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Ganz nach Vorschrift, so wie bei Gewaltverbrechen mit Todesfolge üblich, wurde die Leiche von Theodor A. Lammers - Geschäftsführer der Robotica AG, holländischer Staatsbürger, verdächtig der Spionage für ein unbekanntes Land und Opfer eines Profi-Killers - ins Leichenschauhaus der Universitätsklinik gebracht und dort genauestens unter die Lupe genommen. Die Autopsie wurde von Dr. Erwin Rohde, dem Leiter der ärztlichen Leichenbeschauer des Kantons Zürich, durchgeführt.

Rohde war sechzig Jahre alt, ein elfengleicher Mann mit wässrigen blauen Augen und grauem Haarkranz. Kein Zweifel an der Todesursache, dachte er, als er über den Leichnam gebeugt stand und die Wunden in Gesicht und Brust untersuchte. Wenn die Kopfschüsse das Opfer nicht getötet hatten, dann mit Sicherheit die Kugel in die Brust. Das runde, schwarze Einschussloch befand sich direkt über dem Herzen.

Mordfälle waren in Zürich nicht gerade an der Tagesordnung und kamen auch sonst in der Schweiz nur selten vor. Das Land hatte für das letzte Jahr gerade einmal siebenundsechzig gewaltsame Todesfälle zu verzeichnen. Weniger als das amerikanische San Diego, eine Stadt mit etwas mehr als einer Million Einwohner, was gerade mal ein Siebtel der Schweizer Bevölkerung ausmachte. Von diesen siebenundsechzig Tötungsdelikten gingen zwanzig auf das Konto des organisierten Verbrechens, wobei die Opfer zum größten Teil selbst Kriminelle gewesen waren. Aber so einen Fall wie diesen hatte Dr. Rohde seit Jahren nicht zu Gesicht bekommen.

Rohde ergriff das Skalpell und machte einen sauberen Schnitt oberhalb der Stirn. Nachdem er die Kopfschwarte abgezogen hatte (die eine Hälfte über das Gesicht und die andere über den Hinterkopf bis hinunter zum Genick), öffnete er mit einer Säge Lammers’ Schädeldach. Darunter bot sich ihm ein Bild der Verwüstung. Die Einschüsse hatten vom Gehirn kaum mehr als eine unförmige Masse zurückgelassen.

Rohde entfernte verschiedene deformierte Metallstückchen aus dem Schädel und ließ sie in die Nierenschale zu seiner Rechten fallen. Es waren Dumdums oder Hohlgeschosse, die sich beim Eintritt zerlegten. Er holte ein weiteres Metallstück aus dem Schädel und hielt unvermittelt inne. Wie sonderbar, dachte er. Das Gewebe um das Metallstück besaß nicht den üblichen, rosafarbenen Ton, sondern war schmutzig braun. Für gewöhnlich ein Anzeichen für Nekrose, das Absterben des Zellmaterials durch schädigende Einflüsse wie Gifte oder Bakterien.

Rohde entfernte ein Stück des Kleinhirns und verstaute es in einem kleinen Zellophanbeutel. Das Zusammennähen des Schädels überließ er seinem Assistenten, während er die Einschussverletzung in der Brust untersuchte. Das Geschoss hatte sich beim Eintritt ins Herz völlig verzogen und sah aus wie ein Pfannkuchen, war darüber hinaus aber intakt geblieben. Er konnte es leicht entfernen. Dann richtete er die über der Leiche hängenden Lampen neu aus und beugte sich tiefer hinunter, um das Organ genauer zu betrachten. Das Herz besaß eine tiefe, gesunde rotbraune Farbe. Mit Ausnahme des Gewebes rund um die Wunde. Hier hatte der Muskel denselben fäkalen Braunton, der ihm bereits im Gehirn aufgefallen war.

Rohde schnitt ein Stück des Gewebes heraus und hielt es unter das Licht. Es bestand kein Zweifel, hier handelte es sich um eine fortschreitende Nekrose. Auch hier nahm er eine Gewebeprobe.

Dann zog er seinen Kittel aus, schnappte sich die beiden Zellophanbeutel und verließ eilends den OP. Zwei Minuten später betrat er das forensische Labor. »Ich brauche das GC/MS«, rief er, womit er das Gaschromatographie-Massenspektrometer meinte.

Er war sich sicher, etwas auf den Patronen hatte das Absterben des Gewebes verursacht.

C31-H42-N2-O6.

Ratlos starrte Erwin Rohde auf die Formel, die das Massenspektrometer anzeigte, und wartete darauf, dass das Ergebnis in eine ihm bekannte Substanz übersetzt wurde. Zehn Sekunden vergingen, doch nichts geschah. Das Spektrometer, das in der Lage war, über vierundsechzigtausend Substanzen zu erkennen, war mit seinem Latein am Ende. Auch sein zweiter Versuch, eine Gewebeanalyse, blieb erfolglos. Rohde schüttelte den Kopf. Das Gerät hatte ihn seit zwanzig Jahren nicht ein Mal im Stich gelassen.

Er notierte sich die Formel und lief zurück zu seinem Büro. Dass es sich dabei um eine toxische Substanz oder ein Gift handelte, dessen war er sich sicher. Doch mit was für einem Gift hatten sie es hier zu tun? Rohde versuchte, die molekulare Signatur mit Hilfe seines eigenen Computers zu entschlüsseln. Wieder kam er zu keinem Ergebnis. Verwirrt schob er seinen Stuhl zurück. Es gab einen Mann, der ihm mit Sicherheit die Antwort liefern konnte.

