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Mitternacht in Jerusalem.

Die Hitze des Tages lag noch immer wie eine Glocke über der geschichtsträchtigen Stadt und trieb die Menschen aus ihren Häusern. Die engen Pflastersteingassen summten vom Stimmgewirr, Autofahrer hupten voller Ungeduld; in den Straßen herrschte eine gespannte, fast aufsässige Atmosphäre, die typisch war für Israel.

In der Balfour Straße saßen vier Männer an einem langen, schäbigen Tisch. Man befand sich in der Residenz des Premierministers, doch das knapp fünfzehn Quadratmeter große Büro war eines Staatsoberhauptes kaum angemessen. Obwohl es erst kürzlich frisch gestrichen worden war, roch es immer noch alt und ein wenig muffig.

Die »rote Linie« war überschritten worden. Die Iraner besaßen nicht nur die Mittel, um waffenfähiges Uran zu produzieren, nein, sie hatten offenbar bereits hundert Kilo davon hergestellt. Hier ging es nicht mehr um Vorbeugung, sondern um Selbstverteidigung.

Zvi Hirsch stand neben einer Landkarte des Irans. Die kalte Deckenbeleuchtung warf einen grünlichen Schein auf seine Haut, wodurch er mehr denn je einer Echse glich. Auf der Karte waren dreißig Punkte mit auffälligen gelb-schwarzen Symbolen markiert, die alle ihnen bekannten Atomanlagen auswiesen.

»Die Iraner besitzen zehn Anlagen, in denen waffenfähiges Uran hergestellt werden kann«, sagte Hirsch und deutete mit einem Laserpointer auf die entsprechenden Orte. »Und weitere vier Anlagen, in denen Raketen mit atomaren Sprengköpfen bestückt werden können. Die für ihre Zwecke wichtigsten Anlagen sind Natanz, Isfahan und Bushehr. Und natürlich die neu entdeckte Anlage bei Chalus. Wenn wir wollen, dass unser erster Angriff erfolgreich verläuft, müssen wir sie alle auf einmal zerstören.«

»Vier werden nicht ausreichen«, sagte eine leise Stimme.

»Entschuldigen Sie, Danny«, sagte Hirsch. »Aber Sie müssen lauter sprechen.«

»Vier werden nicht ausreichen.« General Danny Ganz, Leiter der Air Force und des neu gegründeten Iran-Kommandos - zuständig für alle Planungen und Operationen, die einen Angriff auf die Islamische Republik vorsahen -, erhob sich von seinem Stuhl. Ganz war ein drahtiger, rastloser Mann mit einer Falkennase und undurchdringlichen braunen Augen. Die vielen Jahre des Kampfes und der Konflikte hatten tiefe Furchen um seine Augen und in seine Stirn gegraben.

Er trat an die Landkarte heran. »Wenn wir das Atomprogramm des Irans ein für alle Mal beenden wollen, müssen wir mindestens zwanzig Anlagen zerstören, einschließlich der bei Chalus. Es wird kein einfaches Unterfangen sein. Die Nuklearanlagen sind übers ganze Land verteilt. Wir sprechen hier auch nicht über einzelne Bauten, es handelt sich vielmehr um riesige Gebäudekomplexe. Nehmen Sie zum Beispiel Natanz hier im Herzen des Landes.« Ganz klopfte mit den Fingerknöcheln auf die Landkarte. »Der Komplex erstreckt sich über zehn Quadratkilometer. Dutzende von Gebäuden, Fabriken und Lagerhallen. Doch die Größe ist nur das halbe Problem. Die wichtigsten Produktionsanlagen befinden sich gut siebeneinhalb Meter unter der Erde, gesichert durch mehrere massive Betonschichten.«

»Kann man sie trotzdem zerstören?«, wollte der Premierminister wissen.

