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Dreihundert Kilometer westlich von Davos, am Bundeshauptstadtflughafen Bern-Belp, hatte es den ganzen Morgen lang geschneit. Imposante arktische CAT-Schneepflüge fuhren die Start- und Landebahnen auf und ab und schoben Berge aus Schnee zusammen, die sie am äußersten Ende der Rollbahnen aufhäuften - eine schmutzig graue Parodie auf die Alpen.
Am westlichen Ende der Landebahn 14 stand eine Gruppe Männer eng beieinander und blickte zum Himmel auf. Es waren Polizeibeamte, die auf ein landendes Flugzeug warteten, und sie waren gekommen, um jemanden festzunehmen.
Einer der Männer stand etwas abseits von den anderen. Er hieß Marcus von Daeniken - ein fünfzigjähriger, gedrungener Mann mit schwarzen, kurzgeschorenen Haaren und einem grimmigen Mund. Sechs Jahre schon leitete er den Schweizer Inlandnachrichtendienst DAP - die Abkürzung stand für »Dienst für Analyse und Prävention«. Die Aufgabe des DAP bestand darin, die Sicherheit des Landes vor Übergriffen von Extremisten, Terroristen und Spionen zu schützen. In den USA wurde diese Aufgabe vom FBI wahrgenommen, in Großbritannien vom MI5. Im Augenblick zitterte von Daeniken vor Kälte. Er hoffte, dass das Flugzeug bald landen würde.
»Was sagt der Wetterdienst?«, fragte er den Mann, der direkt neben ihm stand, einen Major der Grenzpolizei.
»Noch zehn Minuten und sie machen den Flughafen dicht. Die Sicht ist einfach zu schlecht.«
»Was ist mit dem Flugzeug?«
»Eins der Triebwerke ist ausgefallen«, erwiderte der Major. »Das andere ist überhitzt. Die Maschine befindet sich bereits im Landeanflug.«
Von Daeniken blickte wieder suchend in den Himmel. Nur wenige Meter über der Landebahn blinkten hin und wieder ein Paar gelbe Landeleuchten im Nebel auf. Kurze Zeit später tauchte das Flugzeug aus der Wolkendecke auf. Es war eine Gulfstream IV, und sie kam aus Stockholm. Die Seriennummer auf der Heckflosse, N415GB, war den westlichen Geheimdiensten nur allzu gut bekannt. In derselben Maschine hatte schon Abu Omar gesessen, ein radikaler muslimischer Imam, der von den Amerikanern aus Italien nach Deutschland und schließlich nach Ägypten verbracht worden war, wo er sich im eigenen Land einem Verhör unterziehen musste.
Das Flugzeug hatte auch einen deutschen Staatsbürger libanesischer Abstammung transportiert - einen Mann namens Khaled El-Masri, der Ende 2003 in Mazedonien verhaftet und in ein US-Internierungslager in Afghanistan, die Bagram Air Base vor Kabul, geflogen worden war. Dort hatte die CIA schließlich herausgefunden, dass es sich bei ihm nicht um denselben Khaled El-Masri handelte, der im Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten gesucht wurde.
Ein Fahndungserfolg, ein Irrtum. Das spiegelt die derzeitige Quote recht gut wider, dachte von Daeniken. Wichtig war nur, dass man am Ball blieb und sich das Spiel nicht aus der Hand nehmen ließ.
Holprig setzte das Flugzeug auf der Landebahn auf. Eis und Wasser spritzten von den Reifen. Das Triebwerk heulte auf, als die Landeklappen ausfuhren.
»Selbstgefällige Mistkerle«, sagte ein schlanker, fast hagerer Mann mit längerem rotem Haar und einer Professorenbrille. »Ich kann’s kaum erwarten, ihre Gesichter zu sehen. Es ist wirklich an der Zeit, dass wir denen eine Lektion erteilen.« Der Mann hieß Alphons Marti, seines Zeichens Bundesratsmitglied und Leiter des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements.
Im Jahre 1988 war Marti bei den olympischen Spielen in Seoul als Marathonläufer für die Schweiz gestartet. Er war als Letzter ins Stadion eingelaufen, völlig überhitzt und taumelnd wie ein Alkoholiker nach einer dreitägigen Sauftour. Zuvor hatte das Rettungsdienstpersonal einige Male versucht, ihn zum Aufhören zu überreden, doch irgendwie war es Marti gelungen, sämtliche Helfer abzuschütteln. Einen Schritt hinter der Ziellinie war er dann zusammengebrochen und sofort ins Krankenhaus gebracht worden. Bis zum heutigen Tage gab es eine Fangemeinde, die Marti wie einen Helden verehrte. Andere hingegen bezeichneten ihn hinter vorgehaltener Hand als Amateur und Schaumschläger.
