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Gottfried Blitz scheuchte seine drei Dackel ins Haus. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, blieb er mucksmäuschenstill stehen und lauschte auf alarmierende Geräusche. Die Spürnasen seiner Hunde waren effektiver als jede elektronische Alarmanlage. Im Haus herrschte völlige Stille. Er ging ins Wohnzimmer. Die Hunde hatten sich auf dem Marmorfußboden ausgestreckt und hechelten von der morgendlichen Anstrengung.
Er trat ans Fenster, zog den Vorhang zurück und warf einen Blick auf die Straße. Sie war menschenleer. Keine Spur von dem Wanderer, mit dem er eben noch gesprochen hatte. Blitz hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, seine Mitmenschen genau zu beobachten, und er wusste, dass der blasse, schmächtige Mann kein Nachbar gewesen war. Er hatte gut Italienisch gesprochen, war jedoch kein Muttersprachler gewesen. Aber wer war er dann? Ein Tourist, der die umliegenden Hügel erklimmen wollte? Bei diesem Wetter? Und warum war er in diesem Fall nicht auf einen der Wege abgebogen, die direkt am Ende der Straße begannen?
Blitz starrte in den sich verdunkelnden Himmel. Es war noch nicht einmal neun Uhr, und der Tag neigte sich schon dem Ende zu. Regen setzte ein. Er lauschte auf die Tropfen, die immer stärker gegen die Fensterscheibe prasselten. Mit einem Schaudern ließ er den Vorhang wieder zurückgleiten.
Lammers’ Tod hatte ihn in Angst und Schrecken versetzt. In den Zeitungen hatte gestanden, dass der Mörder vor seinem Haus auf ihn gewartet hatte. Man ging davon aus, dass der Mord das Werk eines Profikillers und Lammers in irgendwelche Machenschaften des organisierten Verbrechens verstrickt gewesen war. Blitz jedoch wusste es besser. Und er wusste auch, dass, wenn Lammers auf der Abschussliste gestanden hatte, es nur eine Frage der Zeit war, bis er selbst ebenfalls ins Fadenkreuz geriet.
Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte er seine Zelte abgebrochen und alles stehen und liegen lassen. Denn er, Gottfried Blitz, befand sich in Lebensgefahr.
Doch das hier war eine Ausnahmesituation.
Das Endspiel hatte begonnen. Der Pilot war im Land. Der Abschlusstest mit der Drohne war ein voller Erfolg gewesen. Die Operation hatte inzwischen Stufe rot erreicht - das Zeichen zum Angriff. Kurz: Das Projekt war in vollem Gange.
Und dann dieses Chaos in Landquart. Ein Mann tot, der andere verletzt.
Blitz kaute auf seiner Unterlippe. Er war nicht glücklich über die Idee gewesen, die Gepäckstücke mit dem Zug zu verschicken, doch am Ende war ihm nichts anderes übrig geblieben. Es war nicht nur eine Frage des verfügbaren Personals gewesen (die Abteilung hatte nur sieben Leute im Land gehabt), sondern auch eine Frage der Risikoabwägung. Es wäre zu jenem Zeitpunkt einfach zu gefährlich gewesen, die Gepäckstücke persönlich zu übergeben. Auf das Schweizer Postsystem zurückgreifen zu müssen war eine Sache gewesen, doch inzwischen war ihm klar geworden, dass es ein Fehler gewesen war, seinen Namen auf den Quittungsbelegen zu hinterlassen. Die Finanzabteilung hatte darauf bestanden. Es galt zu vermeiden, dass dem Geld kein Besitzer zugeordnet werden konnte, falls etwas schieflief. Die ganze Operation hing mit davon ab. Das Geld sei der Schlüssel, hatte man ihm gesagt. Es wäre das Erste, was sie überprüften. Eine Spur aus Brotkrumen auf dem Weg, das war die Absicht dahinter. Man musste die Polizei mit der Nase draufstoßen, wenn man wollte, dass sie etwas fand. Und alle Spuren führten zu ihm.
