52

»Ist das eine vollständige Liste all seiner Einsätze?« Marcus von Daeniken war in ein vollgestopftes, fensterloses Büro irgendwo auf einem der Flure des Ärzte ohne Grenzen-Hauptsitzes gebracht worden. Die Heizung lief auf vollen Touren, und jede weitere Minute, die er in diesem Büro hocken musste, kostete ihn noch etwas mehr seiner ohnehin überstrapazierten Geduld.

Die Direktorin der Abteilung zur Koordination der Medizinischen Einsätze saß ihm am Schreibtisch gegenüber. Eine etwa fünfzigjährige Frau aus Somalia, die vor zwanzig Jahren in die Schweiz immigriert war. Ihr Haar war raspelkurz, und sie trug goldene Kreolen an den Ohren. Sie gab sich keine Mühe, ihre Ablehnung zu verbergen, als sie sich über die Papierberge auf ihrem Schreibtisch beugte und ihm mit erhobenem Zeigefinger und einem unglaublich langen, kunstvoll lackierten Fingernagel eine Standpauke hielt.

»Warum sollte ich Ihnen eine unvollständige Liste geben?«, fragte sie gereizt und überreichte ihm Ransoms Akte. »Sehe ich vielleicht so aus, als ob ich etwas zu verbergen hätte? Lächerlich, sage ich Ihnen. Die ganze Angelegenheit. Jonathan Ransom, ein Mörder! Das ist vollkommen verrückt.«

Von Daeniken hatte keine Lust, etwas darauf zu erwidern. Die Graubündner Polizei war bereits einen Tag vor ihm hier gewesen und zweifellos sehr gründlich vorgegangen. Er wäre besser beraten, sie um Informationen zu bitten, als sich auf eine Diskussion mit dieser Frau einzulassen. Er nahm Ransoms Personalakte zur Hand und blätterte sie sorgfältig durch. Beirut, Libanon - Teamleiter eines Immunisierungs- und Impfprogramms. Darfur, Sudan - Direktor einer Flüchtlingshilfe. Kosovo - Medizinischer Leiter beim Aufbau einer Station für traumatisierte Patienten. Sulawesi, Indonesien. Monrovia, Liberia. Eine Liste so ziemlich aller politischen Brennpunkte der Welt.

»Ist es üblich, dass Ihre Ärzte so viel Zeit im Ausland verbringen?«, fragte er und blickte von der Akte auf. »Ich lese hier, dass Dr. Ransom an einigen dieser Orte zwei Jahre lang tätig war.«

»Das ist hier nicht unüblich.« Ein ungeduldiger Stoßseufzer. Ein Augenrollen. »Und Jonathan ließ sich gerne für die schwierigen Einsätze einteilen. Er ist einer unserer besonders engagierten Ärzte.«

»Wie meinen Sie das?«

»Die Bedingungen am Einsatzort sind oft zermürbend. Der Arzt verliert nicht selten den Blick für das Wesentliche und zerbricht an all dem Leid. Das Gefühl der Sinnlosigkeit kann übermächtig werden. Wir haben eine beachtliche Zahl an Ärzten mit posttraumatischem Stresssyndrom, vergleichbar mit dem nach Kriegseinsätzen. Doch Jonathan hat sich nie vor den problematischen Einsätzen gedrückt. Einige von uns glauben, dass der Grund dafür Emma war.«

»Emma? Sie meinen, seine Frau?«

»Wir waren der Ansicht, dass sie sich etwas zu intensiv mit den Menschen vor Ort befasst hat. Sie wurde nur allzu gerne ›eine von ihnen‹, wie es so schön heißt.«

»Ist es üblich, dass Mann und Frau im Team zusammenarbeiten?«

»Niemand würde heiraten, um dann seinen Partner tausende von Kilometern zurückzulassen.«

Von Daeniken ließ sich das einen Moment lang durch den Kopf gehen. Langsam begann er zu verstehen, wie das Ganze funktioniert haben könnte. Die Auslandseinsätze. Die ständigen Reisen. »Und was genau entscheidet darüber, wohin ein Arzt geschickt wird?«

»Wir versuchen, die Fähigkeiten der einzelnen Ärzte mit unseren Bedürfnissen zusammenzubringen. Daher hatten wir uns schon geraume Zeit darum bemüht, Dr. Ransom dazu zu bewegen, sich an unseren Schweizer Hauptsitz versetzen zu lassen. Wir waren der Meinung, dass seine Praxiserfahrung unseren Projektentwicklungen den nötigen Realitätsbezug verleihen würde.«

»Ich verstehe. Aber wer genau entscheidet denn nun, wohin jemand wie Dr. Ransom versetzt wird?«

»Das machen wir immer gemeinsam. Alle drei zusammen. Jonathan, Emma und ich. Wir schauen uns die Liste der neuen Einsatzgebiete an und entscheiden, wo sie am meisten bewirken können.«

Von Daeniken hatte nicht gewusst, dass Ransoms Frau so stark in die Arbeit mit eingebunden gewesen war. Er erkundigte sich nach ihren Aufgaben bei den gemeinsamen Projekten.

