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Der Pilot strich mit der Hand über die Tragflächen des Flugzeugs, während er vor dem Abflug noch einmal alles routinemäßig überprüfte. Die Gastanks waren voll. Das Frostschutzmittel aufgetragen. Der Vogel war startklar. Er lief die Rollbahn ab und kickte loses Felsgestein aus dem Weg.

Heute stand der letzte Testflug an. Alles musste genauso ablaufen wie am entscheidenden Tag selbst. Ständige Wiederholung führte zu Präzision, und Präzision führte zum Erfolg. Er hatte diese Regeln auf die harte Tour gelernt - sein Körper war gezeichnet von den Folgen seiner Leichtfertigkeit. Er ging zurück zum Flugzeug und klopfte zweimal auf den Flügel, was ihm Glück bringen sollte.

Viele Jahre waren seit seinem letzten Kampfeinsatz vergangen. Damals war er jung, waghalsig und gutaussehend gewesen. Ein Trinker. Ein Frauenheld. Ein Mann, der gern einen Bogen um den Pfad der Gerechten gemacht hatte. Er erhaschte einen Blick auf sein Spiegelbild. Er war nicht mehr jung und nicht mehr waghalsig. Und bei Gott, er war auch schon lange nicht mehr gutaussehend. Er konnte sich nicht im Spiegel betrachten, ohne sich zu erinnern. Die Bilder dieses gottverlassenen Ortes schlummerten nicht weit unter der Oberfläche, ein ewig lauerndes Schreckgespenst aus Angst, Schuld und Feuer.

Er dachte an die Nacht in der Wüste. Die gute Laune, die Siegeserwartung, die Gewissheit, dass Gott auf ihrer Seite kämpfte. Auf der Seite derer, die Ihm die Treue hielten. Er hörte ihre Stimmen. Die Stimmen seiner Freunde. Kameraden. Brüder.

Und dann plötzlich - der Einschlag. Eine gewaltige Wolke aus alles verschlingendem Sand, der vom Wüstenboden aus anderthalb Kilometer in die Luft geschleudert wurde, sie alle unter sich begrub und Chaos, Zerstörung und Schlimmeres über sie brachte.

Der Einsatz endete in einem Flammenmeer. Acht Männer starben im Feuer. Fünf wurden lebensbedrohlich verletzt. Er war einer von ihnen - siebzig Prozent seiner Körperoberfläche waren durch Verbrennungen dritten Grades zerstört worden.

In den folgenden Tagen - lange Tage voller Schmerzen und Zweifel - war er zu dem Schluss gekommen, dass er aus einem bestimmten Grund überlebt hatte. Er hatte eine zweite Chance erhalten. Die zurückgebliebenen Narben sollten ihn daran erinnern. Sie gemahnten ihn daran, seinen unumstößlichen Gehorsam allein auf Ihn zu richten. Der Allmächtige mochte ihm seine körperlichen Vorzüge genommen haben, doch Er hatte seinen Geist wachgerüttelt. Er hatte ihn einen Blick ins Tal des Todes werfen lassen und zu ihm gesprochen. All das war aus einem bestimmten Grund geschehen, und dieser Grund stand nun unmittelbar bevor.

Der Pilot brannte für den Gerechten, lebte allein für den Tag Seiner Wiederkunft.

Im Vorbereitungsraum versammelte er die Crewmitglieder. Alle fassten sich an den Händen.

»Allmächtiger Gott, ich bitte Dich, uns Deinen letzten Boten schon sehr bald zu schicken, den Prophezeiten, den Unfehlbaren und Reinen - den Einen, der dieser Welt Gerechtigkeit und Frieden bringen wird.«

Der Kreis löste sich auf. Jeder ging auf seinen Posten, und der Pilot glitt auf seinen Sitz.

Beim Anblick der Flugzeugsteuerung überfiel ihn eine gewisse Beklommenheit. Vieles hatte sich seit seinem letzten Kampfeinsatz geändert. Man saß nicht länger vor einer Reihe aus Messgeräten und Instrumenten, sondern hatte nun eine Wand aus sechs Flatscreens vor sich, auf denen die wichtigsten Funktionen des Flugzeugs abzulesen waren. Er beugte sich auf seinem Sitz vor und verschaffte sich einen Überblick. Seine Hand umfasste den Steuerknüppel, und er wartete einen Moment, bis er ein Gefühl für ihn entwickelt hatte.

»Systemcheck abgeschlossen«, sagte einer der Techniker. »Bodenkontakt hergestellt. Satellitenverbindung steht. Video einsatzbereit.«

»Roger.« Der Pilot startete den Motor. Die Lichter auf dem Kontrollfeld leuchteten grün. Das einfache Williams-Mantelstromtriebwerk fuhr gleichmäßig hoch, während er die Vorflugkontrolle durchführte.

