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»Hast du das gehört?«, fragte Jonathan beunruhigt.
Emma warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. »Was denn?«
Er kurbelte das Seitenfenster herunter und streckte seinen Kopf aus dem Fenster. »Ich weiß nicht genau, aber …« Ein lauter Knall durchbrach die Nacht und kurz darauf noch einer. Die Geräusche klangen blechern und erinnerten ihn an die Knaller aus den Spielzeuggewehren, mit denen er als Kind gespielt hatte. »Schüsse. Hörst du das nicht?«
Emma lenkte den Wagen auf halber Strecke den Hügel hinauf an den Straßenrand. Ein Märchenwald säumte den Berghang. In der Nähe der Straße waren die Ruinen eines Gebäudes aus längst vergangenen Zeiten zu sehen: klobiger, mit Moos überwucherter Basalt. Die Mündungsfeuer der Schüsse blitzten wie Glühwürmchen zwischen den Bäumen auf.
»Von Daeniken. Das wird sie von uns ablenken.« Sie rutschte unruhig auf dem Fahrersitz hin und her und sah ihn an. »Bist du sicher, dass du das hier durchziehen willst?«
Jonathan nickte. Er hatte diese Entscheidung schon vor Tagen getroffen.
»Lass uns die Plätze tauschen«, sagte Emma. »Du fährst. Es sei denn, du weißt, wie man mit einer Waffe umgeht.«
Jonathan war schon fast aus dem Wagen, da hielt er inne und sah Emma ruhig an. »Ich dachte, du hasst Waffen.«
»Das tue ich auch.«
Sie trafen sich auf dem Weg um die Motorhaube herum, und ihre Schultern berührten sich im Vorübergehen. Jonathan setzte sich hinters Steuer und stellte den Sitz ein. Emma schloss die Beifahrertür und gab den Befehl zur Weiterfahrt. Ihm fiel auf, dass sie längst nicht mehr so selbstsicher wirkte wie zuvor. Alle Zielstrebigkeit und Souveränität waren von ihr abgefallen, und ihr Atem ging stoßweise. Sie hatte genauso viel Angst wie er selbst.
Er startete den Wagen und raste die Anhöhe hinauf. Nach knapp zehn Metern tauchte im Scheinwerferlicht eine Straßensperre auf.
»Was auch immer passiert«, sagte Emma. »Halte niemals an.«
Jonathan beschleunigte und raste auf das Hindernis zu.
»Licht aus!«, sagte sie.
Jonathan schaltete die Scheinwerfer aus. Die Straße wurde in völlige Dunkelheit getaucht. Er beugte sich, so weit es ging, an die Windschutzscheibe heran. Der obere Rand der Straßensperre war gerade noch zu erkennen, eine weiße Linie in der Schwärze der Nacht. Er fuhr geradewegs darauf zu. Der Wagen durchbrach die Barriere, Holzsplitter flogen in hohem Bogen durch die Luft. Die Straße führte jetzt schnurgeradeaus. Rechts und links waren in regelmäßigen Abständen kleine Laternen aufgestellt, die Jonathan den Weg wiesen.
Die Schussgeräusche nahmen zu, klangen jetzt bedrohlich nah. Eine Salve traf den Wagen wie Hagelkörner, die auf ein Blechdach niederprasseln. Ein Projektil traf die Windschutzscheibe und hinterließ ein großes Loch und lange Risse. Eisiger Wind drang ins Wageninnere. Jonathan sah mehrere Personen, die im Schnee kauerten. Ihre Umrisse waren beim Aufblitzen der Mündungsfeuer ihrer Waffen nur schemenhaft zu erkennen.
»Nicht anhalten!« Emma beugte sich aus dem Fenster und schoss auf die schemenhaften Gestalten.
In diesem Moment entdeckte er es. Ein silberfarbenes Monster mit gigantischen Flügeln und einem seltsamen Gehäuse, das unter seinem Rumpf hing.
»Emma!«
Die Drohne rollte vom anderen Ende der Straße auf sie zu.
»Schneller«, sagte sie. »Du musst sie rammen.«
»Aber …« Er sah seine Frau an. Das ist doch glatter Selbstmord!
»Mach schon!«
Jonathan schaltete in den dritten Gang zurück und drückte das Gaspedal durch. Der Motor heulte auf, und der Wagen raste mit einem Satz vorwärts. Die Drohne machte keine Anstalten abzuheben, kam stattdessen geradewegs auf sie zu wie ein aggressives, metallisches Insekt. Emma schoss auf das Fluggerät. Jonathan hatte keine Ahnung, ob sie ihr Ziel traf. Seine Augen waren unverwandt auf das tropfenförmige Gehäuse gerichtet, das am Flugzeugrumpf befestigt war. Eine Bombe mit der Zerstörungskraft von fünfhundert Kilo TNT. Eine Bombe, die groß genug war, um ein ganzes Flugzeug zu zerstören.
»Schneller«, sagte Emma und zog den Kopf wieder ins Wageninnere zurück.
Die Spitze der Drohne reckte sich in die Luft und sank wieder zurück. Jonathan machte sich auf einen Zusammenprall gefasst und stellte sich mit zusammengekniffenen Augen die Explosion und den gewaltigen Feuerball vor …
Die Drohne stieg in die Luft. Die Spitze ragte gen Himmel. Die Vorderräder verloren den Bodenkontakt. Es hatte keinen Zweck. Sie würden mit dem verdammten Ding zusammenstoßen. All seine Instinkte zwangen Jonathan, auf die Bremse zu treten. Er umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen und presste das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
Jonathan schrie.
Ein silberner Blitz glitt über ihre Köpfe hinweg.
Sie war weg. Die Drohne befand sich in der Luft.
Einen Wimpernschlag später spürte Jonathan, wie einer der Vorderreifen explodierte. Der Wagen scherte nach links aus und kam von der Straße ab. Jonathan riss das Lenkrad herum, aber es half nichts. Der Schnee war zu tief. Der Wagen pflügte eine gerade Schneise in den Schnee und wurde immer langsamer. Die Reifen trafen auf vereisten Untergrund. Der Wagen rutschte zur Seite weg und kam schließlich gut zwanzig Meter vom Haus entfernt zwischen etlichen Eichenbäumen zum Stehen.
Emma drückte ihm die Pistole in die Hand. »Der Mann, den du suchst, befindet sich im Haus. Such nach der Steuerungsanlage für die Drohne. Dort findest du ihn. Versuch erst gar nicht, mit ihm zu sprechen. Er wird nicht eher ruhen, bis er das, was er angefangen hat, bis zum bitteren Ende durchgezogen hat. Du hast acht Schuss in der Waffe.«
»Was ist mit dir?«
»Ich bleibe hier«, sagte sie. »Wenn ich das Feuer eröffne, lauf, so schnell du kannst, in den Wald und bis zur Rückseite des Gebäudes. Du kannst über die Stahlpfeiler auf die Terrasse klettern. Von dort aus musst du dir deinen Weg ins Haus alleine suchen.«
Erst jetzt bemerkte er, dass sie angeschossen worden war. Ihre Schulter hing schlaff herunter, und auf ihrer Jacke hatte sich ein Blutfleck gebildet. »Du bist verletzt!«
»Lauf!«, sagte sie mit einem gleichermaßen sorgenvollen Blick auf ihn. »Bevor sie dich entdecken.«
Jonathan zögerte, dann rannte er los. Hinter ihm eröffnete Emma das Feuer auf das Haus.