»Emma hat einfach alles gemacht. Ihr Aufgabenbereich war die Logistik. Sie hat die Einsätze geplant, dafür gesorgt, dass die Medikamente pünktlich geliefert wurden, die Hilfe vor Ort koordiniert und mit den Unruhestiftern verhandelt, damit sie uns in Ruhe unsere Arbeit tun lassen. Sie hat auch die Krankenstationen verwaltet, sodass Jonathan Leben retten konnte. Eine von ihrer Sorte war für uns so wertvoll wie fünf normale Mitarbeiter. Was ihr widerfahren ist, ist eine echte Tragödie. Sie fehlt uns jetzt schon.«

Eine Frau, die sich voll in die Arbeit ihres Mannes eingebracht hat. Eine überaus fähige Frau. Eine Frau, die Fragen stellte. Von Daeniken überlegte, ob sie vielleicht eine Frage zu viel gestellt hatte. »Und mit welchen Aufgaben ist Dr. Ransom im Augenblick betreut?«

»Sie meinen, bevor er sich entschloss, Polizisten umzubringen?« Die Afrikanerin betrachtete ihn mit einem abfälligen Grinsen, um ihm unmissverständlich zu demonstrieren, was sie von seinen Ermittlungen hielt. »Er leitet eine Malariabekämpfungs-Kampagne, die wir in Zusammenarbeit mit der Bates Foundation ins Leben gerufen haben. Ich glaube nicht, dass er übermäßig glücklich mit dieser Aufgabe ist. Es ist ein Verwaltungsjob, und er arbeitet lieber mit den Menschen in den verschiedenen Einsatzgebieten.«

»Und wie lange dauert seine jetzige Aufgabe?«

»Normalerweise ist dieser Job unbefristet. Für gewöhnlich bleibt er so lange auf seiner Stelle, bis das Programm abgeschlossen ist, weist dann seinen Nachfolger ein und wird auf die nächsthöhere Position befördert. Leider habe ich aus seiner Abteilung eine Beschwerde über ihn erhalten. Scheinbar ist er ein wenig schroff mit den amerikanischen Partnern dieses Projektes umgegangen … den Geldgebern«, raunte sie ihm zu. »Mrs. Bates mag ihn nicht besonders. Die Entscheidung, ihn von seinem Posten abzuziehen, ist bereits gefallen.«

Von Daeniken nickte, aber innerlich läuteten all seine Alarmglocken. Ihm wurde klar, dass er über den Drahtzieher gestolpert war, der Ransoms Einsätze im Ausland steuerte. Es begann mit einer Beschwerde an die Personalchefin. Mit einem Vorschlag. Vielleicht etwas noch Unmissverständlicherem, sodass die Frau aus Somalia reagieren musste. Jonathan Ransom muss nach Beirut gehen. Er muss nach Darfur versetzt werden.

»Wissen Sie schon, wohin er als Nächstes versetzt werden soll?«

»Ich hatte gehofft, nach Pakistan. In Lahore steht die Neueröffnung einer Station unmittelbar bevor. Der dortige Direktor ist allerdings unerwartet an einem Herzanfall gestorben. Er war erst fünfzig, der arme Mann. Und er hatte für Dienstag ein wichtiges Treffen mit dem Minister für Gesundheit und Soziales vereinbart. Ich hatte gehofft, dass ich Jonathan dazu bewegen kann, am Sonntag dorthin zu fliegen, damit das Treffen stattfinden kann.«

»An diesem Sonntag?«

»Ja. Mit dem Nachtflug. Ich weiß, dass das ziemlich viel verlangt ist von einem Mann, der gerade seine Frau verloren hat, aber so wie ich Jonathan kenne, würde es ihm guttun.«

»Sonntag«, wiederholte von Daeniken, dem das Gehörte langsam ins Bewusstsein drang.

Nur noch zweiundsiebzig Stunden.

Von Daenikens Theorie war einfach: Ransom war ein ausgebildeter Agent, der von einer ausländischen Regierung bezahlt wurde. Seine Stellung bei Ärzte ohne Grenzen bot ihm die ideale Tarnung, um in verschiedene Länder zu reisen, ohne unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Um die Auftraggeber Ransoms zu ermitteln, musste von Daeniken also herausfinden, welche Aktionen auf das Konto des Mediziners gegangen sein könnten.

