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Wann immer Philip Palumbo nach einem seiner »Jagdausflüge« in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, absolvierte er das gleiche Programm: Er fuhr direkt vom Flughafen zu seinem Fitnessstudio in Alexandria, Virginia. Dort strampelte er sich zwei Stunden lang auf einem Spinbike ab, stemmte Gewichte und schwamm ein paar Runden. Sobald er das miese Essen, den Dreck und die ungesunde Luft ausgeschwitzt hatte, zog er sich in die Sauna zurück, wo er sich von der Korruption befreite und diesem lauernden Schuldgefühl, das wie ein Krebsgeschwür in der dunkelsten Ecke seiner Seele wucherte. Er nannte dieses Ritual »beichten«. Erst danach fuhr er nach Hause, um seine Frau und seine drei Kinder wiederzusehen.

Heute jedoch mussten die Bußübungen warten, denn Palumbo fuhr nach seiner Ankunft direkt nach Langley, wo er unverzüglich das Archiv des Nachrichtendienstes aufsuchte. Dort angekommen, rief er eine digitalisierte Akte über Lateinamerika auf, in der die CIA-Aktivitäten in El Salvador während der Achtzigerjahre dokumentiert worden waren.

Darin fand sich auch eine Erklärung über die Notwendigkeit des Einsatzes. Er wurde damit begründet, dass man in der Region die Demokratie durchsetzen müsse - als Bollwerk gegen das kommunistische sandinistische Regime. Ein Regime, das sich bereits im naheliegenden Nicaragua etabliert hatte und für die Regierungen von Guatemala und El Salvador eine Bedrohung darstellte. Weiterhin wurde die Operation »Mourning Dove«, erwähnt, die im Frühjahr 1984 von der amerikanischen Botschaft in San Salvador in die Wege geleitet worden war. Weitere Details über Mourning Dove waren als »Streng vertraulich« deklariert, und der Zugriff auf die Informationen erforderte die Unterschrift eines stellvertretenden Direktors. Das war genau das, was er suchte. Keine andere Operation aus dieser Akte fiel unter das Siegel der Geheimhaltung.

Palumbo rief die Liste der Agenten auf, die in dieser Zeit bei der Botschaft beschäftigt gewesen waren. Darunter war auch der Name eines Kollegen, mit dem er in der Zentrale für Terrorismusbekämpfung zusammenarbeitete: ein hagerer, extrovertierter Ire namens Joe Leahy.

Palumbo fand Leahy in einem verglasten Büro, von dem aus er ein Großraumbüro im CTCC überblickte. »Joe, hast du mal ‘ne Minute Zeit für mich?«

Leahy wirkte wie immer aus dem Ei gepellt in seinem marineblauen Anzug und den auf Hochglanz polierten Schuhen. Das Haar war mit Gel zurückgekämmt wie bei einem Wall-Street-Banker. Doch seinen nasalen Philadelphia-Akzent konnte er nicht verbergen. »Was gibt’s denn?«, fragte er.

»Würde gern was erfahren über ‘ne Sache, die schon länger zurückliegt. Hast du Zeit für ‘nen Kaffee?«

Palumbo ging auf dem Weg zur Cafeteria voran und zahlte zwei Kaffees. Sie setzten sich an einen Tisch in der hinteren Ecke des Raumes. »Du warst doch auch in El Salvador, oder?«

»Damals«, sagte Leahy. »Als du dich noch mit Neulingen in Yale geprügelt hast.«

»Und das eher erfolglos«, bemerkte Palumbo. »Was weißt du über Mourning Dove?«

»Das ist ja ‘ne uralte Geschichte. Warum fragst du? Musst du ‘nen Bericht darüber schreiben?«

Palumbo schüttelte den Kopf. »Nichts dergleichen. Es geht mir nur um Hintergrundinfos.«

»Das ist schon lange her. Ich war noch neu bei der Truppe. GS-7. Ein Punk.«

»Ich will dir nicht auf den Zahn fühlen, Joe. Du hast mein Wort. Was immer du mir sagst, bleibt zwischen uns beiden. Das verspreche ich Dir«

»Wie Vegas, meinst du?«

»Genau, wie Vegas. Mourning Dove, Joe. Erzähl mir was darüber.«

Leahy beugte sich vor. »Anfangs war’s nur ‘n Zeitvertreib während der Ausbildung, ‘ne Methode, den Rekruten Respekt und Disziplin einzubläuen. Ich sag dir, das waren echte Bauerntrampel. Und die Hälfte von denen war noch grün hinter’n Ohren. Na ja, wir besorgten denen Barette aus Bragg und ‘n bisschen Schießpulver. Wir wollten ihnen ‘ne Grundausbildung als Soldaten verpassen, ihnen dabei helfen, die Demokratie in der Region zu verankern. Der übliche Mist also.«

