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Tobias Tingeli wohnte in einem imposanten viktorianischen Herrenhaus hoch oben auf dem Zürichberg neben dem Dolder Grand Hotel. Das dreistöckige Steinhaus hatte schon seinem Vater gehört und davor dessen Vater und so weiter. Die Reihe setzte sich bis ins Jahr 1870 fort, als der erste Tobias Tingeli ein Vermögen damit verdiente, Kaiser Wilhelms Krieg gegen Napoleon III zu finanzieren.
Die Beziehung zwischen Deutschland und der Privatbank war über all die Jahre hinweg sehr innig geblieben. Während des Zweiten Weltkrieges war die Tingeli Bank nicht nur für die Nationalsozialisten, die einen Großteil ihrer Goldverkäufe über ihre Büros abwickelte, ein echter Glücksfall gewesen, sondern auch für die Amerikaner, die Briten und die Russen, deren Geheimdienste gleichermaßen zuvorkommend von der Bank behandelt worden waren. Seit dieser Zeit kümmerte sich die Bank ausschließlich um Privatkunden, doch die Gerüchte über fragwürdige Geschäfte waren nie ganz verstummt.
»Marcus, komm rein«, sagte Tobias Tingeli mit dröhnender Stimme. »Ich war überrascht, von dir zu hören.«
Von Daeniken lächelte. Absolut überrascht, kein Zweifel, dachte er. »Hallo, Tobi. Wie geht’s? Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.«
»Überhaupt nicht. Aber du solltest nicht da draußen in der Kälte stehen bleiben. Gib mir deinen Mantel.«
Tobias Tingeli IV, »Tobi« für seine Freunde, gehörte zur neuen Bankiersgeneration. Er war zehn Jahre jünger als von Daeniken. Rein äußerlich - in seinen ausgewaschenen Jeans, dem schwarzen Rollkragenpullover und mit dem modisch zerzausten vollen Haar - wirkte er eher wie ein Künstler als ein Geschäftsmann.
Von Daeniken reichte ihm seinen Mantel. Bei seinem letzten Besuch vor zehn Jahren hatte ihn eine Armee von uniformierten Hausmädchen und Butlern erwartet, die die Garderobe in Empfang genommen und Cocktails serviert hatten. Er fragte sich, ob Tingeli dem Luxus zwischenzeitlich abgeschworen oder ob er die Bediensteten absichtlich fortgeschickt hatte. Die beiden Männer teilten so etwas wie eine bewegte Vergangenheit. Eine, die besser unausgesprochen blieb, und Tobi Tingelis zuvorkommendes Verhalten änderte nichts an der Tatsache, dass er von Daeniken nicht gerne in seinem Haus sah.
»Mir nach, Marcus. Du erinnerst dich doch noch an den Weg, oder?« Tingeli führte seinen Gast ins Wohnzimmer, wo ein vom Boden zur Decke reichendes Fenster einen atemberaubenden Ausblick auf den Zürichsee bot. »Ein Drink gefällig?«, fragte er und zog den Glasverschluss aus einer Kristallkaraffe.
