15
»Mistkerle! Espèce de salopards!« Simone Noiret hämmerte bei jedem Ausruf mit der Faust auf die Ablage. »Er hat versucht, dich umzubringen! Warum bloß?«
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Jonathan zerstreut. Die Autoheizung pustete auf höchster Stufe warme Luft in seine Richtung, doch er konnte einfach nicht aufhören zu zittern. Er wurde das Bild von dem Polizisten, der vergeblich nach der Antenne griff, die aus seinem Kopf herausragte, einfach nicht los.
»Aber irgendeine Erklärung musst du doch haben«, insistierte Simone.
»Sie wollten die Gepäckstücke an sich bringen. Das ist alles, woran ich mich erinnern kann. Der Typ hat die Beherrschung verloren, als ich mich zur Wehr gesetzt habe.«
»Die Gepäckstücke? Das ist alles? Da muss noch mehr dahinterstecken. Sicherlich …«
»Was willst du denn von mir hören?« Jonathan drehte sich zu ihr. »Ich hab diese Männer noch nie in meinem Leben gesehen. Und ich hab genauso viel Angst wie du. Dass wir uns streiten, hilft uns nicht weiter. Wir müssen überlegen, was wir jetzt machen sollen.«
Simone rang um Fassung. »Entschuldige bitte«, sagte sie und lehnte sich in ihrem Sitz zurück. »Du hast recht. Wir stehen beide noch unter Schock. Ich wollte mit keinem Wort andeuten …«
»Das weiß ich doch. Lass uns einfach ein paar Minuten hier sitzen bleiben, damit wir uns beruhigen und überlegen können, wie wir uns jetzt am besten verhalten.«
Sie hatten den Wagen in einer Palmenlichtung hoch oben auf dem Berg geparkt, von dem aus sie die Stadt überblicken konnten. In nur etwa drei Kilometern Entfernung sahen sie unter sich den Bahnhof, der in ein Meer von blinkenden Polizeilichtern getaucht war. Jonathan zählte zehn Einsatzfahrzeuge und zwei Krankenwagen.
Er steckte seinen Finger in das saubere, runde Loch, das die Patrone beim Eindringen in die Ablage hinterlassen hatte. »Die beiden Männer da unten … Einer von ihnen ist tot, der andere zumindest schwer verletzt. Ich kann nicht einfach hier herumsitzen. Ich muss der Polizei erklären, was passiert ist. Muss ihnen sagen, dass diese ganze verdammte Sache eine Art Missverständnis gewesen ist. Dass diese Männer mich mit jemandem verwechselt haben …«
»Schau dir das Einschussloch an, Jon. Dafür ist die Polizei verantwortlich. Und jetzt willst du dich dieser Polizei freiwillig ausliefern?« Simone fuchtelte aufgebracht mit den Händen in der Luft umher.
»Was hab ich denn für eine Alternative? Inzwischen dürfte jeder Polizist im ganzen Kanton und vielleicht sogar im ganzen Land eine Beschreibung von uns haben. Ein großer Amerikaner mit grauen Haaren in Begleitung einer dunkelhaarigen Frau, die mit einem silbernen 5er-BMW unterwegs sind. In einer Stunde kennen sie unsere Namen … oder zumindest meinen. Es wird nicht schwer sein, uns aufzuspüren.«
»Und was willst du ihnen dann sagen? Willst du ihnen erzählen, du hättest dich nur verteidigt? Sie werden dir kein Wort glauben.« Simone durchwühlte ihre Tasche nach einer Zigarette. »Pourris, Jon. Weißt du, was das bedeutet? Die sind hundsgemein und korrupt. Diese Polizeibeamten, die waren alles andere als sauber.« Sie brauchte beide Hände, um das Feuerzeug ruhig zu halten.
