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Bereits um sieben Uhr morgens war die Backbordturbine der Gulfstream IV vollständig repariert, und das Flugzeug bereitete sich auf seinen Abflug vom Flughafen Bern-Belp vor. Trotz Marcus von Daenikens Hotelempfehlung war Philip Palumbo an Bord geblieben und hatte auf einer Couch im hinteren Teil des Passagierabteils übernachtet.
Als das Flugzeug aus dem Terminal herausrollte, verließ Palumbo seinen Sitzplatz und duckte sich unter der Heckklappe hindurch, die den Gepäckraum vom Passagierbereich abtrennte. Der Frachtgutbereich war ein enger Raum mit abgeschrägter Decke, in dem sich keine Fenster befanden. In einer Ecke standen drei Koffer. Er schob sie zur Seite, kniete sich auf den Boden und entfernte eine Fußbodenplatte, unter der ein robuster Stahlgriff sichtbar wurde. Er zog daran und löste damit einen Teil des Bodens, unter dem sich ein etwa 2,10 Meter mal 1,20 Meter großer Hohlraum verbarg, der mit einer Matratze mit seitlich befestigten Anschnallgurten ausgestattet war.
In dem Hohlraum lag ein schlanker Mann mit olivfarbenem Teint, der einen weißen Overall trug. Hände und Füße waren mit Plastikfesseln zusammengebunden und mit einer Gefangenenkette gesichert. Den Bart hatte man ihm abrasiert. Sein schwarzes Haar war auf Soldatenlänge gekürzt worden. Er trug eine gewöhnliche Windel. All diese Maßnahmen dienten dem Zweck, den Gefangenen zu depersonalisieren und ihm ein Gefühl der Machtlosigkeit und Verletzlichkeit zu vermitteln.
Die Person auf der Matratze wirkte wie ein junger Mann. Mit seiner Drahtgestellbrille sah er aus wie ein Universitätsstudent oder ein Computerprogrammierer. Sein Name war Walid Gassan. Er war einunddreißig Jahre alt und seines Zeichens erklärter Terrorist, der abwechselnd mit dem Islamischen Dschihad, der Hisbollah und, wie jeder islamische Fanatiker mit etwas Selbstrespekt, mit al-Qaida in Verbindung gestanden hatte.
Palumbo zerrte den Gefangenen auf die Füße und führte ihn ins Passagierabteil, wo er ihn auf einen Sitz stieß und den Sicherheitsgurt fest um seine Taille zog. Danach strich er etwas Mercurochrome auf Gassans verletzte Finger. Gassan hatte drei Nägel eingebüßt, bevor Palumbo es aufgegeben hatte.
»Wohin bringen Sie mich?«, fragte Gassan.
Palumbo gab ihm keine Antwort. Er beugte sich hinunter, löste die Fußfesseln des Gefangenen und massierte einige Minuten dessen Waden, um die Blutzirkulation anzuregen. Er wollte nicht, dass Gassan aufgrund einer Thrombose tot zusammenbrach, bevor sie nicht wenigstens ein paar Informationen aus ihm herausgeholt hatten.
»Ich bin amerikanischer Bürger«, fuhr Gassan trotzig fort. »Ich kenne meine Rechte. Wohin bringen Sie mich? Ich verlange, dass Sie es mir sagen.«
Im Falle einer außerordentlichen Überstellung gab es einige Grundsätze. Wenn die CIA einen Gefangenen verhören wollte, brachte man ihn nach Jordanien. Wollte sie ihn foltern, schaffte man ihn nach Syrien. Und wenn er vom Antlitz der Erde verschwinden sollte, wurde er nach Ägypten befördert.
»Lass dich überraschen, Haji.«
»Ich heiße nicht Haji!«
»Du hast Recht«, sagte Palumbo mit drohendem Unterton in der Stimme. »Soll ich dir mal was sagen? Du hast keinen Namen mehr. Soweit es den Rest der Welt betrifft, existierst du nicht mehr.« Er schnipste direkt vor der Nase des Gefangenen mit den Fingern. »Du hast dich einfach so in Luft aufgelöst.«
Palumbo schnallte sich an, als das Flugzeug vom Boden abhob. Ein Bildschirm im vorderen Bereich der Kabine zeigte ihre augenblickliche Position auf einer Weltkarte an, zusammen mit ihrer Fluggeschwindigkeit, der Außentemperatur und der noch verbleibenden Zeit bis zum Zielort. Nach einigen Minuten Flugzeit in nördlicher Richtung neigte sich die Gulfstream nach links, bis ihre Nase nach Süd-Südost zeigte. In Richtung Mittelmeer.
»Ich geb dir noch ‘ne letzte Chance«, sagte Palumbo. »Rede jetzt, oder lass es bleiben. Ich rate dir, die erste Option zu wählen, oder du wirst es bereuen.«
Gassan warf ihm einen ängstlichen Blick aus seinen braunen Augen zu. »Ich hab Ihnen nichts zu sagen.«
Palumbo seufzte und schüttelte den Kopf. Noch so ein Härtefall. »Und was ist mit dem Sprengstoff, den du in Deutschland bekommen hast?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Natürlich hast du keine Ahnung.«
Er sah Gassan an und dachte an die furchtbaren Dinge, für die der junge Mann verantwortlich war, die unzähligen Toten, die auf sein Konto gingen, die Familien, die er auseinandergerissen hatte. Und er dachte an die Dinge, die den Mann nach ihrer Landung erwarteten.
In vier Stunden schon würde Herr Walid Gassan bitter für all das bezahlen.