Es war zwei Uhr morgens. Um ihn herum herrschte tiefschwarze Nacht. Nicht ein Licht brannte in dem hochgelegenen Alpental, wo der Test stattfand. Der Pilot hielt die Augen fest auf den Monitor in der Mitte des Kontrollfeldes gerichtet - eine Infrarotkamera übertrug nun ein körniges grünliches Bild von der Landebahn. Es war, als ob man die Welt durch einen Strohhalm betrachtete.

»Bitte um Starterlaubnis.«

»Erlaubnis erteilt. Guten Flug. Gott ist groß.«

Der Pilot bediente den Gashebel, dann löste er die Bremse, und das Flugzeug rollte über die Piste. Als es eine Geschwindigkeit von hundert Knoten erreicht hatte, betätigte er den Sidestick, und die Maschine hob vom Boden ab.

Der Pilot studierte das Bodenradar. Das Tal war von Bergen umgeben, von denen einige höher als viertausend Meter waren. Der Ort war nicht ideal, doch er hatte einen entscheidenden Vorteil: Abgeschiedenheit. Er beschleunigte auf zweihundertfünfzig Knoten und stellte die Querruder ein. Das Flugzeug ließ sich gut bedienen und reagierte ohne große Verzögerung. Es neigte sich nach rechts, und er beugte sich unwillkürlich in die gleiche Richtung.

»Test 1 abgeschlossen«, sagte er, nachdem er in einem Bogen über das Tal geflogen war.

Der Pilot studierte erneut das Radar. Nach einem kurzen Moment erschien ein Blinksignal. Das Zielobjekt befand sich in sechs Kilometern Entfernung und gewann an Höhe. Er drückte den Kontaktschalter und markierte das Blinksignal mit »Alpha 1«. Der Bordcomputer zeichnete eine direkte Route zum Zielobjekt.

»Beginne mit Verfolgung des Zielobjekts. Kontakt in zwei Minuten und zehn Sekunden.«

»Countdown: zwei Minuten und zehn«, kam die Antwort aus dem Kontrollzentrum.

Der Pilot brachte das Flugzeug in Linie mit dem Zielobjekt. Das Blinksignal rückte in die Mitte des Monitors. Es war nur noch einen Kilometer entfernt und befand sich zweihundert Meter unter ihm. In diesem Moment tauchte die Maschine in eine Wolkendecke ein. Der Sichtkontakt brach ab. Er überprüfte einen zweiten Monitor, auf dem ein Infrarotbild zu sehen war. Es war kein Wärmesignal zu erkennen. Ein gewaltiger Windstoß drückte die Flugzeugspitze nach unten. Ein Summer ertönte. Das Warnsignal, das beim Abreißen der Luftströmung ausgelöst wurde. Ein Anflug von Panik durchfuhr ihn. Es war wie damals in jener Nacht in der Wüste, und plötzlich hatte er das Gefühl, als würde er gleich wieder eine böse Überraschung erleben.

Verlass dich auf deine Instrumente. Grundregel Nummer eins für Piloten.

Er erinnerte sich an den Zusammenstoß. Das Flugzeugbenzin, das über seinen Körper spritzte und seinen Kopiloten in eine menschliche Fackel verwandelte. Der furchtbare Gestank von brennendem Fleisch. Seinem Fleisch.

Verlass dich auf deine Instrumente.

Dieses Mal redete eine andere Stimme auf ihn ein. Eine ruhige, unanfechtbare Stimme. Verlass dich auf mich, sagte sie.

Er betätigte den Sidestick und schob den Gashebel vorwärts. Luftgeschwindigkeit dreihundert Knoten. Die Flugzeugnase richtete sich auf. Plötzlich tauchte er wieder aus den Wolken auf; über ihm funkelten die Sterne. Sein Pulsschlag beruhigte sich, aber er spürte, wie ihm der Schweiß den Rücken hinunterlief.

Er konzentrierte sich erneut auf das Zielobjekt. In fünfhundert Metern Entfernung öffnete er den Waffenschacht. Wie die Umrisse eines großen Wals tauchte das Zielobjekt in seinem Sichtfeld auf. Er beschleunigte und näherte sich zum alles entscheidenden Luftschlag.

Drei … zwei … eins.

Er traf das Ziel. Das Blinksignal mit Namen »Alpha 1« verschwand von seinem Bildschirm.

»Volltreffer. Zielobjekt zerstört«, verkündete die Bodenkontrollstation. »Test abgeschlossen.«

Die Crew brach in Jubelrufe aus. Dieses Mal war das Zielobjekt nur eine Computersimulation gewesen.

Der Pilot drehte eine Schleife über dem Tal und setzte zu einer weichen Landung an. Nachdem er aus dem Cockpit geklettert war, durchquerte er den Kontrollraum und zog die Vorhänge eines großen Panoramafensters beiseite. Draußen auf der Rollbahn stand die Drohne, die er vom Boden aus ferngesteuert hatte. Eine Gruppe Männer umringte das unbemannte Luftfahrzeug, um es wieder auseinanderzubauen.

Der Pilot senkte den Blick und sprach ein Dankgebet.

Beim nächsten Mal würde es sich nicht um eine Simulation handeln.

Reich, Christopher
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