76

Der Beamte in der Passkontrolle am Flughafen Zürich-Kloten betrachtete die lange Schlange der gerade eingetroffenen Fluggäste. Sie waren soeben mit der Maschine aus Washington angekommen. Er überprüfte seinen Bildschirm auf Hinweise nach gesuchten Personen. Auf seinem Computer war niemand vermerkt. Er warf einen Blick auf die wartenden Menschen mit wohlgenährten Gesichtern und stattlichen Staturen. Unter ihnen war keine verdächtige Gestalt zu erkennen.

»Der Nächste, bitte«, rief er.

Ein großer, korpulenter Herr trat an die Kabine und legte seinen Pass auf den Tresen. Der Beamte öffnete den Pass und zog den Datenstreifen durch das Lesegerät. Name: Leonard Blake. Heimatstadt: Palm Beach. Geburtsdatum: 1. Januar 1955.

»Grund Ihres Aufenthaltes, Herr Blake?«

»Geschäftliche Angelegenheiten.«

Der Beamte verglich das Passfoto mit dem Gesicht des Mannes. Kurzgeschnittenes graues Haar. Braungebrannt. Ein ordentlich gestutzter Schnurrbart. Teure Sonnenbrille. Goldene Rolex. Und ein Polyestertrainingsanzug. Wann lernen diese Amis endlich, wie man sich ordentlich kleidet?

»Wie lange wollen Sie bleiben?«

»Nur einen oder zwei Tage.«

Der Beamte überprüfte seinen Bildschirm. Nichts wies darauf hin, dass Blake irgendwie verdächtig sein könnte. Nur einer jener reichen Amerikaner ohne jeglichen Sinn für Stil. Entschlossen drückte er den Stempel in den Pass. »Schönen Aufenthalt.«

»Danke sehr.«

Der Zollbeamte zuckte beim Akzent des Mannes innerlich zusammen. Er winkte der Frau zu, die nun die Schlange anführte. »Der Nächste, bitte!«

Leonard Blake holte sein Gepäck vom Transportband und ging zum Autovermietungsschalter, wo er bereits im Voraus einen mittelgroßen Sedan gemietet hatte. Nachdem er alle nötigen Papiere ausgefüllt hatte, fuhr er in die Tiefgarage und suchte das Auto. Er deponierte das Gepäck auf dem Rücksitz, setzte sich hinters Lenkrad und stellte Sitz und Spiegel ein. Währenddessen ließ er das Parkdeck nicht aus den Augen. Keine Menschenseele weit und breit. Schließlich zog er die Jacke seines Trainingsanzuges aus und entfernte das künstliche Polster, das ihn zehn Kilo schwerer und seinen Bauch zwanzig Zentimeter dicker erscheinen ließ. Endlich startete er den Wagen und fuhr aus der Tiefgarage hinaus.

Er nahm die Schnellstraße in südlicher Richtung. Nach zwanzig Minuten erreichte er die Innenstadt. Er fand einen Parkplatz auf der Talstraße und schlenderte zwei Häuserblocks entlang bis zur Bahnhofstraße, jener touristischen Einkaufsmeile, die vom Zürichsee bis zum Hauptbahnhof führte. Auf seinem Weg kam er an diversen Nobelboutiquen vorbei. Chanel. Cartier. Louis Vuitton. Die zwei Kilometer lange Bahnhofstraße zählte angeblich zu den teuersten der Welt. Doch Leonard Blake war nicht nach Zürich gekommen, um shoppen zu gehen.

Er spazierte weiter in südlicher Richtung auf den See zu und bog in eine enge Seitenstraße. Er nutzte die zahlreichen Schaufenster, um immer wieder einen prüfenden Blick auf die Passanten hinter sich zu werfen. Als er nichts Beunruhigendes entdecken konnte, beschleunigte er seinen Schritt.

Vor der dritten Eingangstür auf der rechten Seite blieb er stehen. An den barocken Holztüren war nichts Bemerkenswertes zu sehen außer einem diskreten Türschild mit den verschnörkelten Buchstaben »G« und »B«. Die Buchstaben standen für die Geßler Bank.

