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Marcus von Daeniken warf eine Akte auf seinen Schreibtisch. »Nicht gerade das, was ich mir unter Verstärkung vorgestellt habe«, sagte er. »Aber besser als nichts.«

Er betrachtete die vier Männer, die um den Tisch herum saßen. Keiner von ihnen hatte in den letzten sechsunddreißig Stunden ein Auge zugemacht. Eine Batterie von leeren Kaffeebechern ließ keinen Zweifel daran, dass jeder von ihnen viel zu viel Koffein intus hatte. Die grelle Deckenbeleuchtung rückte ihre Erscheinungen auch nicht gerade ins beste Licht.

Zu seinem üblichen Mitarbeiterstab, der aus Meyer, Krajcek und Seiler bestand, war noch Klaus Hardenberg, ein Fahnder aus der Abteilung für Wirtschaftskriminalität, hinzugekommen. Nach den ersten Minuten scherzhaften Geplänkels hatten sie entschieden, sich als Sondereinsatztruppe zu bezeichnen, obwohl von einer »Truppe« kaum die Rede sein konnte. Auf diese Weise würde es ihnen jedoch leichter fallen, ihren Frauen die Überstunden zu erklären, selbst wenn sie keine Details über den Inhalt ihrer Arbeit verraten durften.

Von Daeniken ersparte sich das Kompliment, dass in diesem Team die besten Männer aus seiner Dienststelle versammelt waren.

»Lasst uns zunächst unsere Fragen zusammentragen«, sagte er und setzte sich auf einen Stuhl. »Ich will alles hören, was euch im Kopf herumschwirrt.«

Sekunden später prasselten ihre Fragen auf von Daeniken ein wie ein Hagelschauer. Wer hatte seiner Meinung nach Lammers getötet? Was war die Verbindung zwischen ihm und Blitz/Quitab? Falls Quitab tatsächlich ein iranischer Offizier gewesen war, sollten sie sich dann nicht an alle Geheimdienste wenden, mit denen sie zusammenarbeiteten, und diese um Hintergrundinformationen bitten? Gab es außer dem Geständnis von Walid Gassan noch andere Beweise, die Gassan mit Blitz/Quitab und Lammers in Verbindung brachten? Besaßen sie irgendwelche Informationen über Gassans Aktivitäten während seines Aufenthaltes in der Schweiz im letzten Monat? Welcher Flughafen war wohl das wahrscheinlichste Ziel? Und was war mit diesem Amerikaner, Ransom? Wie passte er ins Bild? Was war von dem zweifachen Mord an Polizeibeamten in Landquart zu halten? Hätte der Amerikaner Lammers überhaupt am selben Tag töten können, an dem auch seine Frau gestorben war?

Und schließlich gab es noch die Frage, die auf unterschiedliche Weise von allen Anwesenden gestellt wurde: Warum benahm Marti sich in dieser Sache eigentlich wie ein ausgemachtes Arschloch?

Von Daeniken konnte nicht eine der Fragen befriedigend beantworten, und seine Unfähigkeit hob nur allzu deutlich hervor, woran diese Ermittlungen im Kern krankten: Im Grunde wussten sie absolut gar nichts über die Verschwörer und das geplante Attentat.

Alles lief auf das Eine hinaus: Es gab viel zu viel zu tun und viel zu wenig Zeit dafür.

Von Daeniken gliederte die Ermittlungen in vier Teilbereiche: Finanzen, Kommunikation, Untersuchung vor Ort und Transport. Er würde sich um die Finanzen kümmern. Aus seiner Zeit als Mitglied der Holocaust-Kommission besaß er neben ein paar Freunden aus dem Bankwesen noch ein Netzwerk aus Bekannten und Kontakten.

»Wir fangen mit der Villa Principessa an«, sagte er. »Sie ist wohl kaum zu vergleichen mit einem Unterschlupf in einem der besetzten Häuser in Hamburg. Um sich in einem Haus wie der Villa einzunisten, braucht man richtig viel Kohle.«

Er würde herausfinden, wer die Villa gemietet hatte, für welchen Zeitraum und woher die Mietzahlungen stammten. Es war entscheidend aufzudecken, wo und wie Blitz seine Geldtransfers erledigt hatte. Von allen möglichen Spuren war diese am erfolgversprechendsten. Wenn er erst mal herausgefunden hatte, wo Blitz seine finanziellen Transaktionen abgewickelt hatte, konnte er die Zahlungen zurückverfolgen und die Quelle aufspüren, aus der das Geld auf Blitz’ Bankkonto geflossen war. Ebenso interessant war die Frage, wohin die Gelder anschließend gegangen waren. Auf der einen Seite würde der Weg des Geldes die Hintermänner von Blitz enthüllen - die Organisation oder Regierung, die seine Unternehmungen finanziell unterstützte. Auf der anderen Seite würde er sie auf die Spur seiner Komplizen führen.