Jonathan öffnete die kleine Ledermappe mit dem Dienstausweis. Er war auf den Namen Oskar Studer ausgestellt. Wachtmeister. Kantonspolizei Graubünden. Erst jetzt fiel ihm auf, dass das Auto nicht wie ein gewöhnlicher Polizeiwagen ausgestattet war. Kein Funkgerät. Kein Fahrzeugcomputer. Keine Ablage für die Dienstwaffen. Überhaupt war das Wageninnere auffällig sauber. Kein Stäubchen auf den Schmutzmatten. Keine leeren Kaffeebecher. Laut Kilometerstandsanzeige war der Wagen erst zweitausend Kilometer gefahren. In der Seitenablage steckten einige Dokumente. Es waren Autovermietungspapiere, die auf einen Oskar Studer ausgestellt waren. Das Fahrzeug war heute Morgen um zehn Uhr ausgeliehen worden und musste in vierundzwanzig Stunden wieder abgegeben werden.
Pourris. Er kannte die Bedeutung des Wortes sehr genau.
Der Gedanke, sich der Polizei zu stellen, war mit einem Schlag wie weggewischt.
Er stopfte die Papiere zurück in die Seitenablage. »Sie wussten, dass ich Amerikaner bin«, sagte er. »Die haben auf mich gewartet.«
Simone nickte. Ihre Blicke trafen sich. In Simones Augen konnte Jonathan sein eigenes Unbehagen lesen.
Er drehte sich zur Ledertasche und dem ordentlich eingewickelten Paket um.
»Mach sie auf«, sagte sie. »Lass uns herausfinden, worum es hier eigentlich geht.«
Zuerst nahm Jonathan sich das Paket vor. Mit seinem Schweizer Armeemesser schnitt er die Schnur durch. Das Papier ließ sich leicht entfernen, darunter kam eine glänzende schwarze Schachtel zum Vorschein. In der rechten oberen Ecke befand sich ein goldener Aufkleber mit einem Designernamen.
»Bogner«, sagte Simone. »Das muss ein Geschenk sein.«
»Danach sieht’s wohl aus«, sagte Jonathan wenig überzeugt, während er das Geschenkband durchschnitt, das um die Schachtel gewickelt war.
Bogner entwarf hochwertige Kleidung, um Jetsetter auf ihren Kurzausflügen in die Alpen mit warmen und schicken Outfits auszustatten. Aus Spaß hatten Emma und er letzten Oktober während eines Kurzurlaubes in Chamonix einen Abstecher in einen der Bogner-Läden gemacht. Er konnte sich daran erinnern, dass es ein sonniger Tag gewesen war. Ein Wochenende im Spätherbst kurz vor Eintritt des Winters, wenn die Luft beißend kühl wird.
»Was würdest du dir aussuchen?«, hatte Emma ihm zugeraunt, während sie durch die Gänge schlenderten. Sie waren das Überfallkommando, das ins Feindesland eingedrungen war. Der »Feind«, das waren die Eitlen und Reichen dieser Welt. All jene also, die ihrer bürgerlichen »Pflicht, sich einzumischen« nicht nachkamen.
Jonathan hatte mit dem Finger auf einen pechschwarzen Crewneck-Pullover gezeigt. »Ich würde den da nehmen.«
»Er gehört dir.«
»Oh, wirklich?«, fragte er und stieg damit voll auf ihr Spiel ein.
»Er steht dir. Wir nehmen ihn«, sagte Emma zu der geschäftigen Verkäuferin in ihrer Nähe.
»Wir nehmen ihn?«, fragte Jonathan laut genug, um sie beide auffliegen zu lassen.
Emma nickte und schob einen Arm unter seinen. »Ich besitze heimliche Geldreserven«, flüsterte sie ihm ins Ohr, nachdem sie zärtlich daran geknabbert hatte.