Ganz vermochte nur mit Mühe seine Verachtung zu verbergen. Vor nicht allzu langer Zeit war der Premierminister in der Öffentlichkeit noch vollmundig als Pazifist aufgetreten, der alle neuen Siedlungsversuche im Westjordanland stoppen wollte. In den Augen von Ganz war der Mann ein Abtrünniger und kaum besser als ein Vaterlandsverräter. Doch eigentlich traf das seiner Meinung nach auf die meisten Politiker zu. »Bevor wir darüber reden können, wie wir die Anlagen zerstören, müssen wir erst einmal darüber nachdenken, wie wir an sie herankommen«, fuhr er fort. »Von unseren südlichsten Flughäfen aus sind es gut 1200 Kilometer bis Natanz und 1 600 Kilometer bis Chalus. Um zu beiden Anlagen zu kommen, müssen wir Jordanien, Saudi-Arabien oder den Irak überfliegen. Ich glaube nicht, dass uns die beiden Erstgenannten erlauben werden, in ihren Luftraum einzudringen … somit bleibt uns nur der Irak.« Ganz warf einen Blick zum Premierminister und wartete auf seine Reaktion.

»Ich werde mich im geeigneten Moment an die Amerikaner wenden«, sagte dieser.

»Dieser Moment wäre vor zwei Stunden gewesen«, murmelte Zvi Hirsch.

Der Premierminister ignorierte den Seitenhieb und richtete seine nächste Frage an Ganz. »Wie steht es um unsere Flugzeuge? Sind sie für einen solchen Einsatz gerüstet?«

»Unsere F-15l-Maschinen könnten es hin und zurück schaffen, doch bei den F-16-Jagdbombern sieht’s schon anders aus«, sagte Ganz. »Sie müssten während des Fluges betankt werden. Der Iran verfügt über keine nennenswerte Luftwaffe, aber sie besitzen durchaus Radar. In den letzten paar Jahren haben sie in großem Stile in Russland produzierte Boden-Luft-Raketensysteme eingekauft. Die Flugabwehrstellungen in Natanz zum Beispiel sind nördlich, östlich und südlich der Anlage positioniert. Wir müssten mit einer hohen Verlustquote rechnen.«

»Wie hoch?«, fragte Zvi Hirsch.

»Vierzig Prozent.« Ganz verschränkte die Arme, als sich im Raum die empörten Stimmen der anderen erhoben. Doch es war ihm wichtig, dass die Anwesenden den Preis kannten, den seine Männer zahlen würden.

»Mein Gott«, sagte der Premierminister.

»Es ist schwierig, den Abwehrraketen auszuweichen, wenn man gleichzeitig zielgerichtet eine Bombe abwerfen soll«, sagte Ganz.

»Wie wäre es mit einem vorbereitenden Angriff auf die Luftabwehrsysteme?«, fragte Hirsch.

»Nicht genug Flugzeuge.« Ganz räusperte sich und fuhr fort. »Wenn wir die Anlagen erfolgreich zerstören wollen, müssten wir mehrmals angreifen, und zwar zielgenau. Ich brauche präzise GPS-Koordinaten von den Produktionsanlagen. Ich weiß, was Sie jetzt denken: Wir haben es doch schon einmal geschafft, wir können es wieder schaffen. Tut mir leid, wenn ich Sie enttäuschen muss, Gentlemen, aber so einfach wird’s diesmal nicht werden.«

Ganz spielte auf die Operation Opera an, den israelischen Luftangriff auf Osirak am 7. Juni 1981. An diesem Tag waren israelische Kampfflugzeuge vom Stützpunkt Etzion über Jordanien und Saudi-Arabien geflogen und hatten Saddam Husseins Bemühungen auf einen eigenen Atomreaktor zunichtegemacht. Sämtliche Piloten waren unversehrt wieder nach Hause zurückgekehrt. Die Luftwaffe hatte Unterstützung von einem amerikanischen Geheimagenten erhalten, der Funkgeräte auf der Strecke platziert hatte, mit deren Hilfe die israelische Staffel beim Tiefflug über Jordanien und Saudi-Arabien dem Radar ausweichen konnte. Der gleiche Geheimagent hatte zudem mit einem Laser den Atomreaktor markiert, damit die Bomben zielsicher abgeworfen werden konnten.