Drinnen wurde er von einem befrackten Portier in Empfang genommen. Blake schrieb seinen Namen und seine Kontonummer auf ein Stück Papier. Der Portier führte ein Telefonat im Flüsterton. Eine Minute verging, bevor ein Bankangestellter auf dem langen Flur erschien. »Guten Morgen, Herr Blake«, sagte er in tadellosem Englisch. »Wie können wir Ihnen behilflich sein?«

»Ich möchte gerne an mein Bankschließfach.«

»Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«

Die beiden Männer betraten einen Lift und fuhren drei Stockwerke nach unten. Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und der Bankangestellte führte Blake in einen Tresorraum, dessen geöffnete Tür von zwei bewaffneten Sicherheitsleuten bewacht wurde. Blake wurde in einen geschützten Raum geführt, wo er dem Bankier seinen Schlüssel aushändigte. Eine Minute später kehrte der Bankier mit einer großen Stahlkassette zurück. »Läuten Sie nach mir, wenn Sie fertig sind.«

Blake schloss die Tür. Obwohl er in der Kabine vollkommen ungestört war, drehte er den Schlüssel im Schloss herum, nahm seine Sonnenbrille ab und setzte sich an den kleinen Tisch.

Man sollte sich nie zu sehr in Sicherheit wiegen, dachte Philip Palumbo, als er die Kassette öffnete. Er entnahm ihr einen größeren Briefumschlag, in dem sich gültige brasilianische Pässe für ihn und seine Familie befanden, die auf den Namen Perreras ausgestellt worden waren. In der Kassette befanden sich zudem noch etliche Bündel Schweizer Franken, US-Dollars und Euros im Gesamtwert von einhunderttausend Dollar. Er hatte das Geld auf legalem Wege verdient und rechtmäßig versteuert. Es war sein Fluchtkapital. Ein Mann mit seinem Job hatte ernst zu nehmende Feinde. Eines Tages, da war er sich sicher, würden sie ihn finden. Und wenn sie kämen, würde er vorbereitet sein. Er nahm ein Bündel mit zehntausend Dollars zur Hand. Er würde das Geld mitnehmen und verschwinden. An fünf verschiedenen Orten der Welt hatte er sich einen Unterschlupf eingerichtet, wo er untertauchen konnte. Sie würden Jahre brauchen, bis sie ihn fänden.

Er legte das Geld zurück in den Safe.

Es war nicht seine Art wegzulaufen.

Seinen Schätzungen zufolge blieben ihm sechsunddreißig Stunden, um seine Mission zu beenden und nach Hause zurückzufliegen. In etwa einer Stunde, so gegen sieben Uhr Ostküsten-Zeitrechnung, würde Admiral Lafevers Fahrer die Leiche seines Chefs finden. Alles würde so aussehen, als ob ins Haus eingebrochen und der Admiral von dem Eindringling erschossen worden wäre. Die Polizei würde am Tatort erscheinen. Gegen neun würde Langley informiert werden. Die Nachricht der Ermordung würde so lange unter Verschluss gehalten werden, bis der Direktor alle Fakten überprüft hatte und eine plausible Geschichte über den Tathergang veröffentlichen konnte. Palumbo war sich vollkommen im Klaren darüber, dass trotz all seiner Verschleierungsversuche niemand an einen Einbruch glauben würde.

Es würde weitere drei Stunden dauern, bis eine öffentliche Erklärung abgegeben wurde. Da wäre es in Zürich so gegen sechs Uhr abends. Danach würden die eigentlichen Ermittlungen beginnen, Lafevers Terminkalender durchkämmt und seine engsten Vertrauten befragt werden. Irgendwann - wahrscheinlich nicht vor dem späten Nachmittag oder sogar erst am nächsten Tag - würde Joe Leahy eine Aussage machen und seine gestrige Unterhaltung mit Palumbo in der Cafeteria erwähnen. Palumbos Interesse an Lafever und der Operation Mourning Dove würden entsprechend registriert werden. Doch es gab mit Sicherheit viele ähnlich interessante Spuren, denen man nachgehen musste. Ein Mann konnte nicht zum stellvertretenden Direktor aller CIA-Operationen aufsteigen - zum Topspion der Nation sozusagen -, ohne zahlreiche Feinde zu haben, innerhalb und außerhalb des Nachrichtendienstes. Falls die CIA bei ihm zuhause anrufen sollte, wusste Palumbos Frau, was sie ihnen sagen sollte. Sie würde ihren Mann auf dem Handy benachrichtigen, und er würde sie sofort zurückrufen. Eine Befragung von Palumbo hätte sicher keine Toppriorität.

Irgendwann jedoch würde die Spurensicherung Fragmente von Lafevers Gehirn im Garten finden und erkennen, dass der Leichnam bewegt worden war. Und in diesem Moment würde die Sache für ihn brenzlig werden.

Ihm blieben allerhöchstens sechsunddreißig Stunden.

Palumbo nahm einen zweiten großen Umschlag aus der Kassette. Er war deutlich schwerer als der erste. Er öffnete ihn und schüttete seinen Inhalt auf den Tisch. Die Walther PPK hatte er seit drei Jahren nicht mehr benutzt. Er überprüfte das Magazin und den Lauf und stellte erfreut fest, dass die Waffe in tadellosem Zustand war. In dem Umschlag befand sich außerdem ein Schalldämpfer, doch er nahm an, dass er ihn heute nicht brauchen würde.

Er schloss die Kassette wieder, verriegelte sie und läutete nach dem Bankier.

Fünf Minuten später stand er wieder auf der Straße.

Um kurz nach zwei fuhr er über die Limmatbrücke in Richtung des belebten Seefelder Distriktes. Er steuerte seinen Wagen auf einen eintönigen Komplex in der Nähe des Sees zu. Soldaten in olivgrünen Uniformen und Kevlarwesten patrouillierten mit M16-Maschinengewehren, die zur Regelausstattung der US-Armee gehörten, vor dem Gebäude in der Dufourstraße, in dem das amerikanische Konsulat untergebracht war. Zwei uniformierte Stadtpolizisten leisteten ihnen Gesellschaft.

Auf dem Bürgersteig vor dem Gebäude parkten drei schwarze Sedans. An den Wagen prangten Diplomatennummernschilder mit amerikanischen Flaggen in der oberen rechten Ecke. Beim Anblick der Fahrzeuge wusste Palumbo, dass sich Generalmajor John Austen, der Gründer und Leiter der im Geheimen agierenden Spionageeinheit mit Namen Division, im Gebäude aufhielt.

Austen war schon zu Lebzeiten eine Legende. Er konnte einen Lebenslauf vorweisen, wie ihn jeder gerne gehabt hätte. Er war ein geläuterter Höllenhund. Oder, um es in seinen eigenen Worten auszudrücken, der gefallene Engel, der errettet worden war, um zur Rechten des Herrn zu sitzen - womit in diesem Fall der Präsident der Vereinigten Staaten gemeint war.

1967 hatte Austen die Luftwaffenakademie mit Auszeichnung abgeschlossen und war als ausgebildeter Jetpilot nach Vietnam entsandt worden, wo er über 120 Einsätze am Steuer einer F-4-Phantom geflogen und neun nordvietnamesische MiGs abgeschossen hatte. Nach dem Krieg galt er als Fliegerass und stieg noch vor seinem dreißigsten Geburtstag zum Major auf.

Aber sein Ruf war alles andere als untadelig. Wenn er nicht gerade Einsätze geflogen hatte, hatte er dem Alkohol zugesprochen. Nacht für Nacht hatte er mit seinen Fliegerkollegen Saigons übelste Spelunken unsicher gemacht, sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken und war mit jeder Frau ins Bett gegangen, die er aufgabeln konnte. Sie hatten sich »Austen’s Rangers« genannt, in Anlehnung an die gleichnamige marodierende Truppe aus dem Zweiten Weltkrieg. Es gab Gerüchte, dass auch Drogen, Vergewaltigungen und einmal sogar Totschlag im Spiel gewesen waren. Doch all diese Vorfälle wurden unter den Teppich gekehrt. Niemand wollte das glorreiche Ansehen des hochgelobten Helden auf irgendeine Weise beflecken.

1979 kam es zum Geiseldrama im Iran. Austen gehörte selbstverständlich zum Team, das von Colonel Charlie Beckwith für dieses spezielle Kommando zusammengestellt worden war. Nach dem Krieg hatte Austen als Ausbilder und Testpilot gearbeitet, doch nun erhielt er das Kommando über die gewaltigen Hercules-C130-Transportflugzeuge, mit denen die Einsatztruppen in die iranische Wüste gebracht werden sollten. Dieses Mal jedoch kam er nicht so glücklich davon. Bei einem Unfall, bei dem acht Soldaten getötet wurden, war er zwar am Leben geblieben, wurde aber von furchtbaren Verbrennungen entstellt. Er verließ die Wüste als ein anderer Mensch. Eine vorzeitige Pensionierung lehnte er ab, erkämpfte sich mit eiserner Disziplin seine alte Form zurück und ruhte nicht eher, bis er zum Leiter des neu gegründeten Kommandos für besondere Operationen beim MacDill-Luftwaffenstützpunkt in Tampa, Florida, aufgestiegen war. Austen bezeichnete seine Rettung aus der Wüste als ein Wunder und widmete sein Leben fortan Jesus Christus.

Statt Trinkgelage abzuhalten, organisierte Austen Bibel- und Gebetskreise bei sich zu Hause. Jeden Dienstag- und Freitagabend strömten zahlreiche Sünder, Soldaten und Offiziere, denen an einem schnellen Aufstieg gelegen war, zum Haus von Austen in der Orange Lane. Austen scharte schnell eine loyale - einige bezeichneten sie als sklavisch ergebene - Truppe von Offizieren aus allen vier Bereichen des Militärs um sich. Auch sie nannten sich »Austen’s Rangers«, doch dieses Mal predigten sie das Wort Christi und die erzkonservativen politischen Ansichten ihres Gründers und Namensgebers. Amerika war die Stadt auf dem Hügel, die Leuchtfackel der Demokratie für die gesamte Welt. Und Israel war ihr engster Verbündeter, den es um jeden Preis der Welt zu verteidigen galt.

Austens Aufstieg konnte man nur als kometenhaft bezeichnen. Mit vierzig hatte er den Rang eines Colonel und mit dreiundvierzig den eines Brigadegenerals erworben. Noch vor seinem sechsundvierzigsten Geburtstag war ihm der zweite Stern verliehen worden. Und er trat neben den berühmtesten evangelikalen Predigern in den Sonntagvormittagsshows auf. Man nannte ihn den Krieger Gottes und den Piloten Jesu. Er wurde das bekannteste Gesicht der religiösen Rechten.

Doch dann schien seine Karriere plötzlich an einem toten Punkt angelangt zu sein. Der dritte Stern wurde ihm nie verliehen, das damit verbundene Divisionskommando nie übertragen. Er zog ins Pentagon ein, wurde der Kopf eines Karrierekillers namens Defense Human Intelligence Agency und schien fortan wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Doch innerhalb der militärischen Welt war sein leuchtendes Beispiel nach wie vor präsent. Hunderte von Austen’s Rangers hatten inzwischen die Karriereleiter erklommen und waren zu Armeegenerälen und Navyadmirälen befördert worden. Sie alle waren John Austen nach wie vor treu ergeben.

Und in dieser Zeit, so dachte Palumbo, musste Austen Division ins Leben gerufen haben. Er war nie von der Bühne verschwunden. Im Gegenteil. Er war in höhere Sphären aufgestiegen.

Palumbo fuhr etwa hundert Meter am Konsulat vorbei. Nachdem er einen freien Parkplatz erspäht hatte, glaubte er das Glück auf seiner Seite. Im Moment klammerte er sich an jeden Strohhalm, der verhieß, dass er seine Karriere nicht umsonst aufs Spiel gesetzt und die Bedürfnisse seiner Frau und seiner Familie nicht sinnlos übergangen hatte. Er parkte den Wagen und zog seine Aktentasche zu sich. In ihr befanden sich zwei Handys, eine Elektroschockpistole und ein GSM-Abhörgerät für Mobiltelefone, das als Laptop getarnt war. Er schaltete das Abhörgerät ein und programmierte seine Suchfrequenz auf Nummern, die mit »455« begannen - diese Vorwahl war von der US-Botschaft für alle dauerhaften und zeitlich befristeten Mitarbeiter reserviert worden. Er setzte sich das Headset auf und belauschte systematisch ein Gespräch nach dem anderen.

Es war nicht schwer gewesen, Austens Aufenthaltsort zu lokalisieren. Wie alle guten Spione ging Austen ganz in seiner Tarnung auf. Als Generalmajor und Direktor der Defence Intelligence Agency wurden all seine Schritte genauestens dokumentiert. Durch einen Anruf beim Pentagon aus Palumbos CIA-Büro hatte er erfahren, dass sich Austen auf einer Rundreise durch die westeuropäischen Hauptstädte befand, um mit den ihm unterstellten Militärattachés Verbindung aufzunehmen. Anfang der Woche hatte er die Botschaft in Bern besucht und war für jeweils einen Tag nach Paris und Rom geflogen. Am Freitagnachmittag stand um zwei Uhr ein Besuch beim amerikanischen Konsulat in Zürich auf dem Programm. Die Tatsache, dass Militärattachés für gewöhnlich keinem Konsulat unterstellt waren, schien allen außer Palumbo entgangen zu sein. Er wusste, dass Austen aus einem speziellen Grund nach Zürich gekommen war, und dieser Grund war die Drohne. Er wusste auch, dass Austens Rückflug in die Vereinigten Staaten am nächsten Morgen stattfinden sollte. Was er in den verbleibenden Stunden zwischen diesen beiden Terminen vorhatte, jagte Palumbo gewaltige Angst ein.

Er belauschte etwa ein halbes Dutzend Gespräche, bis er ein paar englische Sätze aufschnappte.

»Wir brechen jetzt auf. Alles klar so weit?«

Er erkannte Austens rauchig-texanischen Akzent sofort.

»Gut, dass es endlich losgeht, Sir«, kam die Antwort. »Wir sitzen hier wie auf heißen Kohlen und warten.«

»Ich bin in ‘ner halben Stunde dort.«

Das Gespräch wurde abgebrochen. Palumbo ließ sich die zugehörigen GPS-Koordinaten anzeigen. Ein roter Punkt auf einem Stadtplan von Zürich zeigte an, dass der Anrufer das Gespräch in der Dufourstraße, also aus dem US-Konsulat heraus, geführt hatte. Sein Gesprächspartner, also der Empfänger des Anrufes, hielt sich in Glattbrugg, einer Ortschaft am Rande von Zürich, auf. Der Aufenthaltsort des Angerufenen war interessanter als die Adresse selbst: Der rote Punkt markierte eine Stelle, die sich etwa hundert Meter südlich vom Züricher Flughafen befand. Bingo.

Palumbo warf einen Blick in den Rückspiegel und sah, wie ein Pulk Männer aus dem Gebäude strömte und in die parkenden Autos stieg. Der Besuch des DIA-Direktors war folglich vorüber. Die Wagen fuhren los und rasten an Palumbo vorbei. Er versuchte erst gar nicht, ihnen durch den dichten Verkehr und die Einbahnstraßen einer unbekannten europäischen Stadt zu folgen. Er würde sie nur verlieren oder von ihnen entdeckt werden. Nachdem er den Laptop auf den Beifahrersitz gelegt hatte, startete er den Wagen. Er wusste genau, wohin Austen fuhr. Nicht die Strategie war sein Problem, sondern Austen auszuschalten. Palumbo musste vor ihm am Zielort sein.

Er fuhr sehr aggressiv, schnitt Straßenbahnen, fuhr bei Gelb über die Ampel und raste mit hundertachtzig Stundenkilometern über die Autobahn. Während der Fahrt belauschte er etliche Anrufe von Austen. Die meisten waren offiziell und drehten sich um Probleme der unter seiner Aufsicht stehenden Attachés. Doch ein paar dieser Telefonate waren weniger leicht zuzuordnen. Namen wurden nie genannt. Die Gespräche selbst waren kaum mehr als schwer verständliche Andeutungen, mit Sätzen wie »Räumen der Kommandozentrale«, »Umzug ins Haupthaus« und dem besorgniserregendsten Satz »Der Besucher ist pünktlich.«

Palumbo erreichte Glattbrugg in achtzehn Minuten. Die Adresse befand sich in einer ruhigen Wohngegend mit zahlreichen Bäumen und riesigen Grundstücken zwischen den einzelnen Häusern. Er parkte den Wagen in einer unauffälligen Autoreihe am Straßenrand. Kaum hatte er den Motor abgestellt, sah er im Rückspiegel auch schon den schwarzen Mercedes mit den Diplomatennummernschildern näher kommen. Wie erwartet, befand sich kein weiterer Wagen in seinem Gefolge. Austen hatte seine Tarnung aufgegeben. Jetzt war er nur noch Leiter von Division.

Als der Mercedes an ihm vorbeifuhr, konnte Palumbo einen Blick auf den Mann auf dem Beifahrersitz erhaschen. Graues Haar, klassisches Profil, doch die Haut in seinem Gesicht war zu straff gespannt, mit Narben übersät und glänzte.

Die Verbrennungen. Austens Ehrenauszeichnung.

Palumbo ließ wieder den Wagen an und hängte sich an den Mercedes. Austens Fahrer bog hundert Meter weiter in eine Auffahrt ein. Palumbo hielt direkt hinter ihm und versperrte dem Mann den Rückweg. Wie ein Blitz sprang er aus seinem Auto, stürmte zur Fahrertür des Mercedes und hielt seine Erkennungsmarke ans Fenster. Die Marke war gefälscht, aber sie verschaffte ihm einen Zeitvorteil.

Der Fahrer öffnete die Tür und hob zum Zeichen seines guten Willens die Hände. Palumbo drückte ihm seine Elektroschockpistole an den Hals. Zehntausend Volt zwangen den Fahrer in die Knie, dann sank er bewusstlos zu Boden. Palumbo schob sich auf den Fahrersitz und zog die Tür zu. »Hallo, General.«

»Wer, zum Teufel, sind Sie?«, fragte John Austen.

Palumbo hatte keine Zeit für Erklärungen. »Ihr Spiel ist aus«, sagte er. »In diesem Augenblick wird Ihre Operation von uns beendet.«

»Wovon reden Sie eigentlich?«

Palumbo ließ die Elektroschockpistole fallen und zog die Walther PPK aus seiner Jacke. »Welches Flugzeug wollen Sie angreifen?«, verlangte er zu wissen.

»Wer auch immer Sie sein mögen, ich hoffe, Sie haben einen guten Grund für den Angriff auf meinen Bodyguard.«

»Auf welche Maschine haben Sie es abgesehen?«

»Verlassen Sie auf der Stelle meinen Wagen!«

Palumbo stieß seinen Daumen in eine Stelle zwischen Austens Kiefer und seinem Ohr und drückte zu. Der Mund des Generals öffnete sich zu einem stummen, ohnmächtigen Schrei, als der durch den Griff verursachte Schmerz wie ein Blitz durch seinen Schädel zuckte. »Welches Flugzeug wollen Sie abschießen?«, wiederholte Palumbo. Er lockerte seinen Griff, und der General krümmte sich vor Schmerzen.

»Wer hat Sie geschickt?«, keuchte Austen. »Lafever? Sind Sie der Mann, der Lammers und Blitz getötet hat?«

Palumbo drückte Austen seine Pistole an die Wange. Aus der Nähe betrachtet hatte Austens Gesicht die Farbe von altem Bodenwachs, und die Haut war so straff gespannt wie eine Trommel. »Wo ist die Drohne? Ich werde Ihnen eine Kugel in den Kopf jagen, wenn Sie mir nicht antworten.«

»Das würden Sie nicht wagen.«

»Was macht Sie da so sicher?«

»Na los, schießen Sie schon. Das ändert auch nichts mehr.«

»Und ob es das tut. Sie wären tot, und die Drohne würde niemals starten und ein Flugzeug voller unschuldiger Menschen angreifen.«

»Niemand ist ohne Schuld. Wir werden alle als Sünder geboren.«

»Sie müssen es ja wissen. Wo ist das Haupthaus? Ich hab gehört, dass Sie ins Haupthaus ziehen wollen.«

Austen schloss die Augen. »›Glücklich ist der Mensch, der keine Reichtümer besitzt und niemandem Rechenschaft schuldet‹«, zitierte er. »›Meine Augen sehen nichts außer dem auferstandenen Christus in all seiner Herrlichkeit, und mein Geist strebt nach keinem anderen Gut als nach der Erfüllung seiner Gebote hier auf Erden‹.«

Palumbo warf einen Blick aus dem Fenster. Der Fahrer war immer noch bewusstlos. Hinter den Gardinen eines Panoramafensters über der Garage konnte er eine Bewegung ausmachen. Er presste seinen Daumen erneut auf die Stelle in Austens Gesicht und drückte dieses Mal länger zu. »Wo ist die Drohne? Ist sie hier? Ist das hier das Haupthaus?«

Er lockerte den Griff.

Austen sah ihn an. In seinen Augen standen Tränen, aber ob sie Ausdruck seines Schmerzes oder eines perversen Märtyrertums waren, hätte Palumbo nicht sagen können.

»Ich danke Ihnen«, sagte Austen.

»Wofür?«

»Christus wurde versucht. Er widerstand der Versuchung und wurde gekreuzigt. Jetzt bin ich an der Reihe.«

»Christus war kein Mörder.«

»Können Sie die Wahrheit denn nicht erkennen? All das ist bereits im Buch der Offenbarung prophezeit worden. Die Israeliten werden Jerusalem verteidigen. Die Wiederkunft des Herrn ist nahe. Sie können es durch nichts verhindern. Niemand von uns kann das. Wir können dem Herrn nur den Weg bereiten.«

Er redet wirres Zeug, dachte Palumbo. »Auf welchen Flug haben Sie es abgesehen? Ich weiß, dass der Anschlag heute Abend stattfinden soll.«

Doch Austen hörte ihn nicht mehr, lauschte nur noch seinem eigenen Sermon. »Der Herr hat zu mir gesprochen. Er hat mir gesagt, dass ich den Menschen seinen Willen offenbaren soll. Sie können mich nicht aufhalten. Er würde es niemals zulassen.«

»Sie erfüllen nicht den Willen des Herrn, sondern nur Ihren eigenen.«

Draußen fiel eine Tür ins Schloss. Auf der obersten Stufe der Eingangstreppe waren zwei Männer erschienen. Palumbo griff mit der Hand nach dem Zündschlüssel, aber der war verschwunden. Er blickte Austen an, und Austen starrte so trotzig wie eh und je zurück. In diesem Moment wusste Palumbo, dass Austen es war. Austen selbst würde die Drohne steuern.

Palumbo richtete die Waffe auf die Schläfe seines Widersachers. »Ich kann nicht zulassen, dass Sie all diese Menschen töten.«

Links von Palumbo verdunkelte ein Schatten das Wageninnere. Das Seitenfenster wurde eingeschlagen, Glassplitter flogen ihnen um die Ohren. Eine Hand griff durch das Fenster und packte Palumbo. Er befreite sich aus dem Griff. Austen machte Anstalten, nach Palumbos Waffe zu greifen, doch er rammte ihm seinen Ellenbogen ins Gesicht, und Austen fiel auf seinen Sitz zurück. Dann richtete Palumbo die Walther erneut auf Austen. Im gleichen Moment packte ihn jemand am Kragen und riss ihn zurück. Er feuerte. Die Patrone durchschlug das Seitenfenster des Beifahrersitzes. Palumbo kassierte einen Faustschlag gegen die Schläfe und ließ die Waffe fallen. Die Fahrertür wurde aufgerissen, und er spürte, wie er auf die Einfahrt hinausgezerrt wurde.

Auf diese Weise darf es einfach nicht enden, schrie alles in ihm, und er wehrte sich mit Händen und Füßen.

Das Flugzeug … jemand musste sie warnen.

Dann trat ihm jemand mit einem schweren Stiefel gegen den Kopf, und Schwärze umgab ihn.

Reich, Christopher
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