»Hat die gnädige Frau vielleicht heimlich ein paar Monopoly-Geldscheine in einem Schuhkarton versteckt?«
Emma gab ihm keine Antwort. Stattdessen wandte sie sich erneut an die Verkäuferin, so als ob er gar nicht da wäre. »Wir brauchen die Größe XL. Packen Sie ihn bitte ein. Er ist ein Geschenk für meinen Mann.« Ihr Tonfall war nicht länger unterwürfig. Und auch ihr Blick war alles andere als das.
»Emma, lass das«, sagte er. »Genug ist genug. Lass uns von hier verschwinden.«
»Nein«, sagte sie beharrlich. »Du hast es verdient. Betrachte das Geschenk als eine Art Rückzahlung.«
»Wofür denn?«
»Das verrate ich nicht.«
In diesem Moment hatte Jonathan einen Blick auf das Preisschild geworfen, und nachdem er beinahe in Ohnmacht gefallen wäre, hatte er sie aus dem Laden hinausgezerrt. Draußen hatten sie herzlich über ihren Scherz gelacht. Doch nichtsdestotrotz hatte sie ihm einen unterkühlten Blick zugeworfen, der ihm zu verstehen gab, dass er eine Straftat begangen und sich ihr Wohlwollen bis auf Weiteres verscherzt hatte.
Jonathan dachte an ebendiesen Gesichtsausdruck, als er die Schachtel öffnete. Seidenpapier hüllte ein dunkles Kleidungsstück ein. Er schlug das Papier beiseite und hob es aus der Schachtel. Er hatte vergessen, wie weich es sich anfühlte.
»Wunderschön«, sagte Simone.
Es war der Pullover aus Chamonix. Ein einfacher pechschwarzer Crewneck. Gut geschnitten und von unaufdringlicher Eleganz - also genau sein Stil. Er strich mit dem Finger über den Kragen. Reiner Four-Ply-Kaschmir. Auf der ganzen Welt gab es kein weicheres Material. Er hatte tausendsechshundert Dollar gekostet. Ein halbes Monatsgehalt.
»Ich besitze heimliche Geldreserven.«
War dies das Geburtstagsgeschenk, das sie dem Hotelmanager des Bellevue gegenüber erwähnt hatte?
Jonathan legte den Pullover zurück in die Schachtel. Der Kontostand von Dr. Ransom und Frau belief sich auf genau fünfzehntausend und ein paar zerquetschte Schweizer Franken. Umgerechnet etwa zwölftausend Dollar. Und das war vor der Begleichung der Hotelrechnung gewesen.
Er legte die Schachtel zur Seite und hob die Kalbsledertasche auf seinen Schoß. Wieder beschlich ihn das ungute Gefühl, dass er den Inhalt dieser Tasche niemals hätte zu Gesicht bekommen sollen, genauso wenig wie Emmas Brief. »Wer an verschlossenen Türen lauscht, wird kaum etwas Gutes über sich hören«, hatte seine Mutter ihn als Kind gewarnt. Doch für Jonathan gab es schon lange kein Gut und Böse mehr. Jetzt gab es nur noch Wahrheit und Verrat. Er konnte die Tasche ebenso wenig ignorieren wie die Gepäckscheine. Vor seinem inneren Auge sah er sich eine russische Matroschka-Puppe nach der anderen öffnen.
Der Reißverschluss war mit einem stabilen goldenen Schloss gesichert. Er warf Simone einen Blick zu. Sie nickte. Also stach er die Klinge seines Messers in das Kalbsleder und schlitzte die Tasche der Länge nach auf.
Als Erstes fiel ihm ein kleines Lederetui mit einem Satz Autoschlüssel für einen Mercedes-Benz sowie eine handgezeichnete Karte ins Auge. Auf ihr befand sich ein Quadrat, das mit dem Wort »Bahnhof« beschriftet war, und direkt daneben ein Rechteck, auf dem »Parkplatz« stand und an dessen äußerstem Ende ein »X« eingezeichnet war. Bezog sich diese Karte auf den Bahnhof in Landquart? Es gab eine Menge Bahnhöfe in der Schweiz.
