31

Die Garage lag etwas abseits vom Haupthaus und konnte über einen Seiteneingang betreten werden. Auf einem der Parkplätze stand ein brandneuer Mercedes Sedan. Der andere war leer, aber ein frischer Ölfleck und ein Satz schlammverkrusteter Reifen zeugte davon, dass ein Fahrzeug - dem Achsenabstand nach zu urteilen ein Lastwagen oder Kleintransporter - vor kurzem noch hier gestanden haben musste.

Meyer machte einen Bogen um den Mercedes und ging direkt auf einen Einbauschrank an der Wand zu. Er öffnete die Türen und trat dann zurück, damit von Daeniken einen Blick hineinwerfen konnte. Auf den Regalen lagen Pakete von der Größe eines Backsteins, die in weiße Plastikfolie eingeschlagen und immer zu fünft mit Isolierband zusammengeklebt worden waren.

»Ist es das, was ich vermute?«, fragte von Daeniken.

»Dreißig Kilo Semtex, noch originalverpackt«, sagte Meyer. »Es dürfte nicht schwer sein herauszufinden, woher es stammt.«

Plastiksprengstoffe enthielten einen speziellen Markierungsstoff, der nicht nur Aufschluss über den Hersteller sondern auch über die Chargennummer gab. Auf diese Weise konnten die Sprengstoffe eindeutig zurückverfolgt und - zumindest in der Theorie - illegale Verkäufe und Schmuggel verhindert werden.

»Nimm eins der Pakete mit«, sagte von Daeniken.

Meyer zögerte keine Sekunde, bevor er ein Paket an sich nahm und es Krajcek zuwarf, der es in seine Manteltasche steckte. Offiziell war das Beweismaterial Eigentum der Tessiner Polizei, doch von Daeniken hatte keine Lust, erst eine schriftliche Anfrage zu stellen und eine Woche darauf zu warten, dass die Beweisstücke zunächst katalogisiert und dann herausgegeben wurden. Plastiksprengstoffe waren schließlich keine Pässe.

»Hast du den Wagen überprüft?«, fragte von Daeniken.

»Nur den Kofferraum. Er ist sauber.«

Von Daeniken kletterte in den Mercedes und warf einen prüfenden Blick auf alles, was sich darin befand. Das Fahrzeug war auf Blitz zugelassen. Sein Führerschein steckte im Seitenfach an der Tür. Als er ihn herausnahm, fiel ein blaues Stück Papier in seinen Schoß.

Ein Briefumschlag. Einer der dünnen, altmodischen Sorte mit dem Aufdruck »Luftpost«. Er las, was darauf stand, und sein Herzschlag setzte eine Sekunde lang aus. Die Adresse war mit verblasster Tinte in arabischer Schrift geschrieben worden. Der Poststempel lautete »Dubai, U. A. E. 10.12. 85«.

Von Daeniken öffnete den Umschlag. Der Brief war ebenfalls auf Arabisch verfasst worden. Eine Seite in sauberer, gestochen scharfer Schrift. Ein Laserdrucker hätte kaum besser schreiben können. Zwar konnte er nicht ein Wort davon lesen, doch das war egal. Das verblasste Foto, das dem Brief beilag, verriet ihm alles, was er wissen musste.

Das Bild zeigte einen strammen jungen Soldaten in einer grünen Uniform mit Sam-Browne-Gürtel und der übergroßen Mütze eines Offiziers. Links und rechts von ihm standen seine Mutter und sein Vater. Das stolze Grinsen war überall auf der Welt das gleiche. Von Daeniken war noch nie im Iran gewesen, doch er erkannte Ajatollah Ruhollah Chomeni, wenn er ihn vor sich sah, und er wusste, dass das riesige, über drei Stockwerke hohe Gemälde des Religionsführers, das den Fotohintergrund ausfüllte, sich nur in Teheran befinden konnte. Doch sein Blick war unverwandt auf das Gesicht des Soldaten und seine herausstechenden blauen Augen gerichtet. Die Augen eines Fanatikers, dachte er.

In diesem Moment klingelte sein Telefon. Er sah aufs Display. Eine unterdrückte Nummer. »Von Daeniken.«

»Marcus, hier spricht Ihr amerikanischer Cousin.«

Von Daeniken drückte Meyer den Brief in die Hand und wies ihn an, jemanden aufzutreiben, der Arabisch sprach. Dann verließ er die Garage und setzte sein Gespräch fort. »Ich nehme an, dass Sie nicht schon wieder ein Problem mit Ihrem Triebwerk haben.«

»Alles so weit behoben«, erwiderte Palumbo.