»Keine Fehler von jetzt an«, fuhr Marti fort und griff nach von Daenikens Arm. »Unser Ruf steht auf dem Spiel. Die Schweiz lässt sich so was nicht gefallen. Wir sind ein neutrales Land. Es ist an der Zeit, dass wir Position beziehen und das auch demonstrieren. Stimmen Sie mir zu?«
Von Daeniken hatte genug Jahre und Lebenserfahrung auf dem Buckel, um sich dazu nicht zu äußern. Er hob das Funkgerät zum Mund. »Niemand setzt sich in Bewegung, bevor ich es befehle«, sagte er.
In etwa dreißig Meter Entfernung warteten einige Polizeifahrzeuge, die sich hinter einer karierten Schranke verbargen, auf ihren Einsatz. Von Daeniken blickte nach links. Eine andere Schranke versperrte die Sicht auf einen gepanzerten MTW, in dem sich zehn schwerbewaffnete Grenzbeamte befanden. Er hatte sich gegen eine Beteiligung des Militärs ausgesprochen, doch Marti hatte in diesem Punkt nicht mit sich reden lassen. Er hatte lange auf diesen Tag gewartet.
»Der Pilot hat um die Einparkerlaubnis gebeten«, vermeldete der Major der Grenzpolizei. »Der Kontrollturm schickt ihn zum Zollabfertigungsbereich.«
Von Daeniken und Marti bestiegen eine unauffällige Limousine und fuhren zu dem ausgewiesenen Parkplatz. Die anderen folgten in einem zweiten Fahrzeug.
Das Flugzeug rollte von der Landebahn und näherte sich dem Zollabfertigungsbereich. Von Daeniken wartete, bis die Maschine vollständig zum Stillstand gekommen war. »An alle Einheiten. Zugriff!«
Blaue und weiße Signallampen erleuchteten den dichtbewölkten Himmel. Die Polizeifahrzeuge rasten aus ihrem Versteck und umzingelten die Maschine. Der gepanzerte MTW rumpelte auf seine Position, während einer der Soldaten das Turmgeschütz ausrichtete. Kommandoeinheiten in Kampfanzügen stürmten aus den Fahrzeugen und bildeten einen Halbkreis um die Gulfstream; ihre vor der Brust gezückten Maschinenpistolen waren auf die Flugzeugtür gerichtet.
So ein Zirkus wegen eines einzigen Telegramms, dachte von Daeniken, während er aus der Limousine stieg. Im Laufen überprüfte er seine Pistole, um sicherzugehen, dass sich keine Kugel im Magazin befand und die Waffe gesichert war.
Vor drei Stunden hatte ONYX, das Satellitenabhörsystem des MND, ein Telegramm abgefangen, das von der syrischen Botschaft in Stockholm zur syrischen Botschaft in Damaskus gesendet worden war. Inhalt: Die Passagierliste eines gewissen Flugzeugs, das auf dem Weg in den Nahen Osten war. An Bord vier Personen: der Pilot, der Co-Pilot sowie zwei Passagiere. Der eine Fluggast war ein amerikanischer Regierungsvertreter, der andere ein Terrorist, der in zwölf westlichen Nationen auf der Fahndungsliste stand. Die Nachricht wurde innerhalb von Minuten an die höchsten verantwortlichen Stellen weitergeleitet. Eine Kopie war an von Daeniken, eine weitere an Marti gemailt worden.
Damit wäre die Sache für sie eigentlich erledigt gewesen. Die E-Mail hatte nämlich den Geheimdienstvermerk »Kein weiterer Handlungsbedarf« getragen - eine Anweisung, der sie sich wohl oder übel hätten beugen müssen. Bis zu dem Moment jedenfalls, als sich das fragliche Flugzeug an die Schweizer Flugkontrolle gewandt, eine Störung des Triebwerks gemeldet und die Bitte geäußert hatte, in Bern notlanden zu dürfen.
Die vordere Tür des Jets öffnete sich, dann wurde die Treppe ausgeklappt.
Marti lief eilig die Stufen hinauf, von Daeniken folgte ihm. Im Türrahmen tauchte der Pilot auf. Der Justizminister zückte einen Durchsuchungsbefehl und reichte ihn dem Piloten zur näheren Betrachtung. »Uns liegen Informationen vor, dass Sie einen Gefangenen an Bord haben und damit gegen das Genfer Abkommen verstoßen.«
Der Pilot würdigte das Dokument kaum eines Blickes. »Da muss ein Irrtum vorliegen«, sagte er. »Außer meinem Kopiloten und Herrn Palumbo befindet sich keine Menschenseele an Bord.«
»Wir irren uns ganz sicher nicht«, erwiderte Marti. Er schob sich an dem Piloten vorbei und betrat das Flugzeug. »Außerordentliche Überstellungen lassen wir auf Schweizer Boden nicht zu. Chefinspektor von Daeniken, durchsuchen Sie dieses Flugzeug.«
Von Daeniken lief den Flugzeuggang entlang. In einem der breiten Ledersessel saß ein einzelner Passagier, ein weißer Mann um die vierzig, mit kahlgeschorenem Kopf, massigen Schultern und kalten grauen Augen. Auf den ersten Blick wirkte er wie jemand, der sich vollständig im Griff hatte. Sein Fenster bot ihm einen freien Blick auf die Einsatztruppen, die das Flugzeug umzingelt hatten. Sie schienen ihn jedoch nicht sonderlich zu beunruhigen.