Aus diesem Grund saß er nun vor einem Monitor der Genfer Polizei in der Rue Gauthier und recherchierte im Pressearchiv. Soeben starrte er auf das Foto einer schwer verwundeten Frau, die aus den Trümmern eines zerbombten Krankenhauses geborgen worden war. Das Bild stammte von der Titelseite des Daily Star, der englischsprachigen Zeitung des Libanon, und war am 31. Juli des letzten Jahres erschienen.

Die Headline des zugehörigen Artikels lautete: »Polizeiermittler bei Bombenanschlag getötet«. In dem Bericht stand, dass siebzehn Personen bei einer Explosion ums Leben gekommen waren, darunter auch ein bekannter Polizist, der die Ermittlungen im Fall der Ermordung des ehemaligen libanesischen Premierministers geleitet hatte. Zu der Zeit, als der Anschlag stattfand, musste der Polizeibeamte wegen eines Nierenleidens einmal wöchentlich zur Dialyse ins Krankenhaus. Ein Ermittler am Tatort hatte der Zeitung gegenüber erwähnt, dass der Sprengsatz vermutlich bei vor drei Monaten durchgeführten Renovierungsarbeiten auf dem Flur der Klinik deponiert worden war. Seiner Einschätzung nach handelte es sich um eine Bombe mit etwa fünfzig Kilogramm TNT.

Im Artikel war weiterhin zu lesen, dass sich niemand für den Anschlag verantwortlich erklärt hatte und dass die Polizei Hinweisen nachging, denen zufolge Geheimdienstagenten aus Syrien kurz vor der Explosion im Krankenhaus gesehen worden waren.

Von Daeniken sah vom Bildschirm auf. Eine Bombe, die drei Monate vor dem Anschlag im Krankenhaus deponiert worden war. Fünfzig Kilo TNT. Angesichts des Ausmaßes dieses Attentats lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Es mussten unzählige Leute daran beteiligt gewesen sein. Arbeiter, Bauunternehmer, Beamte der Stadtverwaltung, die die Baugenehmigungen erteilten, jemand aus dem Ärztestab, der die Behandlungstermine des Opfers weitergegeben haben musste. Als Polizist war von Daeniken beeindruckt, als Mensch einfach nur schockiert.

Vor dem Libanon war Ransom in Darfur gewesen …

Ein C-141-Transportflugzeug der Vereinten Nationen, in dem sich Anführer der muslimischen Dschandschawid und einheimische Sudanesen auf dem Weg nach Khartum befanden, um einen von der Regierung initiierten Waffenstillstand zu verhandeln, war unvermittelt in der Luft explodiert. Es gab keine Überlebenden. Die Ermittlungen sprachen für eine Bombe in einem der Triebwerke. Beide Seiten beschuldigten sich gegenseitig, für die Katastrophe verantwortlich zu sein. Der Bürgerkrieg flammte erneut auf.

Und vor Darfur der Kosovo. Auf Seite zwei der National Gazette las von Daeniken: »Der pensionierte General Vladimir Drakic, bekannt unter dem Namen ›Drako‹, ist zusammen mit achtundzwanzig anderen Personen bei einer Explosion getötet worden. Zum Zeitpunkt des Anschlages hatte der fünfundfünfzigjährige Drakic dem geheimen Treffen einer verbotenen rechten Nationalistischen Partei beigewohnt, die vermutlich unter seiner Führung stand. Drakic war seit über zehn Jahren vom UN-Kriegsverbrechertribunal gesucht worden. Er wurde in Zusammenhang mit einem Massaker an zweitausend Männern, Frauen und Kindern gebracht, das bei Srebrenica im Juli 1995 stattgefunden hatte. Die Inspektion des Tatorts weist auf eine defekte Gasleitung als Ursache für die Explosion hin. Die Polizei verfolgt einen Hinweis, demzufolge eine albanische Organisation in die Sache verwickelt sein könnte. Zwei Männer sind im Zuge der Ermittlungen vorläufig festgenommen worden.«

Die drei Attentate wiesen augenfällige Übereinstimmungen auf. Sie alle hatten sich gegen eine hochrangige, gut bewachte Persönlichkeit gerichtet und eine intelligente, akribische Planung sowie einen langen Vorlauf erfordert. Zudem ließen alle drei Fälle auf einen Drahtzieher im Hintergrund schließen.

Doch was von Daeniken letzten Endes davon überzeugte, dass Ransom an den Anschlägen beteiligt gewesen sein musste, waren die Zeitpunkte, zu denen sie stattgefunden hatten. Der Bombenanschlag in Beirut fand vier Tage vor Ransoms Aufbruch aus dem Libanon in Richtung Jordanien statt. Der Absturz des sudanesischen Flugzeugs geschah zwei Tage vor Ransoms Abreise, und die Explosion im Kosovo nur einen Tag vor seiner Rückkehr nach Genf.

