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Jonathan entdeckte die ersten Einsatzfahrzeuge, kurz bevor er das Tal erreichte. Zwei gepanzerte Kleintransporter mit einem Dutzend Soldaten, die in der Nähe herumlungerten. Fünf Kilometer weiter sah er die nächsten beiden Einsatzfahrzeuge. Dieses Mal standen die Soldaten nicht gelangweilt herum. Sie gehörten zur Kerntruppe, trugen Tarnuniformen und Maschinengewehre vor der Brust. Alle vorbeifahrenden Fahrzeuge wurden genauestens von ihnen in Augenschein genommen.
Davos war nur über eine einzige Straße zu erreichen. Auf dieser konnte man den Luftkurort aus nördlicher oder südlicher Richtung anfahren. Die Militärpräsenz nahm zu, je weiter man ins Tal hineinfuhr: Jeeps, gepanzerte Personentransporter, mobile Straßensperren am Seitenstreifen, die mit wenigen Handgriffen aufgestellt werden konnten. Der Zugang zur Stadt war wie eine Falle, die jederzeit zuschnappen konnte.
Jonathan rechnete jede Minute damit, dass ein Soldat oder Polizist auf die Straße springen, mit den Armen fuchteln und ihn dazu auffordern würde, an den Straßenrand zu fahren, doch der Mercedes schien keine große Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Um elf Uhr fuhr er durch die Nachbargemeinde Klosters. Der Schnee war weitestgehend geschmolzen und die Wolkendecke etwas aufgerissen. An einigen Stellen konnte er sogar ein wenig blauen Himmel durchblitzen sehen. Gerade schlugen die Kirchenglocken zur vollen Stunde, und ihr volltönender Klang jagte ihm einen Schauer über den Rücken.
Die Straße wand sich wie eine Schlange den Berg hinauf, und er konnte das Dröhnen eines Hubschraubers über sich hören. Er holte den Wirtschaftsforumsausweis hervor und hängte ihn sich um den Hals. Der Name, der in schwarzen Lettern darauf geschrieben war, lautete nicht länger »Eva Krüger«. Er hatte einen Buchstaben drangehängt, sodass der Ausweis nun auf einen »Evan Krüger« ausgestellt war. Das Foto war gegen ein Passfoto ausgetauscht worden, das er am frühen Morgen in einem Copyshop in Ziegelbrücke hatte machen lassen. Es hatte ihn eine Stunde gekostet, den Ausweis zu bearbeiten. Mit Hilfe einer Schablone hatte er das »n« so hingekriegt, dass es genau zur Schrift auf dem Ausweis passte. Das neue Foto darauf zu befestigen, war weit schwieriger gewesen. Am Ende war es ihm mit Hilfe eines Laminiergerätes gelungen.
Die ganze Zeit war ich Teil des Spiels und hatte nicht die geringste Ahnung.
Ich war von Anfang an ein Bauer in Emmas Schachspiel.
Ein medizinischer Abschluss war nicht die einzige Voraussetzung gewesen, um bei Ärzte ohne Grenzen eine Anstellung zu bekommen. Ein gewisser Hang zu Unterschlagung und Skrupellosigkeit waren mindestens ebenso notwendig. Er wusste nicht mehr, wie oft er Im- und Exportdokumente gefälscht hatte, um Medikamentenlieferungen über irgendwelche Grenzen zu ermöglichen oder, genauso wichtig, um das Zahlen von Bestechungsgeldern an korrupte Beamte zu vermeiden. War die Einfuhr von Penicillin verboten, hatten sie einfach »Ampicillin« auf die Bestellliste geschrieben, ein stärkeres, aber weniger bekanntes Antibiotikum. War bekannt, dass die Zollbeamten dazu neigten, sich die Morphinlieferungen unter den Nagel zu reißen, deklarierten sie das Zeug in den Einfuhrpapieren einfach als »Morazin«. Sollten sie doch ihre medizinischen Nachschlagewerke konsultieren, um herauszufinden, dass es ein solches Medikament gar nicht gab.
