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Milli Brandt folgte mit zügigen Schritten dem verschneiten Weg, den zu beiden Seiten hohe, getrimmte Hecken säumten. In besseren Tagen hatte sie es genossen, die Gärten von Schloss Schönbrunn zu besichtigen. Die makellos gepflegte Anlage, die sich über mehr als anderthalb Kilometer in beide Richtungen erstreckte, zeugte von einer früheren Ära, in der das Königshaus uneingeschränkte Macht besessen hatte. Auf Gedeih und Verderb.
Kurz nach ihrer Ankunft aus Israel hatte sie die Schlossgärten zum ersten Mal besichtigt. Zusammen mit ihren Eltern und ihrer Schwester hatte sie den Tag damit verbracht, vom einen Ende der Anlage bis zum anderen zu flanieren und den Hügel bis zur Gloriette, der gewaltigen Kolonnade, die Kaiser Joseph und seine Frau Maria Theresa 1775 errichtet hatten, hinaufzuklettern. Schon damals waren sie und ihre Schwester sehr ehrgeizig gewesen. Milli hatte davon geträumt, eine berühmte Richterin zu sein. Tovah wollte eine Karriere als Diplomatin einschlagen. Dabei war es Tovah eher gelungen, ihre Ziele zu verwirklichen. Im Alter von fünfundzwanzig war sie nach Jerusalem zurückgekehrt und Pressesprecherin des israelischen Auslandsministeriums geworden. Fortan war die verheiratete Frau und Mutter einer Tochter im Babyalter regelmäßig in den Abendnachrichten zu sehen gewesen.
Eines Abends waren Tovah und ihr Mann nach Tel Aviv gefahren, um in einem der edlen Restaurants an der Küste Fisch zu essen. Sie war in Feierlaune gewesen. Zu Beginn der Woche hatte der Arzt ihr mitgeteilt, dass sie mit ihrem zweiten Kind schwanger war.
In dem Bewusstsein, dass es vielleicht für längere Zeit ihre letzte Gelegenheit sein würde, hatte sich das Paar entschlossen, im Teddy ‘Z, einer Diskothek unter freiem Himmel, tanzen zu gehen. Etwa gegen Mitternacht hatte ein braun gebrannter, gutaussehender junger Mann mit Namen Nasser Brimm die Disko betreten und sich einen Weg bis zur Mitte der Tanzfläche gebahnt. Bevor irgendjemand sich darüber hatte wundern können, dass sein Wollblazer an diesem schwülen Frühlingsabend völlig fehl am Platz war, war es bereits zu spät.
Die Polizei ging später davon aus, dass Tovah direkt neben dem Selbstmordattentäter gestanden haben musste, als er seinen Sprengstoffgürtel mit C-4-Plastiksprengstoff zündete, der mit Nägeln, Schraubenmuttern und Bolzen versetzt worden war. Ihr Kopf, der seltsam unversehrt aussah, war das Einzige, was man von ihr gefunden hatte.
Das Attentat hatte sechzehn Todesopfer gefordert, alles junge Männer und Frauen. Zwei Personen verloren das Augenlicht, eine dritte beide Arme. Eine vierte war von diesem Tage an vom Nacken abwärts gelähmt. Tatsächlich hatte es noch mehr Opfer gegeben. Niemand hatte das ungeborene Kind mitgezählt, das in Tovahs Bauch heranwuchs.
»Fräulein Brandt.«
Beim Klang der tiefen Stimme mit Akzent fuhr Milli herum. Ein schlanker, kultiviert wirkender Mann stand ein paar Schritte hinter ihr und lächelte sie an. Sie hatte ihn nicht kommen hören. »Herr Katz?«
»Ich sehe, dass Sie die Zeitung dabeihaben. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie unseren Anweisungen gefolgt sind.«
Der Mann hakte sich bei ihr ein, und sie schlenderten wie Mann und Frau durch die menschenleeren Gärten. Während sie gingen, berichtete Milli ihm von dem außerordentlichen Meeting vor den Toren Wiens und den Funden, mit denen Mohammed el-Baradei sie konfrontiert hatte.
»Auf sechsundneunzig Prozent angereichert. Sind Sie sich absolut sicher?«
Milli bejahte es.
»Und wie hoch ist die Chance, dass die Messungen fehlerhaft sind?«
»Es wäre das erste Mal. Es tut mir leid, dass ich Ihnen diese Nachrichten überbringen muss. Ich dachte, es wäre meine Pflicht.«
»›Jedes Untertanen Pflicht gehört dem König, jedes Untertanen Seele ist sein Eigen!‹ Zwar dürfte ich mit meiner Meinung ziemlich allein dastehen, aber ich bin davon überzeugt, dass Shakespeare ein Jude war.« Er lächelte schüchtern, als er stehen blieb und sich ihr zuwandte. »Niemand ist glücklich darüber, das Vertrauen, das in ihn gesetzt wurde, enttäuschen zu müssen.«
Milli sah der großen, schlanken Gestalt nach, bis sie zwischen den schneebedeckten Formschnittgewächsen verschwand. Sie hatte erwartet, dass er ihr versichern würde, das Richtige getan zu haben. Hatte von ihm hören wollen, dass sofort alles Notwendige in die Wege geleitet würde und dass sie das Leben von Tausenden gerettet hatte, doch er hatte nichts dergleichen gesagt.
Stattdessen hatte er sie einfach nur darum gebeten, die ihr bekannte Nummer erneut anzurufen, falls sie weitere wichtige Informationen erhalten würde. Er hatte sich nicht einmal bei ihr bedankt.