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Das Lager war unter dem Namen al-Azabar bekannt und gehörte zum Far-Falastin-Gefängnis, dem berüchtigten Folterknast des syrischen Militärgeheimdienstes, das in der Nähe von Damaskus lag.
Philip Palumbo betrat das Gebäude und rümpfte aufgrund des durchdringenden Ammoniakgestanks angeekelt die Nase. Er war nicht zum ersten Mal hier - es waren garantiert schon mehr als zehn Besuche gewesen -, doch der beißende Gestank, der einem die Tränen in die Augen trieb, und die totale Einöde setzten ihm immer noch zu. Betonierte Flure. Betonierte Wände. Die einzige Dekoration weit und breit bestand aus einigen Bildern des Präsidenten Bashir al-Assad (der von seinen Landsleuten wegen seiner Augenarztausbildung nur »der Doktor« genannt wurde) und seines verstorbenen Vaters, dem Mann fürs Grobe, Hafez Al-Assad.
In der Mitte des Eingangbereichs stand ein Schreibtisch, hinter dem ein einsamer Offizier saß. Ein deutscher Schäferhund lag schlafend zu seinen Füßen. Beim Anblick von Palumbo erhob sich der Mann und salutierte. »Willkommen zurück, Sir.«
Palumbo ging rasch an ihm vorbei, ohne seinen Gruß zu erwidern. Offiziell war er gar nicht hier. Falls nötig konnte er mit handfesten Beweisen bezeugen, dass er niemals einen Fuß auf syrischen Boden gesetzt hatte.
Philip Palumbo leitete die Special Removal Unit der CIA. Auf dem Papier unterstand die Einheit der Befehlszentrale zur Terrorbekämpfung. In Wahrheit jedoch wurde die SRU weitestgehend autonom geführt, und Palumbo berichtete lediglich an Admiral James Lafever, den für sämtliche CIA-Operationen zuständigen Vizedirektor.
Palumbos Aufgabengebiet war klar und eindeutig umrissen: Aufspüren von mutmaßlichen Terroristen mit anschließender Entführung, um sie zu verhören. Zu diesem Zweck standen ihm drei firmeneigene Flugzeuge zur Verfügung, ein jederzeit einsatzbereites Team, das ihn innerhalb von einer Stunde in alle vier Himmelsrichtungen fliegen konnte, und eine ungeschriebene Vollmacht von Admiral Lafever und dem hinter ihm stehenden Präsidenten der Vereinigten Staaten, die ihm gestattete zu tun, was immer er für notwendig hielt. Es gab nur eine Regel, die es zu befolgen galt: Lass dich auf keinen Fall erwischen. Ohne Frage ein zweischneidiges Schwert.
Das Flugzeug war um 13:55 Uhr Lokalzeit in Damaskus gelandet. Als Erstes hatte er den Haftbefehl des Gefangenen an die syrischen Behörden weitergeleitet. Die von ihm in dreifacher Ausführung angefertigten Papiere machten aus dem Gefangenen 88891Z einen Insassen des syrischen Strafvollzugs. Irgendwo über dem Mittelmeerraum hatte Walid Gassan aufgehört zu existieren. Er war ganz offiziell »verschwunden«.
Aus einem hell ausgeleuchteten Gang trat ein durchtrainierter, geschäftig wirkender Offizier in einer steifen olivgrünen Uniform. Sein Name war Colonel Majid Malouf oder »Colonel Mike«, wie er von allen genannt werden wollte. Er war der zuständige Offizier für das Verhör. Colonel Mike war ein hässlicher Mann mit hagerem Gesicht, das von Aknenarben übersät war. Er begrüßte den Amerikaner mit einem Kuss auf beide Wangen, einer Umarmung und einem Handschlag, so eisern wie eine Bärenfalle. Die beiden Männer zogen sich in Colonel Mikes Büro zurück, wo Palumbo ihn eine Stunde lang in die Details über den Fall einweihte. Dabei wies er Colonel Mike besonders auf die Lücken hin, die sie mit Gassans Aussagen schließen wollten.