»Freut mich zu hören.«

»Wir haben mit Walid Gassan gesprochen.«

»Das überrascht mich nicht.« Von Daeniken fragte sich, wo im Flugzeug er versteckt gehalten worden war. »Wann haben Sie ihn festgenommen?«

»Vor fünf Tagen in Stockholm. Einer unserer Informanten hatte Wind davon bekommen, dass Gassan eine Lieferung Plastiksprengstoff in Leipzig entgegengenommen hat. Wir haben ein Überfallkommando zusammengestellt, um ihn zu schnappen, aber er hatte den Sprengstoff schon übergeben, bevor wir ihn verhaften konnten.«

»Semtex?«

»Woher wissen Sie das? Er hatte ihn von diesem ukrainischen Mistkerl Shevchenko bekommen.«

»Sind Sie sicher?«

»Sagen wir mal so: Er hat uns sein Herz ausgeschüttet und beschlossen, sich zu Jesus zu bekehren.«

Von Daeniken hakte nicht weiter nach.

»Gassan hat als Vermittler fungiert«, fuhr Palumbo fort. »Er hat den Sprengstoff an einen Mann namens Mahmoud Quitab übergeben. Wir haben den Namen von Langley und Interpol überprüfen lassen, konnten aber nichts über ihn in Erfahrung bringen. Wie dem auch sei, dieser Quitab hat die Lieferung in einem weißen VW-Lieferwagen mit Schweizer Kennzeichen entgegengenommen. Eine Nummer haben wir leider nicht.«

Von Daeniken war um die Garagenecke gebogen. Während er aufmerksam zuhörte, fiel ihm auf, dass ein kleines Stück vom Betonpfeiler, der zwischen den beiden Parkplätzen stand, abgesprungen war. Mit bloßem Auge ließ sich ein winziger weißer Lackrest erkennen. »Ein weißer Kleintransporter? Irrtum ausgeschlossen, was die Farbe betrifft?«

»Der Kerl sagte weiß. Sagt Ihnen der Name Quitab irgendwas?«

»Überhaupt nicht.« Von Daeniken versuchte krampfhaft, sich die Beunruhigung in der Stimme nicht anmerken zu lassen. »Haben Sie noch mehr Informationen über diesen Quitab … Telefonnummer, Adresse, Beschreibung?«

»Seine Telefonnummer gehört zu einer SIM-Karte mit einer französischen Vorwahl. Wir haben France Telecom darum gebeten, die Nummer zu überprüfen. Wir machen dasselbe mit allen eingegangenen und getätigten Anrufen, die auf Gassans Telefon registriert worden sind. Keine Hinweise über Quitabs Adresse oder seinen Aufenthaltsort bis jetzt, aber wir haben eine Beschreibung von ihm. Um die fünfzig. Dunkles Haar. Sportlich. Mittelgroß. Gebildet. Gut gekleidet. Einer von ihnen, aber mit blauen Augen.«

Einer von ihnen, das hieß ein Araber.

Von Daeniken betrachtete das Foto von Blitz. Dunkles Haar. Mittelgroß. Intelligent wirkend. Und natürlich die stahlblauen Augen.

In diesem Moment kam Meyer mit einen Polizisten im Schlepptau zurück. Von Daeniken bat Palumbo, einen Moment dranzubleiben, und wandte sich dann an den Polizisten. »Haben Sie den Brief gelesen?«, fragte er.

Der Beamte nickte und erklärte, dass es sich bei dem Brief um eine Alltagsbeschreibung für die Eltern handle. Er fügte hinzu, dass es darin keinen Hinweis auf illegale Aktivitäten gebe.

Von Daeniken hörte aufmerksam zu. »Und der Name? Können Sie mir sagen, an wen der Brief adressiert war?«

»Aber klar, selbstverständlich.« Der Polizist nannte ihm den Namen.

Es muss einfach stimmen, dachte von Daeniken. In diesem Spiel gibt es keine Zufälle.

»Sind Sie noch dran, Marcus?«, fragte Palumbo.

»Ich bin da. Fahren Sie fort.«

»Scheinbar hat unser Freund Quitab einen Unterschlupf irgendwo in der Schweiz«, sagte Palumbo. »Ich habe angerufen, um Sie zu warnen.«

»Ja, ich weiß.«

»Was meinen Sie damit?« Palumbo klang verärgert. »Ich dachte, Sie hätten noch nie von ihm gehört.«

»Tatsächlich befinde ich mich gerade auf seinem Grundstück.«

»Wollen Sie damit andeuten, dass Sie über diese Operation Bescheid wissen?«

»Es ist viel komplizierter, als es scheint. Quitab ist tot.«

»Er ist tot? Quitab? Wie? Ich meine … das ist fantastisch! Jesus Christus, das ist mal ‘ne gute Neuigkeit. Einen Moment lang hab ich mir echt Sorgen um Sie gemacht. Haben Sie auch den Sprengstoff gefunden?«

»Allerdings.«

»Die ganzen fünfzig Kilo? Gott sei Dank. Sie und Ihre Jungs haben ‘nen echten Volltreffer gelandet.«