Trotzdem konnte er den Gedanken an Theo Lammers einfach nicht abschütteln. Das Werk eines Profikillers. Jemand, der ihm vor seinem Haus aufgelauert hatte. Er fröstelte. Das konnte nur eins bedeuten: Das Netzwerk hatte ein Leck.
Er schaltete die Stereoanlage im Wohnzimmer an. Wagner, wie immer. Gerade laut genug, um die Nachbarn wissen zu lassen, dass er zu Hause und es ein Tag wie jeder andere war.
Freunde und Nachbarn kannten Gottfried Blitz als einen wohlhabenden deutschen Geschäftsmann, der wie viele andere in die Südschweiz ausgewandert war - wegen des milden Klimas und der mediterranen Atmosphäre. Er fuhr das neueste Mercedes-Sedan-Modell. Einmal im Jahr pilgerte er anlässlich der Ring-Aufführung nach Bayreuth. Jeden Sonntagmorgen ging der brave Herr Blitz zum evangelischen Gottesdienst, so wie jeder gute Christ. Mit anderen Worten: Seine Tarnung war perfekt.
Er ging in sein Arbeitszimmer, setzte sich an den Schreibtisch und nahm die Pistole aus dem Halfter, das er um seine Taille gebunden hatte. Er steckte die Waffe in die oberste Schublade, schaltete seinen Laptop ein und überprüfte seine Checkliste. Neuer Bogner-Pullover für P. J. WEF-Darlehen für H. H. 100 k bar Zustellung. Er stieß einen leisen Pfiff aus. Weitere einhunderttausend Franken. Das würde den Jungs aus der Finanzabteilung bestimmt nicht gefallen. Andererseits waren das Peanuts verglichen mit dem, was bereits ausgegeben worden war. Zweihundert Millionen Franken, um die Kontrolle über die Firma in Zug zu erhalten. Weitere sechzig Millionen für den Materialexport. Allein die Zahlungen an P. J. beliefen sich schon auf zwanzig Millionen Franken, und darin war noch nicht mal der Mercedes mit der Spezialausstattung eingeschlossen.
Er schloss die schriftliche Anfrage für den Geldtransfer und mailte sie an die Finanzabteilung. In diesem Moment stutzte er und drehte den Kopf in Richtung Tür. Gleichzeitig richteten sich auf seinen Armen die Haare auf.
»Hallo?«, rief er. »Ist da jemand?«
Er erhielt keine Antwort. Überhaupt war das Haus viel zu still. Warum hörte er kein Bellen, das die Ankunft eines Besuchers ankündigte?
»Gretel? Isolde?«, rief er nach seinen Hunden.
Er straffte sich, lauschte angestrengt auf das kratzende Geräusch ihrer Pfoten auf dem Marmorfußboden. Aus dem Wohnzimmer drang noch immer Wagner durchs Haus. Das Donnern der Kesselpauken grollte wie ein herannahendes Gewitter zu ihm herüber. Das Wehklagen einer teutonischen Maid, die ihren bezwungenen Helden betrauert.
Wo waren die Hunde?
Etwas hinter ihm regte sich. Ein Schatten, dunkel und kalt.
Eine Sirene in seinem Kopf schlug Alarm.
Blitz sah auf die Schublade, in der seine Waffe lag, und dann auf seinen Computer.
Entscheide dich.
Dreißig Jahre Training gewannen die Oberhand. Die Mission stand an erster Stelle. Er schob die Finger über die Tastatur und tippte das »destroy«-Kommando ein, das den Inhalt der Laptopfestplatte zerstörte.
Da spürte er einen Luftzug hinter sich. Etwas Kaltes und Hartes wurde gegen seine Schläfe gepresst.
Und dann sah er nur noch Licht. Ein Gewitter aus höllischen Farben, das nur einen Wimperschlag lang andauerte und dem nichts mehr folgte.