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Das Hauptquartier des DAP, des Dienstes für Analyse und Prävention, befand sich in einem modernen Gebäude aus Stahl und Glas in Bern.
Weniger als zweihundert Personen arbeiteten für die Schweizer Spionageabwehr. Ihre Aufgabe bestand vor allem darin, Informationen zu sammeln und auszuwerten, und sah darüber hinaus auch vor, bekannte Agenten ausländischer Nationen zu beobachten, von denen die meisten in Bern lebten. Zudem sollte man überwachen, was allgemein als geheimer Informationsaustausch zwischen den Ländern verstanden wurde.
Nur dreißig Beamte kümmerten sich um die aktionsreicheren Aufgaben, also um die laufenden Ermittlungen und die Unterwanderung von extremistischen Gruppen und ausländischen terroristischen Vereinigungen, die auf Schweizer Boden operierten. Ein im wahrsten Sinne des Wortes kleines, straff geführtes Unternehmen.
Marcus von Daeniken betrat das Gebäude um Punkt sieben und machte sich gleich an die Arbeit. Er nahm den Telefonhörer zur Hand und wählte eine interne Nummer. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine Frau: »Schmidt. ISIS.«
Von Daeniken nannte ihr seinen Namen und seine Dienststelle. »Ich brauche aus unserer Überwachungsliste alle verfügbaren Informationen über eine Person mit Namen Theo Lammers. Es eilt.«
»In Ordnung. Ich schicke es Ihnen sofort rüber.«
Eine Minute später erklang ein Signalton aus seinem Computer, der anzeigte, dass eine neue E-Mail eingetroffen war. Von Daeniken stellte erfreut fest, dass es sich um die ISIS-Akte handelte. Der Bericht enthielt eine Zusammenfassung der Informationen, die man vom belgischen Nachrichtendienst bekommen hatte.
Theodor Albrecht Lammers war 1961 in Rotterdam geboren worden. Nachdem er seinen Doktorgrad in Maschinenbau an der Utrechter Universität erworben hatte, übernahm er verschiedene Jobs bei mehreren unbedeutenden Firmen in Amsterdam und Den Haag. 1987 fiel er den Behörden auf, als er in Brüssel mit Gerald Bull, einem aus Kanada stammenden Waffenkonstrukteur, zusammenarbeitete. Bull hatte seinerzeit eine »Superkanone« für Saddam Hussein entwickelt. Die Waffe trug den Kodenamen »Babylon« und war im Grunde ein riesiges Artilleriegeschoss, das in der Lage war, mit tödlicher Zielgenauigkeit eine Granate über eine Entfernung von mehreren hundert Kilometern abzufeuern. Bei Bulls Arbeit für den irakischen Machthaber handelte es sich um einen staatlich beurkundeten Auftrag. Trotzdem erhielten Bull und seine Partner (unter ihnen auch Theo Lammers) den Stempel »Personen von besonderem Interesse« und wurden vom belgischen Nachrichtendienst beschattet.
Von Daeniken kannte das Ende der Geschichte nur zu gut. 1990 wurde Gerald Bull von einem Profi-Killer, der vor der Tür seiner Brüsseler Wohnung auf ihn gewartet hatte, mit fünf Schüssen ins Genick getötet. Zunächst wurde spekuliert, dass der Mossad, der israelische Geheimdienst, hinter Bulls Ermordung stand. Diese Annahme erwies sich jedoch als haltlos. Zwischen den Israelis und dem Wissenschaftler hatte ein auf reinen Geschäftsinteressen beruhendes, wenngleich gutes Verhältnis bestanden. Als potentieller Handelspartner war Israel sehr an dem interessiert, womit Bull sich gerade beschäftigte. Was wohl auch der Grund dafür gewesen war, warum die Iraker ihn schließlich liquidierten. Für Saddam Hussein galt es, nach Fertigstellung der Babylon-Waffe um jeden Preis zu verhindern, dass Bull seine Geheimnisse an andere, allen voran an die Israelis, verriet.
Von Daeniken schloss die E-Mail, stand auf und ging zum Fenster. Der Morgen war grau und ungemütlich, und aus den tiefhängenden Wolken fiel Schneeregen. Von seinem Fenster aus konnte er den Parkplatz überblicken und etwas weiter ein zur Hälfte fertiggestelltes Bürogebäude, auf dem sich trotz des Wetters unzählige Arbeiter tummelten.
