18

»Heißer.«

Ein Wachsoldat drehte den Schalter auf, mit dem der Butanbrenner reguliert wurde. Blaue Flammen züngelten unter dem riesigen Kupferfass. Der Temperaturanzeiger stand auf 140 Grad. Die Nadel bewegte sich langsam voran.

Das Fass wurde auch »der Pott« genannt und stammte aus dem frühen siebzehnten Jahrhundert. Es war anderthalb Meter hoch und ebenso breit und hatte früher in einer öffentlichen Wäscherei in Aleppo gestanden - zu jener Zeit, da Syrien noch eine Provinz des Osmanischen Reiches gewesen war. Die Nadel näherte sich der 150-Grad-Marke. Gassan, der bis zu den Schultern im sich rasch aufheizenden Wasser stand, trat wild mit den Füßen um sich. Er wusste, dass bald seine Fußsohlen verbrennen würden, und versuchte mit aller Macht zu verhindern, dass sie den Boden berührten.

Die Nadel überschritt die 160-Grad-Marke.

Es war eine lange Nacht gewesen. Gassan hatte beachtlichen Widerstand geleistet. Er hatte viel erleiden müssen und trotzdem kein Wort darüber verloren, wem er die fünfzig Kilo Plastiksprengstoff ausgehändigt hatte. Colonel Mikes Erscheinung war längst nicht mehr so sauber und geschniegelt. Aus seinem Schnurrbart tropfte der Schweiß all seiner Anstrengungen. Das Böse, das überall an diesem Ort gegenwärtig war, war tief in seine Poren eingedrungen.

»Heißer.«

An den Seitenrändern des Kessels bildeten sich Bläschen. Gassan stieß laute Rufe aus. Keine Gebete für seine Seele. Kein Flehen zu Allah. Nur ein Strom von obszönen Beschimpfungen, mit denen er den Westen, den Präsidenten, das FBI und die CIA verfluchte. Er war kein religiöser Fanatiker. Er gehörte zu jener anderen Gruppe. Der Terrorist, der sich nur über seine Taten definierte. Der Rebell, dem es einzig und allein darum ging zu zerstören.

Philip Palumbo saß auf einem Stuhl in der Ecke. Die mitleiderregenden Schreie berührten ihn schon lange nicht mehr. Seit er an der Aufklärung der Bombenanschläge in Bali mitgearbeitet hatte, war ihm jegliche Sympathie für Drecksäcke wie Gassan abhandengekommen. Zwanzig Tote. Männer, Frauen und Kinder, die Urlaub in den Tropen gemacht hatten. Alle tot. Einhundert weitere Menschen verletzt. Leben ausgelöscht. Leben ruiniert. Und aus welchem Grund? Wie immer nur aus dem üblichen Hassgefühl gegen den Westen. Palumbo glaubte, dass für jedermann die gleiche gesellschaftliche Pflicht bestand, seine Mitmenschen fair zu behandeln und sich an die Gesetze zu halten. Und wenn jemand die Regeln nicht einhielt und sich weigerte, fair zu spielen, dann waren auch für ihn alle Gesetze aufgehoben.

Gassan legte es darauf an, unschuldige Menschen zu töten. Palumbo war fest entschlossen, ihn daran zu hindern. Also rauf mit der Temperatur, und die Party konnte beginnen.

»Fangen wir also noch mal von vorne an«, sagte Colonel Mike mit unverschämter Ruhe. »Am zehnten Januar haben Sie sich mit Dimitri Shevchenko in Leipzig getroffen. Sie haben den Plastiksprengstoff in einen weißen VW-Bus geladen. Wohin sind Sie im Anschluss daran gefahren? Sie mussten den Sprengstoff irgendwie loswerden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie ihn länger als unbedingt nötig durch die Gegend kutschieren wollten. Sie sind ein cleveres Bürschchen und haben viel Erfahrung. Erzählen Sie mir, wie’s weiterging. Ich werde Ihnen sogar helfen: Sie haben den Sprengstoff an Ihren Auftraggeber übergeben. Ich will seinen Namen wissen. Sagen Sie ihn mir, und wir können diese Unannehmlichkeiten sofort beenden. Ehrlich gesagt, schlafe ich nach dieser Maßnahme hier selbst nicht besonders gut.«

Die Fragen hatten sich seit zehn Stunden nicht verändert.

Draußen bellten Hunde den Vollmond an. Ein großer Lastwagen fuhr vorbei und ließ das Gebäude in seinen Grundfesten erzittern.

Gassan setzte zum Sprechen an, schürzte dann die Lippen und presste das Kinn auf die Brust. Ein gequälter Schrei drang aus seiner Kehle und hallte durch den Raum.

»Heißer«, sagte Colonel Mike.

Die Flammen schossen in die Höhe. Die Nadel erreichte die 180-Grad-Marke.

»Was haben die vor? Sagen Sie mir, auf welches Ziel sie es abgesehen haben. Ich will einen Ort, ein Datum, eine Uhrzeit.« Colonel Mike war unerbittlich. Ein Mann war entweder für diese Art von Verhör wie geschaffen oder eben nicht. Colonel Mike war die Fähigkeit zur Folter in die Wiege gelegt worden, so wie einem Jockey die Fähigkeit zum Reiten.

190 Grad.

»Als Erstes fällt Ihnen der Schwanz ab. Er platzt wie eine überhitzte Wurst. Dann wird sich Ihr Magen aufblähen, und Ihre Lungen beginnen zu kochen. Schauen Sie sich Ihre Arme an. Das Fleisch fängt schon an, sich abzulösen. Das Traurige an dieser Methode ist, dass es eine ganze Weile dauern kann.«

Gassans Augen traten hervor, während er unermüdlich Verwünschungen über seine unfaire Zwangsbehandlung ausstieß.