Unter den Autoschlüsseln lag ein dunkelblauer Businessblazer mit einer farblich passenden Hose und einer elfenbeinfarbenen Bluse. So ein stilsicheres Outfit trugen für gewöhnlich junge Karrierefrauen aus Frankfurt oder London. Frauen, die mit einem Handy am Ohr und einem Laptop über der Schulter auf zehn Zentimeter hohen Absätzen durch Flughafenhallen stöckelten. Darunter fand Jonathan einen schwarzen Spitzen-BH und ein passendes Höschen. Das gehört wohl kaum zum klassischen Businessoutfit, dachte Jonathan, während er beides mit spitzen Fingern hochhielt. Diese Art von Dessous eignete sich eher für eine völlig andere Klientel.
Als Nächstes kam ein Schminktäschchen zum Vorschein. Jonathan durchwühlte es. Mascara, Eyeliner, Lippenstift, Grundierung, Rouge, Feuchtigkeitscreme und, gütiger Himmel, sogar ein Satz falsche Wimpern. Parfüm war auch dabei. Tender Poison von Dior.
Und Emma?, überlegte er im Stillen. Sie schwor auf Burberry’s Tender Touch. Eine englische Rose durch und durch.
Unter all den Tuben und Töpfchen und Pudern fand er schließlich einen Satin-Beutel, der mit einer eleganten goldenen Schnur zusammengebunden war. Mit einem wenig eleganten Ruck löste er den Knoten. Zum Vorschein kam ein echter Piratenschatz: ein Kettenarmband von Cartier, ein länglicher Smaragdring, Diamantohrringe und ein goldenes Netzkollier. Mit Schmuck kannte sich Jonathan überhaupt nicht aus, doch er war in der Lage, kostbare Stücke zu erkennen, und diese hier waren ohne Frage kostbar.
Er blickte auf und sah, wie Simone ihn anstarrte. Jonathan hatte das unheimliche Gefühl, ihre Gedanken und Empfindungen genau zu kennen. Ihre Emma trug keine maßgeschneiderten Anzüge. Ihre Emma trug keinen leuchtend roten Lippenstift. Sie trug keine falschen Wimpern und tupfte sich kein Tender Poison hinters Ohr, und ganz sicher besaß sie keinen Schmuck, der einer Millionärsgattin würdig gewesen wäre. Jonathan hatte das Gefühl, die Sachen einer völlig fremden Frau zu durchstöbern.
Simone betrachtete einen Ring, den sie aus dem Schmuckbeutel genommen hatte. »E.A.K.«, sagte sie. »Kennst du eine Frau mit diesen Initialen?«
»Warum fragst du?«
»Schau dir mal die Gravur auf der Innenseite an.« Es war ein goldener Ehering, in den »E.A.K. 2-8-01« eingeprägt war. »Die Tasche gehört dieser Frau«, sagte sie. »Frau E.A.K., verheiratet seit dem achten Februar 2001. Das muss eine Freundin von Emma sein.«
Jonathan ging in Gedanken ihre Bekannten durch, deren Vorname mit dem Buchstaben »E« anfing. Ihm fielen die Namen Ed, Ernie und Etienne ein, doch er wagte zu bezweifeln, dass ihnen der Ehering passte. Die Liste der weiblichen Namen mit »E« war deutlich kürzer. Ihm kam nur einer in den Sinn: Evangeline Larsen, eine dänische Ärztin, mit der er vor vier Jahren zusammengearbeitet hatte.
In der Schmucktasche befand sich noch ein weiterer Gegenstand. Eine goldene Rolex-Frauenarmbanduhr mit diamantenbesetzter Einfassung. Der für Jonathan sicherste Beweis dafür, dass die Tasche auf keinen Fall seiner Frau gehören konnte. Eine Rolex, die stand stellvertretend für all die Dinge, die ihrer Meinung nach falsch liefen in dieser Welt. Ein käufliches Statussymbol für fünftausend Dollar pro Stück. Und was für eine Uhr besaß Emma? Eine Casio G-Force, die bevorzugt von Hockeyspielern, US-Soldaten und Mitarbeitern von Hilfsorganisationen mit der moralischen Pflicht zur Einmischung getragen wurde.