Und Lammers?, fragte er sich. In was für eine Geschichte war der Ingenieur verwickelt gewesen? Was hatte ihn dazu bewegt, in seinem Werkraum eine Uzi und mehrere Reisepässe zu verstecken? Aus welchem Grund war ein professioneller Killer, der hinter einem Holzstapel auf der Lauer lag, auf ihn angesetzt worden?
Von Daeniken kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Auf ihm lagen mehrere Akten. Sie waren überschrieben mit »Flughäfen und Immigration«, »Terrorbekämpfung/Inland«, »Terrorbekämpfung/Ausland« und »Illegaler Handel«. Er sichtete sie alle. Zuletzt nahm er sich »Terrorbekämpfung/Ausland« vor.
Die Akte enthielt eine Zusammenstellung von Berichten aus einem Netzwerk diverser ausländischer Nachrichtendienste. 1971 hatte der Leiter des Schweizer Geheimdienstes, aufgerüttelt vom Schreckgespenst des politisch motivierten Verbrechens, eine Konföderation von westeuropäischen Leitern der Inlandnachrichtendienste maßgeblich mitbegründet, deren Auftrag es war, die interne Sicherheit ihrer Länder zu gewährleisten. Die Gruppe wurde unter dem Namen »Berner Club« bekannt. Nach den Anschlägen vom 11. September wurde sie hochoffiziell zur »Counterterror Group« oder kurz »CTG« erklärt.
Der zuoberst liegende Bericht kam von seinem Amtskollegen aus Schweden und gab an, dass Walid Gassan, ein mutmaßlicher Extremist (Schweden benutzte nicht die international geläufige Bezeichnung »Terrorist«), in Stockholm gesichtet worden war. Im Bericht stand außerdem, dass Gassan einer der Hauptverdächtigen des Bombenanschlags auf das Sheraton Hotel im jordanischen Amman war und ihm weitere, fehlgeschlagene Anschlagsversuche zur Last gelegt wurden. Abschließend bat der Kollege darum, alle Informationen, die Gassan oder seine Komplizen betrafen, unverzüglich an den schwedischen Geheimdienst weiterzuleiten.
Der Bericht war präzise, aber unvollständig.
Walid Gassan hatte sich im Januar kurzzeitig auf Schweizer Boden aufgehalten. Von Daeniken hatte von einem Informanten aus der »Großen Moschee« in Genf einen Tipp erhalten und ein Team auf Gassans Fährte angesetzt, das den Mann verhaften sollte. Obwohl Gassan nicht in der Schweiz gesucht wurde, besaß von Daeniken mit dem dringlichen polizeilichen Gesuch von Interpol die Vollmacht, ihn in Untersuchungshaft zu nehmen. Wie sich jedoch herausstellte, war das Glück auf Gassans Seite gewesen, und der Terrorist hatte das Land schon wieder verlassen, als von Daeniken noch dabei war, seine Leute in Alarmbereitschaft zu versetzen, und bevor er weitere Schritte gegen ihn in die Wege leiten konnte.
Von Daeniken dachte an den Fingernagel, den er im Flugzeug gefunden hatte. Vielleicht waren seine Berichte über Gassans Aufenthalt und Aktivitäten in irgendeiner Form von Nutzen gewesen. Allerdings entzog es sich seiner Kenntnis, ob Gassan in den Straßen von Stockholm oder in einer anderen europäischen Stadt entführt worden war. Er würde es Philip Palumbo, dem Leiter der »Special Removal Unit« der CIA, überlassen - jener Spezialeinheit, die für Verschleppungen oder außerordentliche Überstellungen zuständig war -, die Schweden über Gassans augenblicklichen Aufenthaltsort zu informieren, falls und wann immer es ihm in den Kram passte.
Von Daeniken ging die Treppe bis zur zweiten Etage hinunter und folgte einem kühlen, mit grauem Teppichboden ausgelegten Flur bis zur letzten Tür auf der rechten Seite. Auf dem Türschild stand »KILA 2.8«.
»KILA« war die Abkürzung für »Koordinationsstelle im Bereich Identitäts- und Legitimationsausweise«. KILAs Arbeit bestand darin, eine Sammlung von Identitätsausweisen aus aller Herren Länder zu verwalten. In ihren überfüllten Aktenschränken befand sich mindestens ein Exemplar eines jeden einzelnen Reisepasses, Führerscheins, einer jeden einzelnen Geburtsurkunde und aller sonst üblichen, behördlich ausgestellten Dokumente zur persönlichen Identifikation, die derzeit in mehr als zweihundert Ländern rund um den Erdball im Umlauf waren.