»Wie lautet der Name Ihrer Kontaktperson? Wofür brauchen sie den Sprengstoff?«

200 Grad.

»In Ordnung«, schrie Gassan. »Ich sag’s Ihnen. Holen Sie mich hier raus! Bitte!«

»Was wollen Sie mir sagen?«

»Alles. Alles, was ich weiß. Seinen Namen. Jetzt holen Sie mich schon hier raus!«

Colonel Mike gab dem Wachsoldaten, der den Temperaturschalter betätigte, ein Zeichen. Dann trat er an den Kessel heran; die Hitze trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. »Wer ist Ihr Auftraggeber?«

Gassan nannte einen Namen, den Palumbo noch nie zuvor gehört hatte. »Ich hab ihm den Sprengstoff persönlich übergeben. Er hat mir zwanzigtausend Dollar dafür bezahlt.«

»Wo haben Sie den Sprengstoff übergeben?«

»In Genf. In einem Parkhaus am Flugplatz. Auf dem vierten Parkdeck.«

Der Damm war gebrochen. Gassan redete, und die Informationen sprudelten wie Wasser aus einem geplatzten Hydranten. Namen. Verbündete. Verstecke. Passwörter. Er konnte sich nicht schnell genug alles von der Seele reden.

Palumbo nahm alles auf Tonband auf. Er ging aus dem Raum, um die Informationen überprüfen zu lassen. Fünf Minuten später kam er zurück. »Ein paar der Namen scheinen zu stimmen, aber wir müssen noch eine ganze Menge mehr herausfinden.«

»Und was nun?«, fragte Colonel Mike. »Gibt es noch mehr Fragen an unseren speziellen Gast?«

»Oh ja«, sagte Palumbo. »Herr Gassan ist ja nun schon einige Jahre im Geschäft. Das war erst der Anfang.«

Colonel Mike nickte dem Wachsoldaten zu.

»Heißer.«

Reich, Christopher
titlepage.xhtml
Reich,_Christopher_split_000.html
Reich,_Christopher_split_001.html
Reich,_Christopher_split_002.html
Reich,_Christopher_split_003.html
Reich,_Christopher_split_004.html
Reich,_Christopher_split_005.html
Reich,_Christopher_split_006.html
Reich,_Christopher_split_007.html
Reich,_Christopher_split_008.html
Reich,_Christopher_split_009.html
Reich,_Christopher_split_010.html
Reich,_Christopher_split_011.html
Reich,_Christopher_split_012.html
Reich,_Christopher_split_013.html
Reich,_Christopher_split_014.html
Reich,_Christopher_split_015.html
Reich,_Christopher_split_016.html
Reich,_Christopher_split_017.html
Reich,_Christopher_split_018.html
Reich,_Christopher_split_019.html
Reich,_Christopher_split_020.html
Reich,_Christopher_split_021.html
Reich,_Christopher_split_022.html
Reich,_Christopher_split_023.html
Reich,_Christopher_split_024.html
Reich,_Christopher_split_025.html
Reich,_Christopher_split_026.html
Reich,_Christopher_split_027.html
Reich,_Christopher_split_028.html
Reich,_Christopher_split_029.html
Reich,_Christopher_split_030.html
Reich,_Christopher_split_031.html
Reich,_Christopher_split_032.html
Reich,_Christopher_split_033.html
Reich,_Christopher_split_034.html
Reich,_Christopher_split_035.html
Reich,_Christopher_split_036.html
Reich,_Christopher_split_037.html
Reich,_Christopher_split_038.html
Reich,_Christopher_split_039.html
Reich,_Christopher_split_040.html
Reich,_Christopher_split_041.html
Reich,_Christopher_split_042.html
Reich,_Christopher_split_043.html
Reich,_Christopher_split_044.html
Reich,_Christopher_split_045.html
Reich,_Christopher_split_046.html
Reich,_Christopher_split_047.html
Reich,_Christopher_split_048.html
Reich,_Christopher_split_049.html
Reich,_Christopher_split_050.html
Reich,_Christopher_split_051.html
Reich,_Christopher_split_052.html
Reich,_Christopher_split_053.html
Reich,_Christopher_split_054.html
Reich,_Christopher_split_055.html
Reich,_Christopher_split_056.html
Reich,_Christopher_split_057.html
Reich,_Christopher_split_058.html
Reich,_Christopher_split_059.html
Reich,_Christopher_split_060.html
Reich,_Christopher_split_061.html
Reich,_Christopher_split_062.html
Reich,_Christopher_split_063.html
Reich,_Christopher_split_064.html
Reich,_Christopher_split_065.html
Reich,_Christopher_split_066.html
Reich,_Christopher_split_067.html
Reich,_Christopher_split_068.html
Reich,_Christopher_split_069.html
Reich,_Christopher_split_070.html
Reich,_Christopher_split_071.html
Reich,_Christopher_split_072.html
Reich,_Christopher_split_073.html
Reich,_Christopher_split_074.html
Reich,_Christopher_split_075.html
Reich,_Christopher_split_076.html
Reich,_Christopher_split_077.html
Reich,_Christopher_split_078.html
Reich,_Christopher_split_079.html
Reich,_Christopher_split_080.html
Reich,_Christopher_split_081.html
Reich,_Christopher_split_082.html
Reich,_Christopher_split_083.html
Reich,_Christopher_split_084.html
Reich,_Christopher_split_085.html
Reich,_Christopher_split_086.html
Reich,_Christopher_split_087.html
Reich,_Christopher_split_088.html
Reich,_Christopher_split_089.html
Reich,_Christopher_split_090.html
Reich,_Christopher_split_091.html
Reich,_Christopher_split_092.html
Reich,_Christopher_split_093.html
Reich,_Christopher_split_094.html