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»Ich habe ihn«, raunte Simone Noiret in ihr Handy. »Wir treffen uns an der verabredeten Stelle.«
Sie beendete das Telefonat und schaltete das Radio leiser. »Alles in Ordnung bei dir, Jon?«, rief sie über ihre Schulter. »Kannst du mich hören?«
Sie vernahm eine gedämpfte Antwort und zwei Klopfzeichen. Der Kofferraum war vielleicht eng und unbequem, aber für die kurze Fahrt war Jonathan ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Schließlich hatte sie nicht vor, ihn bis nach Zürich zu bringen.
Seit zwei Jahren war Simone Noiret mit der Aufgabe betraut, Division zu infiltrieren. Es war schon ein komisches Gefühl, gegen das eigene Land zu arbeiten, aber die Welt war nun mal ein komischer Ort. Eine Rivalität zwischen zwei Organisationen konnte ebenso groß sein wie die Rivalität zwischen zwei verfeindeten Nationen.
Simone war als Tochter einer französisch-algerischen Mutter und eines ägyptischen Vaters unter dem Namen Fatima Francoise Nasser in Queens, New York, geboren worden. Solange sie denken konnte, hatte sich in ihrer Kindheit und Jugend alles nur ums Geld gedreht, oder besser gesagt um das fehlende Geld. Ihr Vater war ein notorischer Geizhals gewesen. Wenn sie daran dachte, wie sie ihn hatte anlügen und täuschen müssen, um ihm auch nur eine Zehndollarnote abzuschwatzen, brach ihr noch jetzt der Schweiß aus. Mit achtzehn Jahren war sie zur Armee gegangen, weil ihr Bruder es genauso gemacht hatte. Ihre Fremdsprachenkenntnisse hatten sie zum Geheimdienst gebracht. Neben Französisch, Arabisch und Englisch sprach sie auch Farsi. Sie wurde im Fort Huachuca, Arizona, und dem Sprachinstitut des militärischen Verteidigungsdienstes in Monterrey ausgebildet und anschließend in Deutschland stationiert. Sie war bis in den E-5-Rang aufgestiegen, bevor sie dem Militär den Rücken zugekehrt hatte. Mit dem angesparten Geld und der finanziellen Unterstützung durch die Armee hatte sie die Universität in Princeton besucht und einen Abschluss mit Auszeichnung im Studiengang Orientalistik erworben.
Knapp einen Monat später hatte sie einen Anruf erhalten und war zu einem Treffen mit einem CIA-Beamten nach Manhattan eingeladen worden. Man war sofort zur Sache gekommen und hatte ihr mitgeteilt, dass die Abteilung für besondere Operationen sie seit ihrer Armeezeit nicht aus den Augen gelassen hatte. Und dann hatte man ihr einen Überseejob angeboten. Es war schlicht und einfach um Spionage gegangen. Nicht um die Art von Spionage, die man aus Buch und Film kannte, sondern um die »real existierende« Spionage. Zunächst sollte sie eine Grundausbildung auf der Farm, dem CIA-Ausbildungslager bei Williamsburg, Virginia, absolvieren. Wenn sie diese bestand, sollte sie eine weiterführende Ausbildung zur Geheimagentin abschließen. Man gab ihr vierundzwanzig Stunden Zeit, sich die Sache zu überlegen. Simone hatte sofort zugesagt.
Das war vor elf Jahren gewesen.
Und dann hatte Admiral Lafever, der stellvertretende Direktor der Abteilung für besondere Operationen, sie für seinen privaten Feldzug gegen Division rekrutiert. Eine persönliche Anfrage von ihm konnte man nicht einfach ablehnen, und außerdem war sie erpicht auf eine neue Herausforderung gewesen. All ihre Unterlagen bei der CIA waren daraufhin gelöscht worden. Sie erhielt eine Tarnidentität: Aus ihr wurde eine umherziehende Lehrerin, die sich nahtlos ins Rudel all jener Europäer einfügte, die rund um die Welt an diversen amerikanischen Schulen eingesetzt wurden. Die Anstellung ihres Ehemanns bei der Weltbank bot ihr zudem eine perfekte Tarnung.
Simone wurde einen Monat vor Emma nach Beirut versetzt. Um sich mit ihr anzufreunden, half sie Emma dabei, sichere und billige Immobilien für die Medizinstationen von Ärzte ohne Grenzen zu beschaffen, die Emma als Tarnung dienten. Es war nicht schwer gewesen, sich mit Emma anzufreunden. Schließlich gab es zwischen den beiden Frauen viele Gemeinsamkeiten. Sie waren vom gleichen Schlag, und es dauerte nicht lange, bis sie täglich miteinander zu tun hatten.
Von da an hatte Simone nur noch geduldig abwarten und beobachten müssen.
Nacheinander enttarnte sie alle Mitglieder aus Emmas Netzwerk, allerdings nicht früh genug, um den Bombenanschlag im Krankenhaus zu verhindern, bei dem der libanesische Polizeiinspektor, der die Ermittlungen im Mordfall an dem ehemaligen libanesischen Premierminister leitete, ums Leben kam.
In Genf setzte Simone ihre Arbeit fort. Erst vor einem Monat hatte sie Theo Lammers als ein Mitglied aus Emmas Netzwerk enttarnt und die Information an Lafever weitergeleitet. Diesmal hatte Lafever nicht gezögert, etwas zu unternehmen. Sie hatte immer gewusst, dass ihre Informationen irgendwann zur Liquidierung von Menschen führen würden. Das hatte zu ihren Jobs einfach dazugehört. Sie fragte sich manchmal, ob Lafever auch Emma getötet hatte.
Simone passierte die beiden Straßensperren ohne weitere Zwischenfälle und zeigte den Beamten an den Checkpoints ihren Ausweis. Jedes Mal blickte sie den Polizisten dabei tief in die Augen, und zwar nicht ganz so respektvoll, wie es sich eigentlich gehört hätte. Und beide Male ließ man sie schnell passieren.
Statt an der Kreuzung Richtung Autobahn abzubiegen, um westlich in Richtung Landquart und weiter nach Zürich zu fahren, lenkte sie den Wagen nach Osten und fuhr tiefer ins Tal hinein. Sie bog oft genug ab, um sicherzustellen, dass Jonathan nicht mitbekommen würde, in welche Richtung sie fuhren. Und selbst wenn er Verdacht schöpfen sollte, hatte er keine Chance, etwas dagegen zu unternehmen. Der Kofferraum war fest verschlossen.
Er würde nirgendwo hinfahren.
Der arme Teufel.