Von Daeniken steckte seinen Kopf durch die Tür. »Max, bist du gerade sehr beschäftigt?«
Max Seiler war der Leiter der KILA. Ein kleiner Mann mit einer tonnenförmigen Brust, blauen Augen und schütterem Haar. »Dachte mir schon, dass du heute vorbeischaust«, sagte er und blickte von seiner Arbeit auf. »Hab gehört, dass du eine ziemlich harte Nacht hinter dir hast.«
Von Daeniken informierte Seiler über die Details. »Die sind im Haus des Opfers gefunden worden«, sagte er und warf die drei Reisepässe auf den Schreibtisch.
Seiler sah sich die Dokumente genauer an. »Ein Spion?«
»Spion. Schmuggler. Betrüger. Eins davon.«
Seiler nahm einen rötlichbraunen Reisepass unter die Lupe, auf dem das königliche Wappen sowie die Worte »Europese Unie - Koninkrijk der Nederlanden« prangten. »Ist das der echte?«
»Soweit ich weiß, ist Lammers sein richtiger Name. Er hatte einen Ausländerausweis C, in dem steht, dass er gebürtiger Holländer ist. ISIS hat seine Spuren bis zu einer Uni in den Niederlanden zurückverfolgt. Ich bezweifle, dass er schon vor seinem achtzehnten Geburtstag eine falsche Identität besaß. Trotzdem will ich eine gründliche Überprüfung all seiner Identitäten. Check den Mann bei Identigate ab und versuch anschließend, seine Abstammungspapiere aufzutreiben.«
Zu den Abstammungspapieren gehörten die Sozialversicherungskarten und die Geburtsurkunden, also sämtliche von der Regierung ausgestellten Papiere, mit denen die Identität einer Person belegt wird.
Seiler beugte sich zur Seite und räumte einen Stapel Papiere vom Stuhl neben sich. Bei genauerem Hinsehen handelte es sich dabei um italienische Führerscheine, deutsche Krankenversicherungskarten und englische Geburtsurkunden. Alles Fälschungen.
»Jules Gaye, geboren 1962 in Brüssel«, las er laut beim Öffnen des Belgischen Passes. Er blätterte durch die Seiten, betrachtete eingehend die Einwanderungsstempel, widmete sich danach wieder der ersten Seite und hielt sie unter eine Speziallampe mit einem flexiblen Hals und ultraviolettem Licht. Das blasse Bild des belgischen Königspalastes wurde sichtbar.
»Die unsichtbare Tinte sieht gut aus«, sagte von Daeniken.
»Die neuen belgischen Pässe sind geschickt gemacht. Dieser hier besitzt fünf Sicherheitskennzeichen, um Fälschungen zu erschweren. Ein digitales Lichtbild des Passinhabers, ein Wasserzeichen von Albert II., ein Hologramm von Belgien, das je nach Blickwinkel grün oder blau schimmert und zwei Mikrotagganten. Auf den ersten Blick würde ich sagen, er ist echt.«
»Du meinst, der Pass an sich.«
»Nicht nur der Pass. Ich meine ›echt‹ im Sinne von offiziell. Ausgestellt von einer amtlichen Passbehörde.«
»Bist du dir sicher?« Von Daenikens Skepsis gründete sich auf Erfahrung. Belgische Pässe waren die VWs im Handel mit gefälschten Dokumenten. Günstig, glaubwürdig und leicht zu bekommen. Seit 1990 waren weltweit über neunzehntausend echte Pässe aus dem belgischen Konsulat, den Botschaften, den Rathäusern und der Diplomatenpost gestohlen worden. Das Land verlor Pässe wie manche Leute Regenschirme.