Der Syrer zündete sich eine Zigarette an und betrachtete seine Notizen. »Wie viel Zeit haben wir?«
»Wir gehen von einer unmittelbaren Bedrohung aus«, sagte Palumbo. »Vielleicht ein paar Tage. Höchstens ein paar Wochen.«
»Also ein dringender Job.«
»Ich fürchte, ja.«
Der Syrer zupfte ein loses Tabakblatt von seiner Zunge. »Bleibt uns genug Zeit, um jemanden aus der nahen Verwandtschaft ins Spiel zu bringen?«
Eine bewährte Verhörtechnik bestand darin, dem Gefangenen die Mutter oder Schwester vorzuführen. Die bloße Androhung, einer von beiden körperliche Gewalt anzutun, reichte für gewöhnlich aus, ihm ein volles Geständnis zu entlocken.
»Keine Chance«, sagte Palumbo. »Wir brauchen irgendwas, um sofort handeln zu können.«
Der Syrier zuckte mit den Schultern. »In Ordnung, mein Freund.«
Offiziell stand Syrien für Amerika immer noch auf der Liste jener Staaten, die Terroristen unterstützende Hilfe leisteten. Obwohl das Land seit 1986 nicht mehr mit irgendwelchen terroristischen Anschlägen in Verbindung gebracht worden war und den Gruppen im eigenen Land strikt verbot, vom eigenen Boden aus Anschläge durchzuführen oder Personen der westlichen Welt anzugreifen, war es dafür bekannt, verschiedene Hardlinergruppen, die für die palästinensische Unabhängigkeit kämpften, passiv zu unterstützen. Der Islamische Dschihad hatte seinen Hauptsitz in Damaskus, und sowohl die Hamas als auch die linksradikale Populäre Front zur Befreiung Palästinas unterhielten Büros in der Stadt.
Dennoch und trotz Syriens miserablem Ruf in Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte betrachteten die Amerikaner die Syrer als Partner in ihrem Krieg gegen den Terror. Nach dem 11. September hatte der syrische Präsident den Amerikanern die Informationen seines Geheimdienstes zum Aufenthaltsort gewisser al-Qaida-Mitglieder zukommen lassen und die Anschläge scharf verurteilt. Während des Irakkrieges hatte das syrische Militär mitgeholfen, den Übertritt von Rebellen über die irakische Grenze einzudämmen. Als säkular angehauchte Diktatur suchte Syrien zu verhindern, dass die arabische Welt von der islamistisch-fundamentalistischen Revolution überrollt wurde. Extremismus war für das Land intolerabel.
Die Verhörzelle war ein enger, nasskalter Ort mit einem hoch angebrachten vergitterten Fenster und einer Abflussrinne in der Mitte des Raumes. Ein Wachsoldat führte den Gefangenen hinein. Kurz darauf zerrte ein zweiter Wachsoldat einen hölzernen Schultisch - einen von der Art, bei dem Stuhl und Schreibplatte miteinander verbunden sind - in den Raum. Gassan wurde gezwungen, sich an den Schultisch zu setzen. Einer der Wachsoldaten nahm ihm die schwarze Kapuze ab, die man ihm über den Kopf gestülpt hatte.
»Also, Herr Gassan«, begann Colonel Mike auf Arabisch. »Willkommen in Damaskus. Wenn Sie mit uns kooperieren und unsere Fragen beantworten, wird Ihr Aufenthalt bei uns nur von kurzer Dauer sein, und wir werden Sie schon bald wieder in den Strafvollzug unserer amerikanischen Freunde zurücküberstellen. Haben Sie das verstanden?«
Gassan gab keine Antwort.