Von Daeniken lief eilig zurück in die Garage. Er zählte die Pakete mit dem Sprengstoff. Sechs Bündel mit jeweils fünf Paketen. Höchstens dreißig Kilo. »Was meinen Sie damit, dass wir einen echten Volltreffer gelandet haben, Phil? Haben Sie Informationen über das, was Quitab vorhatte?«

»Ich dachte, Sie hätten die Informationen …« Der Empfang wurde schwächer, und Palumbos Stimme verschwand in einem anhaltenden Knistern. »… verdammte durchgedrehte Mistkerle.«

»Die Verbindung reißt ab. Können Sie mich auf dem Festnetz zurückrufen?«

»Keine Chance. Ich bin auf der Durchreise.«

In der Hoffnung auf einen besseren Empfang verließ von Daeniken die Garage und stellte sich in den Regen. »Was soll das heißen, wir hätten einen echten Volltreffer gelandet?«

»Wir haben von Gassan erfahren, dass dieser durchgeknallte Iraner Quitab auf dem Weg in die Schweiz war, um ein Flugzeug vom Himmel zu holen.«

Reich, Christopher
titlepage.xhtml
Reich,_Christopher_split_000.html
Reich,_Christopher_split_001.html
Reich,_Christopher_split_002.html
Reich,_Christopher_split_003.html
Reich,_Christopher_split_004.html
Reich,_Christopher_split_005.html
Reich,_Christopher_split_006.html
Reich,_Christopher_split_007.html
Reich,_Christopher_split_008.html
Reich,_Christopher_split_009.html
Reich,_Christopher_split_010.html
Reich,_Christopher_split_011.html
Reich,_Christopher_split_012.html
Reich,_Christopher_split_013.html
Reich,_Christopher_split_014.html
Reich,_Christopher_split_015.html
Reich,_Christopher_split_016.html
Reich,_Christopher_split_017.html
Reich,_Christopher_split_018.html
Reich,_Christopher_split_019.html
Reich,_Christopher_split_020.html
Reich,_Christopher_split_021.html
Reich,_Christopher_split_022.html
Reich,_Christopher_split_023.html
Reich,_Christopher_split_024.html
Reich,_Christopher_split_025.html
Reich,_Christopher_split_026.html
Reich,_Christopher_split_027.html
Reich,_Christopher_split_028.html
Reich,_Christopher_split_029.html
Reich,_Christopher_split_030.html
Reich,_Christopher_split_031.html
Reich,_Christopher_split_032.html
Reich,_Christopher_split_033.html
Reich,_Christopher_split_034.html
Reich,_Christopher_split_035.html
Reich,_Christopher_split_036.html
Reich,_Christopher_split_037.html
Reich,_Christopher_split_038.html
Reich,_Christopher_split_039.html
Reich,_Christopher_split_040.html
Reich,_Christopher_split_041.html
Reich,_Christopher_split_042.html
Reich,_Christopher_split_043.html
Reich,_Christopher_split_044.html
Reich,_Christopher_split_045.html
Reich,_Christopher_split_046.html
Reich,_Christopher_split_047.html
Reich,_Christopher_split_048.html
Reich,_Christopher_split_049.html
Reich,_Christopher_split_050.html
Reich,_Christopher_split_051.html
Reich,_Christopher_split_052.html
Reich,_Christopher_split_053.html
Reich,_Christopher_split_054.html
Reich,_Christopher_split_055.html
Reich,_Christopher_split_056.html
Reich,_Christopher_split_057.html
Reich,_Christopher_split_058.html
Reich,_Christopher_split_059.html
Reich,_Christopher_split_060.html
Reich,_Christopher_split_061.html
Reich,_Christopher_split_062.html
Reich,_Christopher_split_063.html
Reich,_Christopher_split_064.html
Reich,_Christopher_split_065.html
Reich,_Christopher_split_066.html
Reich,_Christopher_split_067.html
Reich,_Christopher_split_068.html
Reich,_Christopher_split_069.html
Reich,_Christopher_split_070.html
Reich,_Christopher_split_071.html
Reich,_Christopher_split_072.html
Reich,_Christopher_split_073.html
Reich,_Christopher_split_074.html
Reich,_Christopher_split_075.html
Reich,_Christopher_split_076.html
Reich,_Christopher_split_077.html
Reich,_Christopher_split_078.html
Reich,_Christopher_split_079.html
Reich,_Christopher_split_080.html
Reich,_Christopher_split_081.html
Reich,_Christopher_split_082.html
Reich,_Christopher_split_083.html
Reich,_Christopher_split_084.html
Reich,_Christopher_split_085.html
Reich,_Christopher_split_086.html
Reich,_Christopher_split_087.html
Reich,_Christopher_split_088.html
Reich,_Christopher_split_089.html
Reich,_Christopher_split_090.html
Reich,_Christopher_split_091.html
Reich,_Christopher_split_092.html
Reich,_Christopher_split_093.html
Reich,_Christopher_split_094.html