Das Einzige, was er auf dem Wirtschaftsforumsausweis nicht hatte fälschen können, war der Speicherchip. Also hatte er ihn mit einem Magneten unbrauchbar gemacht. Er ging das Risiko ein in der Hoffnung, dass das Sicherheitspersonal bei der Überprüfung von unzähligen solcher Ausweise auf ein oder zwei stoßen würde, die ähnliche Fehler aufwiesen.
Eva Krügers Führerschein ließ sich leichter fälschen. Der von den Schweizer Behörden verwendete Fotokarton forderte nachgerade dazu auf, daran herumzupfuschen. Mit Hilfe eines Federmessers hatte er Emmas Bild aus dem Führerschein gelöst und durch ein weiteres Passfoto von sich ersetzt. Sorgsam hatte er darauf geachtet, zuvor sein Äußeres ein wenig zu verändern. Statt mit Anzug und Krawatte hatte er sich mit geöffnetem Hemdkragen und leicht zerzaustem Haar fotografieren lassen. Und obwohl die beiden Fotos in ein und derselben Sitzung entstanden waren, sah es so aus, als läge einige Zeit zwischen den Aufnahmen.
Auch auf dem Führerschein änderte er Evas Namen in »Evan«. Emmas Größe war mit einem Meter achtundsechzig angegeben. Der Einfachheit halber änderte er die Zahlen auf einen Meter achtundachtzig. Tatsächlich war er vier Zentimeter kleiner.
Ihm war durchaus klar, dass weder der Führerschein noch der Forumsausweis einer gründlichen Überprüfung standhalten konnten. Wenn man sie genau unter die Lupe nahm, würde man die Fälschungen schnell entdecken, und der ganze Schwindel flog auf. Doch die Zulassung des Mercedes auf den Namen Parvez Jinn aus Teheran war sein Ass im Ärmel, eine Legitimation, mit der kein Ausweis der Welt mithalten konnte.
Bis zu diesem Moment, dachte er, konnte niemand wissen, dass er im Bilde war über Eva Krügers geplantes Treffen mit Parvez Jinn. Jonathan wusste auch, dass kein zweiter Mercedes dieser Art zur Verfügung stand, der an Jinn übergeben werden konnte. Der Falke konnte zwar veranlassen, dass ein Ersatzmann an Evas Stelle eine Akkreditierung für das Forum erhielt, aber er hatte vermutlich nicht den auf Eva Krüger ausgestellten Originalpass sperren lassen.
Bei seinen Überlegungen legte Jonathan die gleiche Skrupellosigkeit an den Tag, mit der er auch den Forumsausweis gefälscht hatte. Es ging ihm darum, um keinen Preis unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Falls Eva Krüger noch akkreditiert war, dann sicher mit dem Vermerk, dass sie dem iranischen Regierungsmitglied den Mercedes überbringen sollte. Das Auto würde ihm demnach alle Türen öffnen. Ein Zweihunderttausend-Dollar-Panzer, den konnte man schon als schlagkräftiges Argument bezeichnen.
Zwei Kilometer vor Davos erreichte er die erste Straßensperre. An einem gerade verlaufenden Fahrbahnabschnitt hatte man einen Checkpoint für alle Fahrzeuge errichtet, die passieren wollten. Zu beiden Seiten standen verwitterte Holzhäuschen. Der östliche Zubringer war abgesperrt. Er ging vom Gas und hielt hinter einer Warteschlange aus vier Autos an. Nachdem er seine Krawatte zurechtgerückt und sich gerade hingesetzt hatte, holte er seinen Führerschein und die Zulassungspapiere für den Wagen hervor. Der Forumsausweis hing gut sichtbar um seinen Hals. Trotzdem war sein Mund wie ausgedörrt, und das Herz schlug ihm bis zum Halse. Im Schritttempo näherte er sich der Blockade. Er sah, wie die Soldaten die Fahrzeuge umkreisten. Seine Finger zitterten, und ihm wurde bewusst, dass er hyperventilierte.
Emma, wie konntest du so was nur acht Jahre lang aushalten?
»Guten Tag!« Ein Polizeibeamter klopfte an sein Seitenfenster. »Fahren Sie bitte vor.«
Jonathan fuhr den Wagen einige Meter vorwärts, bis er mit der Stoßstange beinahe die Straßensperre berührte. Er wurde gebeten, aus dem Fahrzeug zu steigen und seinen Führerschein vorzuzeigen.