In der Reisetasche war noch mehr. Ein Paar Schuhe. Größe 51⁄2. Emmas Größe. Das wusste er, weil sie kleine Füße hatte und sich oft darüber beschwerte, wie schwierig es war, passende Schuhe zu finden. Seidenstrümpfe. Eine Packung Minzbonbons. Ein Etui mit einer modischen Hornbrille.
Jonathan fuhr mit der Hand an der Innenseite der Tasche entlang. Er spürte etwas Festes und Rechteckiges unter dem Innenfutter. Ein Portemonnaie vermutlich. Doch während er den Reißverschluss der Innenfuttertasche öffnete und die Brieftasche aus Krokodilleder herauszog, ließ ihn der Gedanke an einen der Gegenstände einfach nicht los. Es war der Ehering. Eine verheiratete Frau nahm ihren Ehering nicht ab, es sei denn, sie wollte schwimmen oder Kuchenteig kneten, und selbst dann ließ sie ihn für gewöhnlich an ihrem Finger. Der Gedanke, ihn in einer schlecht gesicherten Reisetasche zu verstauen, die dann mit einem gewöhnlichen Zug transportiert werden sollte … das war einfach undenkbar.
In der Brieftasche steckten verschiedene Kreditkarten - Eurocard, Crèdit Suisse ATM, American Express - und eine Rainbow Card, mit der man ein Jahr lang alle Züge nutzen konnte.
»Eva Krüger«, sagte er, als er den Namen auf der Karte entdeckte. E. A. K. »Hast du diesen Namen schon mal gehört?«
Simone schüttelte den Kopf. »Das muss eine von Emmas Bekannten sein. Ich bin nur froh, dass nicht ich sie anrufen und ihr erzählen muss, was du mit ihrer schönen Tasche angestellt hast.«
Jonathan gab keine Antwort. Weder auf ihren Kommentar noch auf den in ihm enthaltenen Humor. Er war damit beschäftigt, das Geld zu zählen, das sich in der Brieftasche befand. Sie enthielt Scheine in Höhe von eintausend Schweizer Franken und fünfhundert Euro. Im Kleingeldfach befanden sich vier Franken und fünfzig Rappen.
Abrupt richtete er sich auf. Ihm war aufgefallen, dass eine Sache fehlte. Etwas, das Frau Eva Krüger, die pflichtbewusste Besitzerin eines Mercedes-Benz, mit Sicherheit immer dabei haben würde. Mit den schockerprobten Händen eines Chirurgen, denen man sein Herzrasen nicht anmerken konnte, überprüfte er noch einmal alle Kreditkarten und Geldscheine, suchte in allen Fächern und Seitenschlitzen der Brieftasche.
Endlich fand er Eva Krügers Führerschein, der in einem Fach unter den Kreditkarten steckte. Er öffnete ihn und betrachtete das Farbfoto. Eine attraktive Frau mit glattem braunem Haar, das ihr streng aus der Stirn gekämmt war, großen bernsteinfarbenen Augen hinter einer schicken Hornbrille und vollen Lippen blickte ihm entgegen.
»Was ist los?«, fragte Simone. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
Doch Jonathan brachte kein Wort heraus. Sein Brustkorb war wie zugeschnürt, und das Atmen fiel ihm schwer. Er sah sich den Führerschein noch einmal an. Mit den geschminkten Augen einer Diva über den blutroten Lippen eines Flittchens blickte ihm seine Frau Emma entgegen.
