»Nie gehört«, sagte von Daeniken, der im Laufe seiner Arbeit die meisten bedeutenden Finanztempel unter der Sonne kennen gelernt hatte.
»Es ist eine kleine Bank mit einem Kapital von knapp unter einer Billion. Sie verfügt nicht über die klassische Filialstruktur. Es handelt sich eher um eine Brief- und Internetbank. Wenn niemand was dagegen hat, würde ich Blitz für den Moment gern außer Acht lassen und stattdessen über Lammers reden.«
Allgemeines Kopfnicken. Hardenberg rüstete sich, indem er eine halbe Dose Red Bull leerte und sich eine Gauloise anzündete.
»Wie gesagt, will ich mich jetzt Theo Lammers zuwenden«, fuhr er fort. »Seine Geschäfte liefen blendend. Sämtliche finanziellen Transaktionen wurden über USB abgewickelt, eine erstklassige Adresse. Ich habe alle Konten überprüft. Vor neun Monaten hat er allerdings eine Überweisung über zwei Millionen Franken erhalten, und zwar von niemand Geringerem als der Royal Trust and Credit Bank auf den Bahamas.«
»Zwei Millionen von derselben Bank?« Von Daeniken rutschte auf die Stuhlkante. »Wenn das Geld von den gleichen Leuten kam, die Blitz die hunderttausend Franken überwiesen haben, wissen wir, wer hinter diesem sauberen Geschäft steckt. Wofür war das Geld gedacht?«
»Ich habe mir erlaubt, Michaela Menz von der Robotica AG anzurufen. Sie meinte, bei der Summe handele es sich um die Begleichung ausstehender Rechnungen. Mit anderen Worten, die zwei Millionen Franken waren die Bezahlung für eine Auftragsfertigung. Leider war in der Überweisung keine Rechnungsnummer angegeben. Sie konnte mir daher nicht sagen, welcher Auftrag genau mit dem Geld bezahlt worden ist.«
Seiler warf von Daeniken einen Blick zu. »Es war für die Drohne.«
Von Daeniken nickte. Endlich kamen sie der Sache näher. »Stammte das Geld denn von demselben Nummernkonto bei der Royal Trust and Credit Bank?«
Hardenberg schüttelte den Kopf. »Das wäre ja auch zu schön gewesen. Nein, es kam von einem Nummernkonto, das keinerlei Bezug zu dem ersten hat. Zumindest auf den ersten Blick. Die Wahrscheinlichkeit, dass Blitz und Lammers zufällig mit derselben unbedeutenden Bank in der Karibik Geschäfte tätigen, liegt bei einer Million zu eins. Das habe ich auch Davis Brunswick, dem Leiter der Bank, gegenüber zur Sprache gebracht. Er war nicht besonders kooperativ. Zuerst hab ich’s mit Charme versucht. Dann habe ich ihm gesagt, dass er seine Bank auf der schwarzen Liste wiederfinden würde, die über dreitausend Unternehmen in der Schweiz und allen maßgeblichen Strafvollzugsbehörden zugestellt wird, falls er sich weiterhin weigern würde, mir Informationen über die Personen hinter den Nummernkonten zu geben.«
»Und, hat das funktioniert?«
Hardenberg zuckte mit den Schultern. »Natürlich nicht«, gab er zu. »Heutzutage überleben nur noch die harten Jungs. Ich musste also zu Plan B übergehen. Zum Glück hatte ich vor meinem Gespräch mit Brunswick ein paar Nachforschungen angestellt. Dabei hab ich herausgefunden, dass er verschiedene Privatkonten im Umfang von gut sechsundzwanzig Millionen Franken in der Schweiz unterhält. Also hab ich ihm versichert, dass ich persönlich dafür sorgen würde, dass jeder einzelne Franke bis zum Ende seiner Tage eingefroren werden würde, wenn er mir nicht die Namen hinter diesen Nummernkonten verrät.«
»Und?«
»Brunswick hat gesungen wie ein Vögelchen. Beide Nummernkonten wurden von einer Treuhandfirma eingerichtet, die wiederum eine Tochtergesellschaft der Tingeli Bank ist. Es handelt sich hierbei um die gleiche Firma, die den Kauf der Villa Principessa im Auftrag der Holdinggesellschaft in den niederländischen Antillen durchgeführt hat.«
»Wie hast du bloß rausgefunden, dass dieser Brunswick in unserem Land Konten unterhält?«, fragte von Daeniken.
Hardenberg zog eine Grimasse und schüttelte seinen riesigen, runden, kahlen Kopf. »Glaub mir, das willst du gar nicht wissen.«
Die Männer brachen in ein kurzes, wissendes Gelächter aus.
Seiler räusperte sich. »Soweit ich weiß, Marcus, kennst du Tobi Tingeli doch persönlich.«
Jetzt zog von Daeniken eine Grimasse. »Tobi und ich saßen zusammen in der Holocaust-Kommission.«
»Glaubst du, er wäre vielleicht bereit, uns einen Gefallen zu tun?«
»Tobi? Der weiß doch noch nicht mal, was das Wort bedeutet.«
»Aber du wirst ihn doch wenigstens fragen?«, hakte Seiler nach.
Von Daeniken dachte an Tobias »Tobi« Tingeli IV. und all die Leichen, die dieser Mann im Keller hatte. Tingeli war reich, eitel, aufgeblasen und besaß noch viele andere, weit weniger schmeichelhafte Eigenschaften. In gewisser Weise hatte von Daeniken seit zehn langen Jahren auf eine solche Gelegenheit gewartet.
Doch der Gedanke, sich endlich rächen zu können, erfüllte ihn nicht mit Genugtuung. »Ja, Max«, sagte er ruhig. »Ich werde ihn fragen.«