Eine, wenn nicht die wichtigste Frage jedoch blieb unbeantwortet: Cui bono? Wer profitierte von den Anschlägen? Wer war der Nutznießer? Das Motiv war der Prüfstein einer jeden Ermittlung, doch hier schien es auf den ersten Blick kein erkennbares Motiv zu geben.

Von Daeniken schob seinen Stuhl vom Schreibtisch zurück. In seinem Kopf hallten die Worte der Ärzte ohne Grenzen - Direktorin wider: »In Lahore steht die Neueröffnung einer Station unmittelbar bevor. Ich hatte gehofft, dass ich Jonathan dazu bewegen kann, am Sonntag dorthin zu fliegen, damit das Treffen stattfinden kann.«

Reich, Christopher
titlepage.xhtml
Reich,_Christopher_split_000.html
Reich,_Christopher_split_001.html
Reich,_Christopher_split_002.html
Reich,_Christopher_split_003.html
Reich,_Christopher_split_004.html
Reich,_Christopher_split_005.html
Reich,_Christopher_split_006.html
Reich,_Christopher_split_007.html
Reich,_Christopher_split_008.html
Reich,_Christopher_split_009.html
Reich,_Christopher_split_010.html
Reich,_Christopher_split_011.html
Reich,_Christopher_split_012.html
Reich,_Christopher_split_013.html
Reich,_Christopher_split_014.html
Reich,_Christopher_split_015.html
Reich,_Christopher_split_016.html
Reich,_Christopher_split_017.html
Reich,_Christopher_split_018.html
Reich,_Christopher_split_019.html
Reich,_Christopher_split_020.html
Reich,_Christopher_split_021.html
Reich,_Christopher_split_022.html
Reich,_Christopher_split_023.html
Reich,_Christopher_split_024.html
Reich,_Christopher_split_025.html
Reich,_Christopher_split_026.html
Reich,_Christopher_split_027.html
Reich,_Christopher_split_028.html
Reich,_Christopher_split_029.html
Reich,_Christopher_split_030.html
Reich,_Christopher_split_031.html
Reich,_Christopher_split_032.html
Reich,_Christopher_split_033.html
Reich,_Christopher_split_034.html
Reich,_Christopher_split_035.html
Reich,_Christopher_split_036.html
Reich,_Christopher_split_037.html
Reich,_Christopher_split_038.html
Reich,_Christopher_split_039.html
Reich,_Christopher_split_040.html
Reich,_Christopher_split_041.html
Reich,_Christopher_split_042.html
Reich,_Christopher_split_043.html
Reich,_Christopher_split_044.html
Reich,_Christopher_split_045.html
Reich,_Christopher_split_046.html
Reich,_Christopher_split_047.html
Reich,_Christopher_split_048.html
Reich,_Christopher_split_049.html
Reich,_Christopher_split_050.html
Reich,_Christopher_split_051.html
Reich,_Christopher_split_052.html
Reich,_Christopher_split_053.html
Reich,_Christopher_split_054.html
Reich,_Christopher_split_055.html
Reich,_Christopher_split_056.html
Reich,_Christopher_split_057.html
Reich,_Christopher_split_058.html
Reich,_Christopher_split_059.html
Reich,_Christopher_split_060.html
Reich,_Christopher_split_061.html
Reich,_Christopher_split_062.html
Reich,_Christopher_split_063.html
Reich,_Christopher_split_064.html
Reich,_Christopher_split_065.html
Reich,_Christopher_split_066.html
Reich,_Christopher_split_067.html
Reich,_Christopher_split_068.html
Reich,_Christopher_split_069.html
Reich,_Christopher_split_070.html
Reich,_Christopher_split_071.html
Reich,_Christopher_split_072.html
Reich,_Christopher_split_073.html
Reich,_Christopher_split_074.html
Reich,_Christopher_split_075.html
Reich,_Christopher_split_076.html
Reich,_Christopher_split_077.html
Reich,_Christopher_split_078.html
Reich,_Christopher_split_079.html
Reich,_Christopher_split_080.html
Reich,_Christopher_split_081.html
Reich,_Christopher_split_082.html
Reich,_Christopher_split_083.html
Reich,_Christopher_split_084.html
Reich,_Christopher_split_085.html
Reich,_Christopher_split_086.html
Reich,_Christopher_split_087.html
Reich,_Christopher_split_088.html
Reich,_Christopher_split_089.html
Reich,_Christopher_split_090.html
Reich,_Christopher_split_091.html
Reich,_Christopher_split_092.html
Reich,_Christopher_split_093.html
Reich,_Christopher_split_094.html