Rohde sah in seinem Adressbuch nach und wählte eine ausländische Nummer: 44 für England, 20 für London. Die vierstellige Hauptnummer gehörte zu New Scotland Yard.

»Wickes«, meldete sich eine trockene englische Stimme.

Rohde nannte seinen Namen und erwähnte, dass er im letzten Sommer Wickes Seminar zum Thema »Neue forensische Technologien« besucht hatte. Wickes war ein vielbeschäftigter Mann, der sich nicht lange mit Höflichkeitsgeplänkel aufhielt. »Worüber wollen Sie denn mit mir sprechen?«

Rohde gab ihm eine Zusammenfassung von Lammers’ Autopsie und erwähnte auch die Unfähigkeit des Massenspektrometers, die Substanz näher zu bestimmen, die die Nekrose des Gehirngewebes und des Herzmuskels verursacht hatte.

»Geben Sie mir nur die Formel«, unterbrach ihn Wickes. »Ich übernehme dann den Rest.«

Rohde las ihm die Formel vor. Als Wickes sich wieder am Telefon meldete, war sein Tonfall weit weniger herrisch. »Wo, sagten Sie, haben Sie das Gewebe entnommen?«

»Bei Schusswunden in Kopf und Herz.«

»Interessant«, sagte Wickes.

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie die Substanz identifiziert haben?«

»Natürlich. Die Formel, die Sie mir genannt haben, steht für Batrachotoxin.«

Rohde musste zugeben, dass er noch nie von diesem Gift gehört hatte.

»Das wundert mich nicht«, sagte Wickes. »Nicht gerade Ihr Spezialgebiet, oder? Der Name geht auf das griechische Wort Batrachos zurück, was so viel wie Frosch heißt.«

»Ein Froschgift?«

»Eine Gattung innerhalb der Familie Dendrobatidae, man nennt sie auch Pfeilgiftfrösche. Kleine Teufel, nicht größer als ein Daumennagel. Leben in den Regenwäldern Mittel- und Südamerikas, hauptsächlich nahe der Pazifikküste Kolumbiens. Batrachotoxin gehört zu den tödlichsten Giften der Welt. Ein hundertstel Mikrogramm - entspricht etwa dem Gewicht von zwei Salzkörnern - kann einen fünfundsiebzig Kilo schweren Mann töten. Soweit wir wissen, nutzen - neben den Fröschen natürlich, die sich damit verteidigen - nur noch die Eingeborenen das Gift. Sie tauchen ihre Pfeile hinein, wenn sie Affen oder ähnliche Tiere jagen wollen.«

»Die Patronen sind also in Gift getaucht worden? Aber wieso?«

Statt einer Antwort, bombardierte Wickes ihn mit eigenen Fragen: »Haben Ihre Beamten eine Spur von dem Killer? Sitzt er im Gefängnis?«

»Nein.«

»Hab ich auch nicht erwartet. Ich bin mir sicher, dass er ein Profi ist.«

Rohde erzählte Wickes, dass die Polizei tatsächlich davon ausging, dass der Mord von einem Profikiller verübt worden war.

Der Brite räusperte sich, und als er erneut sprach, lag in seiner Stimme ein verschwörerischer Unterton. »Das hier erinnert mich an etwas, das ich in meiner Zeit bei der königlichen Marine erlebt habe. Es war vor etlichen Jahren in El Salvador - 1981 oder 82. Wir wurden von Belize dahin versetzt, um die Yankees zu unterstützen. Damals war das Land im Ausnahmezustand. Alle versuchten, die Macht an sich zu reißen: Kommunisten, Faschisten und sogar ein paar Demokraten. Die Regierung schickte Todesschwadronen in die ländlichen Gegenden, die alle Aufständischen ausschalten sollten. Im Prinzip nichts anderes als kaltblütiger Mord. Einige der Soldaten waren Indios, die nicht besonders glücklich über ihre Befehle waren. Ein abergläubischer Haufen. Glaubten an Geister und die Totenwelt. Es ging um Schamanen und Tiermenschen und was weiß ich. Jedenfalls hatten die ein Ritual, um sich gegen die Rache der Männer und Frauen zu schützen, die sie umgebracht hatten. Um die Geister der Ermordeten daran zu hindern, sie irgendwann heimzusuchen, tauchten sie ihre Patronen in Gift. Das sollte die Seele töten, bevor sie den Körper verlassen konnte.«

»Das ist ja furchtbar«, sagte Rohde.

»Ihnen ist doch sicher bekannt, wer diese Todesschwadronen ausgebildet hatte, nicht wahr?«, fragte Wickes.

»Was meinen Sie damit: ›wer sie ausgebildet hatte‹?«

»Na ja, wer ihnen die Kunst zu morden beibrachte und sie dann auf ihre Missionen schickte. Sie dazu brachte, genau das zu tun, was sie taten.«

»Ich hab nicht die blasseste Ahnung«, sagte Rohde.

»Es waren die Yankees. Die Firma. So haben sie sich jedenfalls damals genannt. Wenn Sie Ihren Mörder finden wollen, sollten Sie zunächst einmal dort suchen.«

»›Die Firma‹? Meinen Sie die CIA?«

»Ganz genau. Diese elenden Mistkerle.« Wickes hängte auf, ohne sich zu verabschieden.

Erwin Rohde sackte in seinem Stuhl zusammen. Er brauchte einen Moment, um das Gehörte zu verarbeiten. Vergiftete Patronen. Eiskalte Killer. Solche Dinge kamen in der Schweiz einfach nicht vor.

Beinahe widerstrebend hob er den Telefonhörer erneut und wählte die persönliche Durchwahl von Chef Inspektor Marcus von Daeniken.

Reich, Christopher
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