Von Daeniken lehnte dankend ab. »Wie ich bereits erwähnte, muss ich über eine dringende Angelegenheit mit dir sprechen«, begann er. »Ich muss dich darauf aufmerksam machen, dass alles, was wir heute Abend hier besprechen, streng vertraulich ist. Ich weiß, dass ich mich auf deine Diskretion verlassen kann.«
Tingeli nickte andächtig. Die zwei saßen sich in identischen Ledersesseln gegenüber. Von Daeniken gab ihm einen groben Überblick über die Ermittlungen in den Fällen Lammers und Blitz - ihre Ermordung, den Plastiksprengstoff, den sie in der Garage von Blitz gefunden hatten, und ihre Verbindung zum Terroristen Walid Gassan. Er achtete indes sorgsam darauf, mit keinem Wort den drohenden Anschlag auf ein Flugzeug zu erwähnen. »Sie wurden von einer Gesellschaft finanziert, hinter der eure Tochtergesellschaft in Liechtenstein steht. Ein Unternehmen mit Namen ›Excelsior Trust‹.«
»Hast du eine Vorstellung davon, wie viele Gesetze ich brechen muss, um Informationen über meine Klienten preiszugeben?«
»Wenn es dir lieber ist, bitte ich Alphons Marti um einen Durchsuchungsbeschluss.«
Tingeli tat die versteckte Drohung mit einer Handbewegung ab. »Vergiss einmal die Regeln. Ich gehe jede Wette ein, dass irgendwelche Anwälte hinter dem Trust stehen. Das sind diejenigen, die über alles Bescheid wissen. An die solltest du dich wenden.«
»Nenn mir ihre Namen, und du bist mich wieder los. Soweit ich weiß, muss ein Trust eine bestimmte Anzahl von Direktoren vorweisen. Ihre Namen finden sich bestimmt auf den entsprechenden Dokumenten.«
Tingeli schenkte ihm ein umwerfendes Lächeln. »Ich würde dir ja gerne helfen, aber falls durchsickert, dass wir mit der Regierung zusammenarbeiten, steht unser Unternehmen vor dem Ruin.«
Von Daeniken blickte sich im Raum um. Das Zimmer war minimalistisch möbliert. Alle Aufmerksamkeit wurde dadurch auf die Wände gelenkt. Rechts von ihm hing ein riesiges Ölgemälde, irgendein abstrakter Psycho-Albtraum, der zweifellos seine zehn oder zwanzig Millionen Franken wert war. Doch das war vergleichsweise billig gemessen an dem Paul Klee, der an der gegenüberliegenden Wand hing. Im letzten Jahr hatte ein Klee-Gemälde die höchste Summe erzielt, die je bei einer Auktion für ein Bild geboten worden war: gut einhundertdreißig Millionen Dollar. Mit anderen Worten: Tingeli konnte es sich leisten, ein oder zwei Klienten zu verlieren. Er würde trotzdem noch zu den reichsten Männern Europas zählen.
»Ich muss dir sagen, dass das hier keine Bitte um Amtshilfe ist. Es ist vielmehr ein Befehl. Morgen früh will ich als erstes sämtliche Unterlagen auf meinem Schreibtisch haben, die du über diesen ominösen Trust hast. Die Namen der Anwälte, Direktoren, einfach alles.«
»Die Regierung hat nicht das Recht, mir auch nur das Geringste zu befehlen.«
»Wer redet denn hier von der Regierung?«
»Komm schon, Marcus. Niemand interessiert sich mehr für die Vergangenheit. Der Krieg ist schon seit siebzig Jahren vorbei. Die Leute erinnern sich kaum noch an Hitler, geschweige denn an die Nazis. Außerdem haben wir unsere Schuld beglichen. Eine Milliarde Dollar stimmt die Betroffenen schon sehr milde.«
Von Daenikens Arbeit bei der Holocaust-Kommission hatte zum Teil darin bestanden, detailliert aufzuschlüsseln, wie stark die Schweizer Banken und das Wirtschafts- und Verwaltungsbüro der SS, also die Agentur, die mit den Finanzgeschäften des Dritten Reiches beauftragt worden war, miteinander kollaboriert hatten. Wenn die Schweizer Banken nach dem Krieg ihre Zahlungen an die Überlebenden zurückgehalten hatten, konnte sich die Mehrheit von ihnen mit gutem Gewissen darauf berufen, lediglich ihre von alters her geltenden Regeln zur Sicherung der Privatsphäre und Unantastbarkeit der Kundenkonten befolgt zu haben. Die gleichen Regeln, die den Erben der verstorbenen Klienten den Zugriff auf das Geld verweigerten, hatten auch Leuten mit weniger Skrupeln den Zugriff darauf verweigert - so zum Beispiel jener hartnäckigen Armee deutscher Offiziere, die mit dem Auftrag in die Schweiz geschickt worden waren, das Vermögen der inhaftierten und dem Tode geweihten Juden den gierigen Fingern der Bankiers zu entreißen.
Eine Bank indes hatte sich nicht so streng an diese eherne Regel gehalten. Nicht nur hatte die Tingeli Bank mit den Deutschen kooperiert und Millionen Franken aus dem Besitz der rechtmäßigen (jüdischen) Kunden ins Dritte Reich transferiert, sie hatte den SS-Offizieren zudem ein hausinternes Büro eingerichtet, von dem aus sie die Konten systematisch geplündert hatten.
