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Abwarten und Tee trinken.

Das Phantom beobachtete das Restaurant von der anderen Straßenseite aus. Er hatte einen günstig gelegenen Beobachtungsposten vor einem Kiosk bezogen, der die handelsüblichen Zeitungen und Zeitschriften verkaufte, und verbrachte die Zeit damit, ein paar Fußballmagazine durchzublättern. Als er den ungehaltenen Blick des Kioskbesitzers bemerkte, kaufte er eine Packung Kaugummi, eine Schachtel Zigaretten (obwohl er nicht rauchte) und eine Ausgabe der Corriere della Sera, einer italienischen Tageszeitung.

Mit der Zeitung unter dem Arm schlenderte er bis zum Ende des Häuserblocks. Er fühlte sich ausgezehrt vom langen Kampf der letzten Nacht und musste seine ganze Kraft aufbieten, um die kurze Strecke zu bewältigen. Trotzdem zwang er sich zum Laufen und achtete darauf, sich seine körperliche Schwäche nicht anmerken zu lassen.

Er trug einen Trenchcoat mit hochgeschlagenem Kragen, einen grauen Wollanzug, den er sich in Neapel hatte maßschneidern lassen, und ein paar handgefertigte hellbraune Schuhe. Heute trat er als italienischer Geschäftsmann auf. Gestern noch war er ein Wanderer aus der Schweiz gewesen. Am Tag davor ein deutscher Tourist. Nur als er selbst durfte er nie in Erscheinung treten. Das störte ihn nicht weiter. Nach zwanzig Jahren in seinem Beruf war es ihm ohnehin lieber, sich so wenig wie möglich mit sich selbst beschäftigen zu müssen.

Ransom hatte er im Morgengrauen wieder aufgespürt, als dieser vom Parkplatz des Autohändlers fuhr, auf dem er die Nacht über geschlafen hatte. Der Amerikaner war unerfahren, wenn es darum ging, einen möglichen Verfolger zu bemerken. Wenn er die Gelegenheit hatte, sich aus dem Staub zu machen, fuhr er zu langsam. Auch hielt er regelmäßig an, um sich umzusehen. Und er parkte zu nah an seinem eigentlichen Zielort. Doch was immer er auch unternahm, um etwaige Verfolger abzuschütteln, es war zwecklos. All diese Versuche wurden von dem Sender, der in dem Medaillon um seinen Hals verborgen war, zunichtegemacht.

Dem Phantom machte es nichts aus, abzuwarten und Tee zu trinken, wie es so schön hieß. Das Töten aus nächster Nähe war sein Spezialgebiet. Sein Erfolg basierte auf Vorsichtsmaßnahmen und sorgfältiger Planung; seine eiserne Regel lautete, niemals der Versuchung zu erliegen, einen Glückstreffer zu landen. Stets kundschaftete er zuerst das Gebiet aus, stellte die Falle auf und legte sich erst dann auf die Lauer. Der Fall Lammers war ein Paradebeispiel für sein durchdachtes Vorgehen mit anschließender Hinrichtung. Die Sache mit Blitz dagegen war schon weniger optimal gelaufen, weil er so wenig Zeit für die Vorbereitung gehabt hatte. Das plötzliche Auftauchen von Ransom hatte wieder mal bewiesen, wie riskant es war, eine Arbeit zu überstürzen.

Und dann war da auch noch dieser Traum gewesen.

Ransom würde ihn umbringen.

Das Phantom versuchte, nicht dem Aberglauben zu erliegen. Prophetische Träume, daran glaubten vielleicht die Indios, welche die Kaffeeplantagen ihrer Familie bewirtschafteten. Nicht aber ein gebildeter Mann. Und dennoch …

In diesem Moment sah er, wie Ransom das Restaurant verließ.

Er beobachtete, wie der Amerikaner die Straße überquerte und in einer Menschenmenge vor dem Fabriktor verschwand.

Für den Augenblick war das Phantom zufrieden damit, den Abstand zu wahren.

Sein Moment würde kommen, da war er sich sicher.

Bis dahin würde er abwarten und Tee trinken.

Und er würde seine Gebete sprechen.

Reich, Christopher
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