»Ich dachte, dafür war die School of the Americas in Benning zuständig.«

»War sie auch. Aber das war der offizielle Weg. Das andere lief unter dem Siegel der Verschwiegenheit ab. Wie auch immer, el presidente gefiel unser Vorgehen, deshalb verpflichtete er ein paar unserer Soldaten bei seiner Privatarmee. Wir haben die Drecksarbeit erledigt. Man darf nicht vergessen, wie’s damals so zuging: Danny Ortega vögelte Bianca Jagger, und die Sandinisten ballerten wahllos um sich. No más communista. Das zumindest war die Idee. Doch die Sache geriet schon vom ersten Tag an irgendwie aus dem Ruder. Wir hatten einfach kein Ziel vor Augen. Trotzdem war die Operation sehr effektiv. Alle hatten ‘ne Scheißangst vor uns. 1984 war dann alles vorbei. Der Präsident war wiedergewählt worden. Und wir packten unsere Sachen und sind wieder nach Hause gefahren.«

»Und was ist aus den Typen geworden, die ihr ausgebildet habt? Sind vielleicht ein paar von denen mit euch nach Amerika gekommen?«

»Wie meinst du das?«

»Keine Ahnung. Vielleicht habt ihr da unten ein paar, na ja, besonders talentierte Männer entdeckt und ihnen vorgeschlagen, für die Firma zu arbeiten.«

Leahys Plauderton war mit einem Schlag verschwunden. »Jetzt wagst du dich aber ziemlich weit vor. Du bewegst dich auf sehr dünnem Eis.«

»Komm schon, Joe, ganz unter uns - zwischen ‘nem Lausejungen aus Philadelphia und ‘nem Tunichtgut aus dem Süden von Beantown.«

Leahy lachte, sagte aber kein Wort.

Palumbo fuhr fort: »Es ist so, dass sich vermutlich einer von denen in meinem Revier rumtreibt. Hat ein paar von den ganz dicken Fischen erledigt und jede Menge Voodoo-Mist zurückgelassen. Soweit ich weiß, tunkt er seine Patronen in Froschgift, um zu verhindern, dass die Seelen seiner Opfer ihn im Diesseits verfolgen. Ist dir schon mal so ‘ne abgedrehte Scheiße zu Ohren gekommen?«

Leahy schüttelte den Kopf, und die Vergangenheit zog praktisch für alle sichtbar an seinem inneren Auge vorüber.

»Du steckst doch nicht in dieser Sache mit drin, oder, Joe?«

»Das ist ‘ne völlig andere Liga, über die du da redest«, sagte Leahy. »Wenn du deiner großartigen Frau und deinen Sprösslingen keinen Kummer machen willst, dann lässt du das Ganze besser auf sich beruhen.«

Palumbo konnte genauso stur sein wie sein Gegenüber, und die unverhohlene Warnung spornte ihn nur noch mehr an. »Die Typen, die er erledigt hat, waren in die Verschwörung um Walid Gassan verwickelt. Sie haben geplant, ein Flugzeug in der Luft anzugreifen. Ist ‘ne ziemlich ausgeklügelte Verschwörung. Wir reden hier von einer Drohne, die mit einer Geschwindigkeit von fünfhundert Stundenkilometern fliegt und zwanzig Kilo Semtex geladen hat. Meiner Ansicht nach ist das Ding ein verkappter Marschflugkörper. ‘ne Bojinka-Drecksau könnte so was niemals durchziehen.«

»Hört sich an, als ob der Typ ‘nen guten Job macht.«

»Keine Frage.«

»Wenn’s also nicht die Araber sind, wer steckt dann hinter der Sache?«, fragte Leahy.

»Kann ich dir nicht sagen. Hab aber so ‘ne Ahnung. Ich meine, wie viele Leute bleiben am Ende übrig, die über solche Mittel verfügen?«

»Du glaubst, dass ein Staat das Ganze finanziert?«

»Oh ja.« Palumbo klopfte mit seinen Fingerknöcheln auf den Tisch. »Aber das bleibt unter uns.«

Leahy bekreuzigte sich, um seine Verschwiegenheit zu geloben.

»Weißt du, etwas war sonderbar mit dieser Akte über El Salvador«, fügte Palumbo hinzu. »Und das ist’s, worüber ich mit dir sprechen wollte. Es ist nämlich so, dass der Name des verantwortlichen Agenten für die Operation Mourning Dove fehlt. Scheint so, als hätte man ihn entfernt, bevor sie die Akte digitalisiert haben. Kannst du mir vielleicht sagen, Joe, wer von unseren Jungen bei Mourning Dove das Kommando hatte?«

Leahy starrte sein Gegenüber einen Moment lang wortlos an und erhob sich dann von seinem Stuhl. Als er an Palumbo vorbeiging, flüsterte er ihm zwei Worte ins Ohr: »Der Admiral.«

Palumbo blieb sitzen, bis Leahy die Cafeteria verlassen hatte.

Der Admiral, das war James Lafever, der für sämtliche CIA-Operationen zuständige Vizedirektor.

Reich, Christopher
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