»Wohin wollen Sie?«
»Nach Davos. Ich nehme am Forum teil.«
»Haben Sie eine offizielle Einladung?«
»Ich soll dieses Fahrzeug einem Gast des Belvedere Hotels übergeben - Herrn Parvez Jinn.«
»Darf ich bitte Ihren Ausweis sehen?«
Jonathan nahm den laminierten Ausweis vom Hals. Der Polizist steckte ihn in ein Lesegerät, das denen aus dem Zeitungsbericht ähnelte. Aus den Augenwinkeln beobachtete Jonathan, wie der Polizist den Ausweis wieder herauszog und erneut in das Lesegerät schob.
Während er wartete, kontrollierten einige Soldaten die Unterseite des Wagens mit Spiegeln und vergewisserten sich, dass sich kein Sprengstoff dort befand. Einer der Soldaten rief etwas, und der Beamte, der Jonathans Ausweis überprüfte, ging zu ihm. Die beiden sprachen kurz miteinander, dann kam der Beamte wieder zurück zu Jonathan. »Ist das ein gepanzerter Wagen?«
»Ja«, antwortete Jonathan. »Wie bereits gesagt, ich soll das Fahrzeug an Parvez Jinn, den iranischen Technologieminister, übergeben. Er überführt den Wagen in den Iran.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Wie man hört, gehen die da nicht gerade zimperlich miteinander um.«
»Warten Sie hier.«
Der Beamte trat ein paar Schritte beiseite und nahm Funkkontakt mit seinem Vorgesetzten auf. Jonathan hörte, wie sein Name genannt und die Frage gestellt wurde, ob die Überstellung des Mercedes irgendwo erwähnt wurde. Eine Minute verstrich. Schließlich nickte der Beamte und kam zu Jonathan zurück. »Alles klar. Ich muss Sie allerdings um die Erlaubnis bitten, dass meine Männer das Wageninnere durchsuchen.«
»Bitte sehr. Jederzeit.«
Der Beamte rief seinen Männern ein paar kurze Anweisungen zu. Sodann durchsuchten fünf Polizisten den Wagen. Sie durchwühlten das Handschuhfach und die Seitenfächer, zogen den Rücksitz hoch, verlangten, dass Jonathan den Tresor öffnete, und kontrollierten mit einem Sprengstoffsuchgerät die Fahrerkabine.
»Schließen Sie bitte alle Fenster.«
Jonathan setzte sich hinters Steuer und tat, wie ihm geheißen. Einer der Polizisten deutete auf die Kratzspuren, die von den Schüssen stammten. »Wie ist das passiert? Hat jemand auf Sie geschossen?«
»Steinschlag«, erklärte Jonathan. »Ein paar Rowdies in Zürich.«
In diesem Moment trat der leitende Beamte zu Jonathan und schlug mit dem Ausweis gegen seine Handfläche. »Wo ist dieser Ausweis ausgestellt worden?«, wollte er wissen.
»Wie meinen Sie das?« Jonathan hatte Mühe, sorglos zu klingen.
»Haben Sie den Ausweis bei der Polizeidienststelle in Chur abgeholt?«
»Ich hab ihn auf dem Postweg erhalten. Gibt’s ein Problem damit?«
»Der Sicherheitschip ist defekt.«
»Ich wusste nicht mal, dass er einen Sicherheitschip enthält«, sagte Jonathan entschuldigend. »Sie können meinen Arbeitgeber anrufen … bitte.«
»Sie haben mich missverstanden«, fuhr der Polizeibeamte fort. »Ich möchte mich bei Ihnen wegen des fehlerhaften Ausweises entschuldigen. Die Angaben stimmen. Das Auto wird erwartet. Ich werde Ihren defekten Ausweis melden und veranlassen, dass man Ihnen einen neuen ausstellt.«
»Ich bekomme einen neuen?« Jonathan grinste wie ein Honigkuchenpferd. Er konnte einfach nicht anders. »Vielen Dank. