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Der Landrover raste auf seinem Weg aus Zürich die Seestraße hinunter.
Hinter dem Steuer saß ein einsamer Mann. Bartstoppeln bedeckten seine Wangen, unter den Augen zeigten sich dunkle Augenringe. Vierundzwanzig Stunden war er schon unterwegs. Er sehnte sich nach einer Mahlzeit, einer Dusche und einem Bett. Doch all das würde warten müssen. Zuvor hatte er noch einen Job zu erledigen.
Er öffnete das Handschuhfach, holte eine Pistole mit Schalldämpfer heraus und legte sie auf den Sitz neben sich. Dann blickte er aus dem Fenster über den See. Schaumkronen blitzten in der Dunkelheit auf. In einiger Entfernung hüpften die Lichter eines großen Schiffes besorgniserregend auf und ab. Keine gute Nacht für einen Ausflug auf dem Wasser.
An der nächsten Ampel bog er ab und lenkte den Wagen eine kurvenreiche Straße hinauf. Der fallende Schnee behinderte seine Sicht, doch er verlangsamte seine Fahrt nicht. Er kannte die Strecke. Er war sie am frühen Abend schon einmal abgefahren. Er hatte Karten von der Umgebung studiert und sich die Zugangsstraßen und die Fluchtwege eingeprägt.
Mit einem waghalsigen Beschleunigungsmanöver gelangte er auf eine Anhöhe. Große, gepflegte Häuser säumten die Straße. Das östliche Ufer des Zürichsees war wegen der von morgens bis abends anhaltend sonnigen Lage und seiner wohlhabenden Bewohner unter dem Namen »Goldküste« bekannt. Beim Anblick des Hauses seiner Zielperson drosselte der Mann das Tempo. Das im Stil eines französischen Landsitzes errichtete Gebäude stand auf einem Hügel, ein wenig zurückversetzt von der Straße, mit verschneiten Obstbäumen zu beiden Seiten.
Nach zwanzig Metern brachte er den Wagen unter einer riesigen Kiefer zum Stehen. Er schaltete die Scheinwerfer aus und lauschte den Geräuschen des auskühlenden Motors und des Windes, der an den Wagenfenstern rüttelte. Aus seiner Jackentasche holte der Mann ein silbernes Kästchen. In ihm lagen vier Patronen. Sie hatten eine schlanke Form und ein eingeritztes X im bronzefarbenen Projektil. Er legte sie mit spitzen Fingern auf das Ablagefach. Als Nächstes nahm er die Keramikflasche, die um seinen Hals hing, und schraubte den Deckel ab. Er begann leise zu singen. Worte aus einer alten und längst vergessenen Sprache. Seiner eigenen Rechnung zufolge hatte er in seinem Leben über dreihundert Männer, Frauen und Kinder getötet. Die Worte waren eine Art Gebet, um seine Seele vor den Geistern aus der Totenwelt zu schützen. Seine zwanzigjährige Tätigkeit als Berufskiller hatte einen abergläubischen Mann aus ihm gemacht.
Nacheinander tauchte er die Patronen in die Flasche und bedeckte sie mit einer dickflüssigen, bitter riechenden Flüssigkeit. Das gehörte zu seinem Ritual. Erst das Gebet, dann die Flüssigkeit. Als Profi wusste er, dass man niemals zu viele Vorsichtsmaßnahmen ergreifen konnte. Nicht in dieser Welt und auch nicht im Hinblick auf die nächste. Er pustete einmal über jede Patrone und steckte sie dann in die Trommel, die er anschließend einmal drehte. Er vergewisserte sich, dass die Waffe gesichert war, holte einen robusten Twillbeutel aus der anderen Jackentasche und befestigte ihn an einer Stelle über der Austrittskammer.
Dann verließ er den Wagen. Mit den Augen eines eingesperrten Tieres beobachtete er die Straße. Niemand war zu sehen. Heute Nacht war das Wetter auf seiner Seite. Um halb zehn regte sich in dieser Gegend niemand mehr.
Er knöpfte sich den Mantel zu und ging zügig die Straße hinauf. Er war ein durchtrainierter Mann von durchschnittlicher Größe, mit schmalen Schultern und strähnigen schwarzen Haaren, die ihm bis auf die Schultern fielen. Seine Wangen waren eingefallen, seine Nase schmal und aristokratisch, sein Teint so blass wie der eines Toten. Aus der Ferne betrachtet wirkte er, als ob er über den Bürgersteig schweben würde. Es war die Kombination aus der totenbleichen Gesichtsfarbe und seiner fast übersinnlichen Erscheinung, die ihm seinen Decknamen eingebracht hatte: das Phantom.
Als er am Haus der Zielperson vorbeikam, konnte er ungehindert einen Blick durch das Erkerfenster direkt neben der Eingangstür werfen. Eine Frau und drei Kinder saßen zusammen auf dem Sofa und verfolgten gebannt das Abendprogramm im Fernsehen. Er hielt lange genug inne, um zu sehen, dass das jüngste Kind ein Junge war, dunkel und bleich wie er selbst, der beide Arme um seine Mutter geschlungen hielt. Sein Herz schlug schneller. In seinem Kopf regte sich die Erinnerung wie ein eingesperrter Vogel, der verzweifelt gegen ein Fenster fliegt.
Er wandte den Blick ab.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sich kein Auto aus irgendeiner Richtung näherte, übersprang er den einfachen Maschendrahtzaun vor der Wiese und versteckte sich hinter einem ordentlichen Holzstapel neben dem Haus. Dort kauerte er sich in den Schnee und wartete.
Früher einmal hatte er in einem Team gearbeitet, wenngleich nie als dessen Leiter. Er wusste, dass die Zielperson bereits im Restaurant abwechselnd von zwei Männern beschattet werden und ihr danach ein Auto nach Hause folgen sollte. Er wusste, dass eigentlich ein Fluchtteam zur Stelle sein sollte, das den Schützen zum nächstgelegenen Flughafen oder Bahnhof brachte, damit dieser auf schnellstem Wege das Land verlassen konnte. All das gehörte zur üblichen Vorgehensweise.
Doch so, wie es jetzt war, war es ihm lieber. Allein zu sein in der Dunkelheit. Ein Agent des Todes.
Er holte ein Metallkästchen hervor, legte den Kippschalter um und steckte es wieder ein. Das Kästchen sendete ein Störsignal, das den automatischen Garagentoröffner außer Funktion setzte. Die Zielperson musste somit aus dem Auto steigen, um das Garagentor von Hand zu betätigen, oder aber durch eine Seitentür die Garage betreten und das Tor von innen öffnen.
In der Ferne konnte er das Geräusch eines herannahenden starken Motors hören. Er nahm die Pistole mit dem Schalldämpfer aus der Jackentasche und konzentrierte seinen Blick auf den Teil der Straße, wo das Auto der Zielperson, ein älterer Audi A8, den Hügel hinaufkommen würde. Die Scheinwerfer durchdrangen die Nacht und wurden zunehmend heller. Mit seinem Daumen entsicherte er die Pistole.
Plötzlich tauchte das Auto auf. Als der Wagen eine Straßenlampe passierte, überprüfte er Marke und Kennzeichen. Das Auto wurde langsamer, bog in die Auffahrt ein und hielt vor der Garage an. Die Fahrertür öffnete sich. Die Zielperson stieg aus - ein großer, kräftig gebauter Mann mit rötlichem Haar und vollen Wangen. Ein fähiger Ingenieur. Und ein Familienmensch. Ein Mann mit eiserner Disziplin.
Auf diesen Moment hatte das Phantom gewartet. In drei lautlosen Schritten näherte er sich seinem Opfer.
Der Mann sah ihn an, wirkte verwirrt. Warum funktioniert das Garagentor nicht? Wer ist dieser Fremde, der so plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht ist? Das Phantom sah all diese Fragen in den Augen des Mannes, während er den Arm hob und feuerte. Drei nahezu lautlose Schüsse trafen den Mann mitten ins Gesicht. Die Patronenhülsen landeten im Twillbeutel. Die Zielperson brach auf der Auffahrt zusammen.
Das Phantom beugte sich über den Mann, drückte ihm die Mündung des Schalldämpfers auf die Brust und schoss ihm mitten ins Herz. Die Durchschlagskraft katapultierte den Körper ein Stück in die Höhe. In diesem Augenblick bemerkte das Phantom etwas Seltsames auf dem Revers des Mannes. Eine Art Anstecknadel. Er beugte sich tiefer hinunter, um es genauer in Augenschein zu nehmen.
Es war ein Schmetterling.