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Marcus von Daeniken stand unter der Markise des Straßencafés Sternengold am Bellevueplatz und presste sich sein Handy ans Ohr. »Ja, Frank«, sagte er laut, um den Lärm um ihn herum zu übertönen. »Hast du was über den Pass herausgefunden?«

Es war Punkt eins. Ein beißender Wind pfiff über den Seen und wirbelte etwas Gischt auf und direkt in von Daenikens Gesicht.

»Gute Frage«, erwiderte Frank Vincent vom belgischen Nachrichtendienst. »Sag mal, Marcus, gibt’s da irgendwas, das du mir im Hinblick auf Lammers verschwiegen hast? Irgendwas, das uns betreffen könnte, um genau zu sein?«

»Was genau meinst du?«, fragte von Daeniken.

»Unser Land betreffend. Belgien.«

»Nein. Lammers arbeitete ein, zwei Jahre in Brüssel, aber das war 1987, also vor zwanzig Jahren. Was hast du herausgefunden?«

Vincent stieß einen enttäuschten Laut aus. »Also, wir haben den Passeigentümer, Jules Gaye, aufgespürt. Haben sein Antragsformular aufgetrieben und seine Adresse, seine Geburtsurkunde und sogar seine Steuerbescheide überprüft. Er ist ein international tätiger Geschäftsmann, falls es dich interessiert. In der Bekleidungsbranche. Ist ziemlich viel rumgekommen. Dubai. Delhi. Hongkong und so weiter.«

Von Daeniken dachte an all die Stempel in Lammers’ Pässen. Auch Lammers war regelmäßig verreist. »Es gibt ihn also wirklich?«

»Oh ja«, sagte Vincent. »Mitsamt Frau, Kindern und einem Haus auf der Tervuren Avenue. Er existiert, ganz ohne Frage.«

»Was willst du damit sagen? Dass Lammers ein Doppelleben führte? Eine Familie in Zürich, eine in Brüssel?«

»Nein. Das können wir mit Sicherheit ausschließen. Lammers und Gaye sind zweifellos zwei verschiedene Personen.«

In diesem Moment vernahm von Daeniken am anderen Ende der Leitung das Hupen eines Autos. »Frank, wo bist du eigentlich?«

»In einer Telefonzelle«, sagte Vincent. »Der letzten auf Brüsseler Boden.«

»Eine Telefonzelle? Was, zum Teufel, machst du dort?«

»Du wirst es in einer Sekunde verstehen.«

»Frank, hast du Gaye nun gefunden oder nicht?«

»Natürlich hab ich ihn gefunden.« Vincent unterbrach sich, und der gereizte Unterton verschwand aus seiner Stimme. »Gayes Pass wurde neu ausgestellt. Er hatte seinen alten auf einer seiner Reisen verloren und brauchte umgehend einen neuen. Den hat er dann auch persönlich in unserem Konsulat in Amman beantragt.«

»In Amman? Was hat er denn in Jordanien gemacht?«

»Er hatte eine Textilfabrik besucht. Alles ganz legal. Ich hab unsere Mitarbeiter dort angerufen, und sie konnten sich an den Fall erinnern. Tatsächlich könnte man sagen, dass sie ihn niemals vergessen werden.«

Von Daeniken presste das Handy an sein Ohr und versuchte angestrengt, Vincent trotz des durchdringenden Autolärms zu folgen. Er fragte sich, was am Ausstellen eines neuen Passes so unvergesslich sein sollte.

»Das Ganze hat sich vor zwei Jahren im August zugetragen«, fuhr Vincent fort. »Gaye kam in die auswärtige Vertretung in Amman und erzählte denen, dass sein Pass zusammen mit seinem Portemonnaie und ein paar anderen persönlichen Gegenständen aus seinem Hotelzimmer gestohlen worden war. Als Identifikationsnachweis legte er seinen Führerschein vor. Ein netter Herr, da waren sich alle im Konsulat einig. Der Pass wurde auf der Stelle ersetzt. Etwa zwei Wochen später wurden in einem Jeep die Leichen eines europäischen Mannes und seiner Frau irgendwo im Niemandsland aufgefunden. Die örtliche Polizei ging davon aus, dass das Paar von Banditen ermordet worden war, doch genau ließ sich das nicht mehr feststellen. Sie waren schon zu lange tot. Seit Wochen. Vielleicht auch Monaten. Du kannst dir sicher vorstellen, was aufgrund der Hitze noch von ihnen übrig war, ganz zu schweigen von dem, was die Wüstengeier und Fliegen angerichtet hatten. Die Diebe hatten sämtliche persönlichen Sachen gestohlen, weshalb eine Identifizierung zunächst unmöglich schien. Schließlich gelang es der Polizei, über den Mietwagen ein kleines Hotel aufzuspüren. Sie schleppten den Hotelbesitzer ins Leichenschauhaus, und der bestätigte, dass die Toten im Jeep seine Gäste gewesen waren. Er erkannte das Hemd des Mannes wieder. Seinen Angaben zufolge handelte es sich um Gaye.«

»Aber das ist niemals bewiesen worden …«

»Doch, ist es. Die Familie ließ einen DNA-Test durchführen. Das hat drei Monate gedauert, aber die Aussage des Hotelbesitzers war korrekt. Bei dem Toten handelte es sich eindeutig um Gaye.«

»Willst du damit sagen, dass Lammers den neuen Pass in Auftrag gegeben hat?«

»Das kannst du besser beantworten. War Lammers einen Meter achtzig groß, um die fünfundachtzig Kilo schwer, mit blonden, leicht angegrauten Haaren und graublauen Augen?«

Von Daeniken rief sich das Bild des am Boden liegenden Erschossenen ins Gedächtnis. »Könnte hinkommen.«

»Weißt du, was ich denke, Marcus? Der Mord in der Wüste … das war ebenfalls das Werk eines professionellen Auftragskillers.«

Eine Sache ließ von Daeniken noch keine Ruhe. »Aber das ist zwei Jahre her. Ihr habt den Pass doch sicher sperren lassen.«

»Natürlich. Wir haben ihn sofort gesperrt.«

»Okay, und wo liegt das Problem? Warum rufst du mich von einer Telefonzelle aus an?«

»Weil die Sperrung des Passes einen Monat später wieder aufgehoben wurde«, sagte Frank Vincent.

»Von wem? Wer hat das veranlasst?«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Gedämpft konnte von Daeniken einen Laster auf einer stark befahrenen Brüsseler Straße hupen hören. »Jemand von ganz oben. Und zwar von ganz weit oben, Marcus.«

Reich, Christopher
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