Klaus Hardenberg würde ihn bei seinen Ermittlungen unterstützen und sich auf das Guthaben der in den Fall verwickelten Personen konzentrieren. Von Daeniken wies ihn an, alle Belege von Blitz, Lammers und Ransom aus den letzten zwölf Monaten zu checken. Die Überprüfung ihrer Ausgaben würde wertvolle Informationen über ihre alltäglichen Aktivitäten liefern und Aufschluss darüber geben, wo sie sich in den letzten zwölf Monaten aufgehalten hatten.

Von den dreien würde Lammers am einfachsten zu überprüfen sein. In seinem Portemonnaie waren fünf Kreditkarten gefunden worden. Um nicht ausgewiesen zu werden, hatte Lammers’ Frau ihnen ihre Unterstützung bei den Ermittlungen zugesichert.

Bei Blitz lag die Sache schon etwas anders. In seinem Haus waren weder ein Portemonnaie noch sein Pass gefunden worden. Durch einen glücklichen Zufall war jedoch die Eurocard-Abrechnung vom Dezember hinter das Regal in seinem Arbeitszimmer gerutscht. Über seine Kreditkarte würden sie Aufschluss über seine Bankgeschäfte und letztlich auch einen Identitätsnachweis wie etwa seine Passnummer erhalten.

Über Ransom war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Die Einreisebehörde hatte ihnen gerade erst seine persönlichen Daten mitgeteilt. Derzeit überprüfte Interpol Ransoms Passnummer und seine Sozialversicherungsnummer und übermittelte die Ergebnisse dem Bundeskriminalamt des Nachrichtendienstes.

Kurt Meyer war für den Bereich Kommunikation zuständig. Er hatte schon unmittelbar nach seiner Rückkehr von Ascona mit der Arbeit begonnen. »Swisscom schickt uns eine Auflistung aller Anrufe, die in den letzten sechs Monaten von Blitz’ Haus aus getätigt wurden oder dort eingegangen sind«, berichtete er. »Lammers’ Liste über denselben Zeitraum liegt uns schon vor. Zunächst werden wir die beiden Listen miteinander vergleichen und nach gemeinsamen Freunden suchen. Dann gehen wir noch einen Schritt zurück und überprüfen alle Anrufe, die von ihren Gesprächspartnern getätigt wurden oder an sie gegangen sind. Die erste Auswertung müsste uns morgen früh vorliegen.«

»Ausgezeichnet«, sagte von Daeniken. Vor fünf Jahren war er maßgeblich an einem Gesetzesentwurf beteiligt gewesen, der sämtliche Netzbetreiber dazu verpflichtete, alle Telefonate mit registrierten Nummern sechs Monate lang zu archivieren. »Wenn du mit den beiden Listen fertig bist, such alle Handynummern raus und überprüf sie auf möglicherweise identische Namen. Falls sie SIM-Karten benutzt haben, überprüf die Anrufe bis zum Kauf der Karte.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir identische Namen auf beiden Listen finden werden«, sagte Meyer. »Es hängt nur davon ab, wie vorsichtig sie waren. Jeder macht mal einen Fehler.«

»Bleibt nur zu hoffen, dass sie keine Verträge mit ausländischen Betreibern abgeschlossen haben«, sagte von Daeniken.

Krajcek verdrehte die Augen. »Hoffentlich nicht mit den Deutschen.« Kein Land schützte die Privatsphäre seiner Bürger so vehement wie die Bundesrepublik Deutschland.

Die Bereiche Finanzen und Kommunikation würden eng zusammenarbeiten. Sobald von Daenikens Ermittlungen über die Finanzen der im Fall Beteiligten neue Erkenntnisse brachten, würden alle relevanten Telefonnummern an Meyer weitergeleitet. Alle Treffer würden in eine spezielle Datei eingespeist, die aus den Daten ein »Beziehungsnetz« anfertigen sollte, mit dem die Sozialkontakte von Blitz und Lammers anschaulich illustriert werden konnten.