»Das können wir nachprüfen.« Seiler loggte sich in seinen Computer ein und gab Lammers’ Passnummer in Identigate ein, der Schweizer Polizeiquelle, in der über zwei Millionen weltweit gestohlener und gefälschter Dokumente aufgeführt waren. »Die Belgier informieren einerseits akribisch über den Diebstahl ihrer Pässe und verhalten sich andererseits sehr locker, wenn es um ihren Verlust geht«, sagte er. »Falls er gestohlen wurde, werden wir hier den Beweis dafür finden.« Einen Moment später runzelte er enttäuscht sein breites Gesicht. »Nichts. Soweit wir von den Belgiern wissen, ist dieser Pass legal.«
»Bist du sicher, dass er nicht gefälscht worden ist?«
»Ganz sicher. Das digitalisierte Foto wird direkt in die entsprechende Seite des Passes eingebrannt. Es ist praktisch unmöglich, dass Lammers das Bild des ursprünglichen Besitzers gegen sein eigenes ausgetauscht hat.«
»Was dagegen, wenn ich dein Telefon benutze?«
»Nur zu.«
Von Daeniken rief eine Kontaktperson bei der Koordinationsstelle im Bereich Identitäts- und Legitimationsausweise beim belgischen Nachrichtendienst an. »Frank, ich hab hier einen eurer Pässe auf dem Schreibtisch. Er wurde auf einen Mann ausgestellt, der letzte Nacht ermordet wurde. Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich sagen, das Ding ist echt.« Er nannte seinem Gesprächspartner die Nummer des Passes und den dazugehörigen Namen.
»Er ist echt«, sagte Frank Vincent nach einigen Sekunden. »Wir haben die Nummer hier in unserer Datei.«
»Das ist sonderbar. Bei uns ist der Mann als holländischer Staatsbürger unter dem Namen Theo Lammers geführt. Tu mir bitte einen Gefallen und überprüf mal diesen Jules Gaye. Verfolge ihn so weit zurück, wie du kannst. Ich möchte gerne wissen, ob er wirklich existiert oder ob es sich bei ihm um einen Strohmann handelt.«
»Das kann ein Weilchen dauern. Würde es dir bis heute Abend reichen?«
»Bis heute Mittag wäre mir lieber. Und da wäre noch was: Ich müsste wissen, von welcher Stelle aus ihr den Pass verschickt habt.«
Von Daeniken beendete das Telefonat. Max Seiler untersuchte gerade den neuseeländischen Pass. Auch dieser bestand die Prüfung. Das Dokument war nicht manipuliert worden, und seine Nummer tauchte auch nicht in der Datei für gestohlene Papiere auf. Von Daeniken blickte auf die Uhr. In Auckland war es jetzt halb sechs. Die Behörden dort hatten bereits Feierabend. Er beschloss, stattdessen die neuseeländische Botschaft in Paris anzurufen. Wegen der zehnstündigen Zeitdifferenz unterhielten die Kiwis eine voll ausgestattete diplomatische Vertretung in Frankreich, die in der Lage war, die meisten offiziellen Anfragen zufriedenstellend zu beantworten.
Von Daeniken erledigte den Anruf und erhielt die Information, dass der Pass echt war. Laut der neuseeländischen Behörden war der Passinhaber, ein Michael Carrington aus der Victoria Lane 24 in Christchurch, ein hochangesehener Bürger. Den Unterlagen zufolge ein NRA. Mit anderen Worten, es lag nichts gegen ihn vor. Von Daeniken bat darum, die Ausstellungsdokumente einsehen zu dürfen, und erhielt die Antwort, dass seine Anfrage unverzüglich an die zuständige Stelle weitergeleitet werden würde.
»Was hältst du davon?«, fragte von Daeniken, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte.
Seiler zuckte mit den Schultern. »Zwei gültige Pässe mit dem Bild deines Opfers und unterschiedlichen Namen. Da gibt’s nur eine logische Antwort, nicht wahr? Gaye und Carrington existieren nicht. Ich denke, wir können ausschließen, dass es sich bei deinem Opfer um einen zwielichtigen Geschäftsmann handelt. Sieht also ganz danach aus, als ob du’s hier mit einem Illegalen zu tun hast.«
Ein »Illegaler« war ein von der Regierung ausgebildeter Agent, der sich ohne Rückendeckung seines Landes auf geheimer Mission im Ausland befand. Ein mehrfach getarnter Spion, dessen tatsächliche Identität fast unmöglich aufzudecken war.
Von Daeniken nickte.
Beunruhigt kehrte er in sein Büro zurück. Seit sieben Jahren hatte er keinen annähernd vergleichbaren Fall mehr auf seinem Schreibtisch gehabt. Im Moment beschäftigten ihn nur zwei Fragen: Für wen hatte Lammers gearbeitet? Und was hatte er in der Schweiz gemacht, das zu seiner Ermordung geführt hatte?