38

Simone Noiret hängte sich ihre Tasche über die Schulter und betrat den Bahnhof. Auf dem Bahnsteig wartete ein Dutzend Leute auf den Zug. Ein eisiger Wind pfiff über die Gleise und ließ sie vor Kälte frösteln. Sie schob die Hände tief in die Taschen und ging zu den Monitoren, auf denen die Ankunfts- und Abfahrtszeiten zu lesen waren.

Ich hab’s versucht, dachte sie, hab alles nur Menschenmögliche getan, um ihn zu warnen. Doch er hatte sich nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen. Er war ein guter Mann und hatte es nicht verdient, nun die Konsequenzen für das Verhalten seiner Frau tragen zu müssen. Simone fragte sich, ob ihr Mann das Gleiche auch für sie tun würde. Sie bezweifelte es. Paul war kein guter Mann. Deshalb hatte sie ihn auch geheiratet.

Begleitet von einem kräftigen Luftstrom fuhr der 8:06-Uhr-Zug in den Bahnhof ein. Es war ein Regionalexpress mit zwei Lokomotiven und etwa zwanzig Wagons, der von Locarno nach Regensburg fuhr. Die Bremsen quietschten, als der Zug anhielt. Passagiere quollen aus den sich öffnenden Türen. Simone blickte sich auf dem Bahnsteig um, während ihre Mitreisenden in den Zug einstiegen. Schließlich stieg auch sie ein. Das Raucherabteil war nur halb voll. Trotzdem trat sie durch die Verbindungstür ins Nichtraucherabteil. Auch hier waren noch viele Plätze frei. Es kümmerte sie nicht; ihre Blicke waren unverwandt auf den Bahnsteig gerichtet. Keine Spur von Jonathan. Als sie am Ende des Wagons angekommen war, ging sie zur Tür, öffnete sie und sprang zurück auf den Bahnsteig.

Mutterseelenallein beobachtete sie, wie der Zug aus dem Bahnhof hinausrollte.

Als die Rücklichter des Zuges in der Dunkelheit verschwunden waren, schlenderte sie hinüber zum Bahnhofsbistro. Das kleine Restaurant war im Brauhausstil eingerichtet und gut besucht, vor allem von Geschäftsleuten, die sich auf dem Heimweg von der Arbeit ein Bier oder einen Ristretto gönnten. Sie setzte sich an einen Tisch am Fenster und zündete sich eine Zigarette an.

Als der Kellner kam, bestellte sie sich einen Whiskey. Uno doppio, per favore. Der Drink wurde kurz darauf an ihren Tisch gebracht, und sie leerte das Glas in einem Zug. Dann rief sie ihren Mann an und plauderte mit ihm über den neuesten Klatsch beim Wirtschaftsforum. Anschließend ließ sie ihn wissen, dass sie um kurz nach eins in Davos ankommen würde. »Jonathan geht’s gut«, fügte sie hinzu. »Es nimmt ihn natürlich ziemlich mit, den armen Kerl, und er frisst alles in sich hinein. Du kennst ihn ja. Nein, er hat noch keinen Termin für die Beerdigung festgelegt.«

In diesem Moment stieß ein blasser, muskulöser Mann gegen ihren Tisch und setzte sich ihr gegenüber. Simone warf ihm einen unterkühlten Blick zu. »Tut mir leid, aber der Tisch ist besetzt«, sagte sie, während sie ihr Handy kurz vom Ohr nahm. »Im Restaurant sind noch reichlich freie Plätze.«

»Ich sitze gern am Fenster.«

Sie antwortete nicht darauf.

»Paul, ich muss auflegen. Der Zug kommt. Bis dann, mein Schatz.« Sie steckte das Handy zurück in ihre Handtasche. Zum ersten Mal sah sie sich den Mann ihr gegenüber genauer an. Er hatte einen traurigen Blick, und seine Haut war so blass, dass sie fast durchscheinend wirkte. Sie konnte ihm nicht länger als ein paar Sekunden in die Augen sehen. »Ja, die Aussicht hier kann traumhaft sein«, antwortete sie. »Aber im Sommer gefällt sie mir besser.«

»Ich bin im Sommer für gewöhnlich in Zürich.«

Simone schob einen Zettel über den Tisch. »Er fährt einen schwarzen Mercedes«, sagte sie. »Zeitlich befristete Nummernschilder. Er ist auf dem Weg nach Goppenstein. Zum Autozug durch den Berg. Er hat mir gesagt, dass er versuchen will, den 10:21-Uhr-Zug nach Kandersteg zu kriegen.«

Das Phantom studierte den Zettel, riss ihn dann in der Mitte durch und warf ihn in den Aschenbecher. »Und von dort aus?«

»Weiter nach Zug. Es dürfte nicht schwer sein, ihm zu folgen. Er trägt einen Peilsender um den Hals.«

»Das macht die Sache leichter.« Das Phantom entzündete ein Streichholz und verbrannte die Papierreste im Aschenbecher.

»Was werden Sie mit ihm machen?«, fragte sie.

Er antwortete nicht. Sie fühlte sich töricht und ärgerte sich, dass sie ihr Mitgefühl für Jonathan preisgegeben hatte.

»Er hat eine Aktentasche bei sich«, fuhr Simone mit unbewegter Stimme fort. »Bringen Sie sie an sich. Und vergessen Sie den USB-Stick nicht. Er ist in einem Armband versteckt, das er am rechten Handgelenk trägt. Und nehmen Sie sich bei der Verfolgung in Acht«, fügte sie noch hinzu. »Ich hatte Sie auf dem ganzen Weg vom Haus zum Bahnhof im Blick.«

»Das war ich nicht. Ich hab auf dem Parkplatz gewartet.«

»Sind Sie sicher?«

Die schwarzen Augen begegneten ihrem Blick. »Ich hab mich genau an Ihre Anweisungen gehalten«, sagte er mit gesenkter Stimme.

»In Ordnung.« Simone nickte. »Ach, da ist noch etwas … er hat eine Waffe.«

Das Phantom erhob sich. »Das tut nichts zur Sache.«

Simone sank tiefer in ihren Stuhl und zündete sich eine neue Zigarette an. Dann starrte sie aus dem Fenster hinaus in die Dunkelheit.

Reich, Christopher
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