Von Daeniken holte sich eine Tasse Espresso aus dem Pausenraum - zwei Stücke Zucker, etwas Zitrone - und trank sie mit zwei Schlucken aus. Es war zehn Uhr morgens, und er war seit achtunddreißig Stunden auf den Beinen. Seine Erschöpfung war allerdings einem verhaltenen Optimismus gewichen. Zu Beginn einer Ermittlung war noch alles offen. Er warf einen Blick auf die leere Kaffeetasse. Vielleicht hatte auch nur der Kaffee seine Lebensgeister geweckt.

Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, um die Aufmerksamkeit der anderen wieder auf sich zu lenken. »Morgen wird Herr Krajcek unseren Undercoveragenten in Genf, Basel und Zürich einen Besuch abstatten, nicht wahr?«

»Als Allererstes.«

Seit drei Jahren hatte der Dienst für Analyse und Prävention Agenten in die wichtigsten Moscheen des Landes eingeschleust. Die meisten von ihnen waren freiwillige Mitarbeiter. Muslime, die darüber verärgert waren, dass ihre Religion zunehmend von Fundamentalisten vereinnahmt wurde. Andere hatten ihre Dienste nicht ganz so freiwillig angeboten und mussten mit der Androhung, in ihr Heimatland abgeschoben zu werden, unter Druck gesetzt werden. Auf diese Weise waren sie an entscheidende Geheimdienstinformationen über eingeschmuggelte RPGs, AK-47s und ein Netzwerk von Vertretern des Hawala-Finanzsystems gelangt, das von einer algerischen Terrorgruppe genutzt wurde, die von Frankreich, der Schweiz und Norditalien aus operierte.

»Konzentrier dich darauf, jemanden aufzutreiben, der mit Gassan während seines letzten Aufenthaltes in Genf Kontakt hatte«, sagte von Daeniken. »Ich brauche die Namen seiner Kontaktleute, Orte, an denen er sich aufgehalten oder verkrochen hat und alle Gerüchte über seine Pläne.«

Krajcek notierte sich alles eifrig auf seinem Notizblock.

Von Daeniken wandte sich an den Nächsten. »Und nun kommen wir zu Herrn Hardenberg …«

Hardenberg rang sich ein Lächeln ab, das wirkte, als würde ihm ein Nierenstein durch die Harnröhre wandern. Er war ein übergewichtiger Mann mittleren Alters mit einem Puddinggesicht, einer dicken Hornbrille, hinter der sich schüchterne braune Augen verbargen, und einem Kopf, der so kahl war wie ein Babyhintern. Davon abgesehen war er ohne Frage der kleinlichste, hartnäckigste Ermittler, den von Daeniken kennen gelernt hatte. Nicht ohne Grund lautete Hardenbergs Spitzname »Rottweiler«.

»Du wirst den VW-Kleintransporter aufspüren, mit dem Gassan den Plastiksprengstoff aus Leipzig transportiert hat. Ich würde darauf wetten, dass die Drohne ebenfalls darin befördert wird. Treib diesen Wagen auf, dann haben wir auch unsere Männer.«

Hinter dieser knappen Anweisung verbarg sich eine gigantische Aufgabe. Hardenberg räusperte sich und nickte. Wortlos stand er auf und verließ den Raum. Niemand dachte auch nur eine Sekunde lang, dass der Dicke nun nach Hause gehen würde. Alle Mietwagenfirmen, Autohäuser und Regierungsagenturen hatten für heute schon geschlossen, doch Hardenberg würde bis Sonnenaufgang an seinem Schreibtisch sitzen und seinen Feldzug planen, bis die betreffenden Firmen am nächsten Morgen wieder besetzt waren.

Schließlich kam Max Seiler an die Reihe. Seine Aufgabe bestand aus zwei Teilbereichen. Zuerst sollte er aus Lammers’ Pass alle Einreise- und Ausreisestempel notieren und die regelmäßigen Reiserouten des Ingenieurs ermitteln. Parallel dazu würden sie alle großen Fluglinien darum bitten, ihre Passagierlisten des letzten Jahres auf Lammers, Blitz, Ransom und alle dem Geheimdienst bekannten Decknamen dieser Personen zu überprüfen. Seilers Ergebnisse konnten ihnen vielleicht nicht dabei helfen, die Drohne aufzuspüren, aber sie durften nichts unversucht lassen, um handfeste Beweise gegen die Geldgeber, die hinter dem geplanten Anschlag standen, zusammenzutragen.

Entschlossen schob von Daeniken seinen Stuhl vom Tisch zurück. »Höchste Zeit, sich an die Arbeit zu machen.«

Reich, Christopher
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