Jonathan stieß die Wagentür auf und stieg aus. Er ging ein paar Schritte, dann lehnte er sich an einen Baum. Es fiel ihm schwer, sich zu bewegen und so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre, obwohl sich gerade der Boden unter seinen Füßen auftat. Er musste sich förmlich dazu zwingen, über die Frau mit dem ernsten Blick, den glatt gekämmten Haaren und der modischen Brille nachzudenken.
Eva Krüger.
Beim Anblick des Fotos war ihm die Idee, dass Emma eine Affäre gehabt haben könnte, wie ein kleines, unbedeutendes Ärgernis vorgekommen. Ähnlich lästig wie eine Stechfliege auf einem Pferderücken. Aber das hier - ein falscher Führerschein, ein falscher Name, ein offensichtliches Doppelleben -, das war wie ein schwarzes Loch, und es erschütterte ihn zutiefst.
Simone kam um die Motorhaube herum und stellte sich neben ihn. »Ich bin sicher, dass es eine Erklärung dafür gibt. Warte ab, bis wir wieder in Genf sind. Dann finden wir heraus, was dahintersteckt.«
»Diese Uhr kostet zehntausend Franken. Und was ist mit dem ganzen Schmuck? Den Kleidern? Dem Make-up? Sag mir, Simone, wie würdest du das erklären?«
Sie schwieg und dachte nach. »Ich weiß es nicht … Ich meine, ich kann es nicht.«
Er blickte auf seine Jacke hinunter und entdeckte einen getrockneten Blutfleck. Er hatte keine Ahnung, ob es sein Blut war oder das des Polizisten. Doch ganz gleich, von wem es stammte, der Anblick verursachte ihm Übelkeit. Umständlich zog er sich die Jacke aus und schleuderte sie auf die Motorhaube. Die Kälte traf ihn wie ein Schlag. »Gib mir bitte mal den Pullover.«
Simone holte das Kleidungsstück aus dem Auto. »Bitte schön …«
Als Jonathan den Pullover aus der Schachtel nahm, fiel ein in den Falten verborgener Briefumschlag in den Schnee. Er tauschte einen Blick mit Simone aus und hob ihn auf. Der Briefumschlag war unbeschriftet, lag aber schwer in der Hand. Er wusste sofort, was sich darin befand. Er hatte das richtige Gewicht und die richtige Größe. Jonathan riss den Umschlag auf. In ihm war Geld. Viel Geld. Tausendfrankenscheine. Frisch gedruckt und knisternd wie Pauspapier.
»Mein Gott«, stieß Simone mit aufgerissenen Augen aus. »Wie viel ist es?«
»Einhundert«, sagte er, nachdem er die Geldscheine gezählt hatte.
»Einhundert was?«
»Einhunderttausend Schweizer Franken.«
Ich hab heimliche Geldreserven, hatte Emma gesagt.
»Du nimmst mich auf den Arm.« Simone lachte. Ein lautes Lachen, das beinahe hysterisch klang.
»Jetzt wissen wir es«, sagte Jonathan und starrte wie hypnotisiert auf das Bündel Geldscheine.
»Jetzt wissen wir was?«, fragte Simone.
»Weshalb die Polizei so scharf auf das Gepäck war.«
Er steckte die Geldnoten wieder zurück in den Umschlag und stopfte ihn in die Tasche. Nun mussten sie nur noch herausfinden, woher die Polizisten wussten, dass die Gepäckstücke in Landquart waren, und, was noch wichtiger war - zumindest nach Ansicht von Jonathan -, weshalb Emma eine solche Menge Geld erhalten hatte.
Ein Windstoß rüttelte an den Ästen, sodass etwas Schnee von den Bäumen fiel. Zitternd vor Kälte zog sich Jonathan den Pullover über den Kopf. Der Kaschmir-Crewneck spannte unangenehm über der Brust und an den Schultern. Die Ärmel waren gut sieben Zentimeter zu kurz.
Der Pullover war das Geschenk für einen anderen Mann.