»Womit wir zum letzten Punkt kommen«, sprach der General weiter. »Die Ausrüstung. Angenommen, wir schaffen es, zwanzig Kampfflugzeuge 1 600 Kilometer zu beiden Zielobjekten zu fliegen, und wenigstens zwölf von ihnen überwinden die Luftabwehr, womit wollen wir sie dann angreifen? Das effektivste Geschütz, das wir haben, ist die Paveway III - der Bunkerbrecher. Tausend Kilo Sprengstoff mit einem Sprengkopf, der eine zweieinhalb Meter dicke Betonwand durchbrechen kann. Zugegeben, das ist schon eine ordentliche Ladung, aber was, wenn sich der Reaktor, sagen wir mal, siebeneinhalb Meter unter der Erde befindet? Oder fünfzehn? Oder sogar dreißig? In diesem Fall werden die Paveways höchstens etwas Staub von der Decke rieseln lassen, mehr nicht.«

»Es gibt noch wirkungsvollere Waffen«, bemerkte Hirsch mit einem Seitenblick auf den Premierminister. »Waffen, die richtig reinhauen.«

»Die B61«, sagte Ganz. »Ein Bunkerbrecher mit einer Sprengkraft, die zehnmal so groß ist wie die von Hiroshima. Die Amerikaner haben letztes Jahr einen Raketentest durchgeführt.« Als »Raketentest« bezeichnete man ein Manöver, bei dem eine Rakete auf Stahlbeton abgefeuert wurde, um ihre Zerstörungskraft zu messen. »Das Ding ist dreißig Meter tief in die Erde eingedrungen. Der Krater hatte einen Durchmesser von vierhundertfünfzig Metern.«

»Gerade genug, um die Anlage zu zerstören«, fügte Hirsch vorsichtig hinzu. »Wir sind schließlich keine Barbaren.«

Alle Blicke richteten sich auf den Premierminister. Er war ein älterer Mann von fast siebzig Jahren, der am Ende einer turbulenten politischen Karriere stand. Er hatte den Ruf eines Verhandlers und Vermittlers. Seine Feinde hielten ihn für einen Mann mit zweifelhaften Prinzipien. Seine Freunde bezeichneten ihn als Opportunisten.

Der Premierminister schüttelte angewidert den Kopf. »Wir haben schon immer die Philosophie vertreten, dass die Iraner keine Technologie erhalten dürfen, mit deren Hilfe sie waffenfähiges Uran herstellen können. Unglücklicherweise haben sie diesen Punkt längst überschritten. Wir können die Uhr nicht mehr zurückdrehen. Meine Haltung zu einem Angriff ist ambivalent. Es ist meine oberste Pflicht, für das Wohlergehen der Menschen zu sorgen. Aber ich kann auf keinen Fall einen nuklearen Angriff auf unser Land riskieren. Ich wünschte nur, wir wüssten genauer, wozu die Iraner wirklich fähig sind.«

»Sie haben etwas übersehen«, sagte Hirsch. »Wir wissen sehr wohl, wozu die Iraner fähig sind. Sie besitzen eine Atombombe, und sie werden sie auch einsetzen.«

Der Premierminister lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände vor dem Gesicht. Schließlich atmete er vernehmlich aus und erhob sich. »Wir haben in unserer Geschichte schon einmal nach der Devise ›im Zweifel für den Angeklagten gehandelt‹ und dem Feind damit einen entscheidenden Vorteil eingeräumt. Wir können es uns nicht leisten, diesen Fehler zu wiederholen. In vierundzwanzig Stunden will ich einen Schlachtplan auf meinem Schreibtisch haben. Ich werde die Amerikaner anrufen und sie bitten, uns die uneingeschränkte Erlaubnis zu erteilen, den irakischen Luftraum zu überfliegen.« Er blickte Ganz an. »Und im Hinblick auf alles andere möge Gott uns beistehen.«

Langsam erhoben sich die Männer von ihren Plätzen. Zvi Hirsch war der Erste, der Beifall klatschte. Die anderen fielen mit ein. Einer nach dem anderen drückte dem Premierminister die Hand. Und alle sagten dieselben Worte:

»Lang lebe Israel.«

Reich, Christopher
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