»Möchten Sie vielleicht eine Zigarette? Etwas Wasser? Sonst irgendetwas?«
»Gehen Sie zum Teufel«, murmelte Gassan, doch seine Abgebrühtheit wirkte aufgesetzt, denn er warf immer wieder nervöse Blicke über seine Schultern.
Colonel Mike machte eine knappe Geste. Sogleich stürzten sich die Wachsoldaten auf Gassan. Einer drehte ihm den linken Arm auf den Rücken, während der andere Gassans rechten Arm ausstreckte, ein Knie auf den Unterarm presste und die Handfläche auf den Tisch drückte. Die Finger zuckten wie unter Strom.
»Ich bin amerikanischer Bürger«, schrie Gassan, während er sich wand und wehrte. »Ich kenne meine Rechte. Sie müssen mich auf der Stelle freilassen. Ich möchte einen Anwalt anrufen. Ich verlange, dass Sie mich in meinen Heimatstaat zurückbringen.«
Colonel Mike holte ein Taschenmesser mit Perlengriff aus seiner Brusttasche und klappte die Klinge aus. Behutsam spreizte er Gassans kleinen Finger von den anderen Fingern ab und schob einen Weinkorken zwischen ihn und den Ringfinger.
»Ich verlange, den Botschafter zu sprechen! Sie haben überhaupt keine Befugnis! Ich bin amerikanischer Staatsbürger. Sie haben kein Recht -«
Colonel Mike setzte die Klinge oberhalb des Handwurzelknochens an und hackte Gassan den kleinen Finger ab, als ob er eine Karotte schneiden würde. Gassan schrie und schrie noch lauter, als Colonel Mike einen mit Desinfektionsmittel getränkten Verband an den Stumpf hielt.
Palumbo sah mit unbewegtem Gesicht zu.
»Also, mein Freund«, sagte Colonel Mike und ging in die Hocke, damit er Gassan ins Gesicht schauen konnte. »Am zehnten Januar waren Sie in Leipzig. Sie haben sich dort mit Dimitri Shevchenko, einem Waffenhändler, getroffen, der im Besitz von fünfzig Kilogramm Plastiksprengstoff war. Ah, Sie tun überrascht! Machen Sie uns nichts vor, mein Freund. Wir wissen, worüber wir sprechen. Ihre Kontaktpersonen in Deutschland haben uns bereitwillig Auskunft erteilt. Es ist zwecklos, sich noch länger in Schweigen zu hüllen. So viel Gewalt. So viele Schmerzen. Sie kennen doch den Spruch: ›Am Ende packen sie alle aus.‹ Kommen Sie schon, Habibi, lassen Sie uns wie zivilisierte Menschen miteinander reden.«
Gassan zog eine Grimasse und starrte unverwandt auf seine verstümmelte Hand.
Colonel Mike seufzte und fuhr fort: »Sie haben Shevchenko zehntausend Dollar für den Sprengstoff gegeben und die drei Kästen in einen weißen Volkswagen gepackt. So viel wissen wir. Sie werden uns alles Weitere erzählen. Die Namen der Personen, denen Sie das Zeug ausgehändigt haben, und was sie mit ihm vorhaben. Ich kann Ihnen versichern, dass Sie hier erst wegkommen, wenn Sie uns alle Informationen gegeben haben. Und falls Sie glauben, Sie könnten uns belügen, muss ich Ihnen mitteilen, dass Sie so lange hierbleiben werden, bis wir Ihre Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft haben. Lassen Sie uns also anfangen. Erzählen Sie uns was über den Sprengstoff. Wem haben Sie ihn übergeben?«
Palumbo blickte auf seine Schuhe. An diesem Punkt stellte sich für gewöhnlich heraus, aus was für einem Holz ein Mensch geschnitzt war.
Gassan spuckte Colonel Mike mitten ins Gesicht.
Er war also ein Kämpfer.
Palumbo verließ den Raum. Es war an der Zeit, sich einen Kaffee zu holen. Ihnen stand eine lange Nacht bevor.