All das und mehr hatte von Daeniken im Rahmen seiner Untersuchung ausgegraben, einschließlich eines Fotos von Tobi Tingelis Großvater in Begleitung von Hermann Göring, Joseph Goebbels und Adolf Hitler. Auf dem Foto trug der alte Tingeli die schwarze Uniform eines SS-Offiziers vom Rang eines Standartenführers oder Oberst.
Die Veröffentlichung der skandalösen Entdeckung wurde jedoch bereits im Keim erstickt. Als Gegenleistung für das Stillschweigen der Kommission hatte die Tingeli Bank eine Milliarde Dollar an die Stiftung für die Überlebenden gespendet. Fall abgeschlossen.
»Du hast Recht«, sagte von Daeniken. »Der Krieg ist Schnee von gestern. Hier geht es jedoch um etwas Aktuelles.« Er zog einen Umschlag aus seiner Tasche und reichte ihn dem Bankier. Tobi Tingeli öffnete ihn. In dem Umschlag steckten Fotos. Nicht Bilder irgendwelcher alten Nazifreunde aus längst vergangenen Zeiten, und doch etwas gleichermaßen Skandalöses.
»Wo hast du die her?« Alle Farbe war aus Tingelis Gesicht gewichen.
»Meine Aufgabe besteht darin, Extremisten zu überwachen. Ich würde sagen, dass das, was auf diesen Bildern zu sehen ist, durchaus in diesen Bereich fällt. Kein politischer Extremismus, aber nichtsdestotrotz ein ziemlich befremdliches Verhalten. Weißt du, Tobi, ich kann dich nicht besonders gut leiden. Auch deinen Vater kann ich nicht ausstehen. Ihr habt euch schon viel zu lange eine weiße Weste erkauft. Ich hab dich nicht aus den Augen gelassen. Ich wusste immer, dass du ein abartiger Zeitgenosse bist. Ich wusste nur nicht, wie abartig du tatsächlich bist.«
Im Umschlag steckten nur zwei Bilder, aber das war mehr als genug. Auf dem ersten Bild stand Tobi Tingeli im SS-Waffenrock seines Großvaters an der Bar in einem abgedunkelten Raum. Die Totenkopfmütze saß leicht schräg und verwegen auf seinem Kopf. Ansonsten trug er nichts. Keine Hosen. Keine Socken. Keine Schuhe. In der einen Hand hielt er sein erigiertes Glied, in der anderen eine Reitgerte, mit der er auf den haarigen weißen Hintern eines Mannes eindrosch, der gebückt neben ihm stand.
Das zweite Bild war noch bizarrer, falls das überhaupt noch möglich war. Tingeli kniete auf dem Boden. Er war von Kopf bis Fuß in einen schwarzen Latexanzug gekleidet, in dem es lediglich Schlitze für Augen, Nase und Mund gab. Seine Hände waren mit Handschellen hinter dem Rücken gefesselt, sein Kopf zwischen den Beinen einer Frau vergraben. Zwar konnte man sein Gesicht nicht erkennen, doch der große goldene Siegelring mit dem Familienwappen an seiner rechten Hand war nicht zu übersehen. Die Undercoverbeamten hatten monatelang Tränen über dieses Bild gelacht.
»Wohl kaum die Art von Publicity, die euer Aktiengeschäft ankurbeln würde, meinst du nicht? Ich könnte mir denken, die Skandalblätter würden sich um diese Fotos reißen. Wenn mir der Sinn danach steht, könnte ich mir damit eine beachtliche Pension sichern. Was denkst du, was würden sie mir wohl für diese Bilder zahlen? Hunderttausend? Das Doppelte?«
Tingeli schleuderte die Fotos auf den Couchtisch. »Du Scheißkerl.«
»Worauf du dich verlassen kannst.«
Tingeli erhob sich. »Ich liefere dir die Namen bis morgen früh. Aber dafür will ich die Bilder.«
»Abgemacht.« Von Daeniken ging zur Haustür. »Du solltest aber nie vergessen, dass ich jederzeit für Nachschub sorgen kann.«