»Guten Tag«, sagte von Daeniken in flüssigem, wenngleich stark akzentgefärbtem Englisch. »Sind Sie Herr Palumbo?«
»Und wer sind Sie?«
Von Daeniken stellte sich vor und zeigte ihm seinen Dienstausweis. »Wir haben Grund zu der Annahme, dass ein Gefangener namens Walid Gassan in diesem Flugzeug transportiert wird. Entspricht das der Wahrheit?«
»Nein, das tut es nicht.« Palumbo schlug die Beine übereinander, und von Daeniken fiel auf, dass er Stiefel mit verstärkten Spitzen trug.
»In diesem Fall macht es Ihnen doch sicher nichts aus, wenn wir uns in der Maschine mal etwas umsehen?«
»Wir befinden uns auf Schweizer Boden. Sie können tun und lassen, was Sie wollen.«
Von Daeniken wies den Amerikaner an, auf seinem Platz sitzen zu bleiben, bis die Suche beendet war, und betrat den hinteren Teil des Flugzeugs. Im Spülbecken der Bordküche entdeckte er Teller und Gläser. Er zählte jeweils vier. Für den Piloten, den Kopiloten, Palumbo und … Jemand fehlte. Er sah in der Toilette nach und kontrollierte den Gepäckraum.
»Niemand an Bord«, gab er per Funk an Marti weiter. »Passagierbereich und Ladefläche sind sauber.«
»Was meinen Sie mit ›sauber‹?«, wollte Marti wissen. »Das kann nicht sein.«
»Sofern sie ihn nicht in einem Koffer verstaut haben, befindet sich der Mann nicht an Bord dieses Flugzeugs«, erwiderte von Daeniken.
»Suchen Sie weiter.«
Ein weiteres Mal durchforstete von Daeniken den Gepäckraum und überprüfte ihn auf Hohlräume. Nichts. Er schloss die hintere Klappe und ging zurück in den Passagierbereich.
»Haben Sie wirklich das gesamte Flugzeug durchsucht?«, fragte Marti, der mit verschränkten Armen neben dem Hauptmann stand.
»Von oben bis unten. Außer Mr. Palumbo befindet sich kein weiterer Passagier an Bord.«
»Das ist unmöglich.« Marti warf von Daeniken einen vorwurfsvollen Blick zu. »Wir haben einen Beweis dafür, dass sich der Gefangene an Bord befindet.«
»Von was für einem Beweis sprechen Sie?«, fragte Palumbo.
»Verkaufen Sie mich nicht für dumm«, sagte Marti. »Wir wissen genau, wer Sie sind und für wen Sie arbeiten.«
»Ach wirklich? Ich schätze, in diesem Fall kann ich Ihnen auch gleich alles erzählen.«
»Was erzählen?«, verlangte Marti zu wissen.
»Der Typ, nach dem Sie suchen … Wir haben ihn vor dreißig Minuten über Ihren großen Bergen an die Luft gesetzt. Er meinte, er wollte schon immer mal die Alpen sehen.«
Marti sah den Amerikaner mit weit aufgerissenen Augen an. »Soll das ein Witz sein?«
»Vielleicht war er’s ja, der unser Triebwerk blockiert hat. Entweder er oder eine Fluggans.« Palumbo blickte aus dem Fenster und schüttelte lächelnd den Kopf.
Von Daeniken zog Marti beiseite. »Scheinbar war unsere Information falsch. Es befindet sich kein Gefangener an Bord.«
Blass vor Wut starrte Marti ihn an. Eine plötzliche Gefühlsregung ließ seine Schultern erbeben. Stumm nickte er Palumbo zu und verließ das Flugzeug.
Ein einsamer Kommandant hielt an der Tür die Stellung. Von Daeniken gab ihm das Zeichen zum Rückzug. Er wartete, bis der Soldat die Treppenstufen hinuntergeklettert war, dann wandte er sich noch einmal an den CIA-Beamten. »Ich bin mir sicher, unsere Mechaniker werden Ihr Triebwerk in kürzester Zeit repariert haben. Für den Fall, dass sich bis dahin das Wetter nicht gebessert hat und der Flughafen geschlossen bleibt, empfehle ich Ihnen das recht komfortable Hotel Rössli am Ende der Straße. Entschuldigen Sie bitte, wenn wir Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet haben.«
»Entschuldigung akzeptiert«, sagte Palumbo.
»Ach, und übrigens«, fuhr von Daeniken fort. »Das hab ich eben zufällig auf dem Boden gefunden.« Er beugte sich vor und legte einen kleinen, harten Gegenstand in die Hand des Amerikaners. »Ich gehe davon aus, dass Sie alle für uns relevanten Informationen auf dem schnellsten Weg an uns weiterleiten.«
Palumbo wartete, bis von Daeniken das Flugzeug verlassen hatte, dann öffnete er seine Hand.
Darin lag der herausgerissene, blutige Fingernagel eines Mannes.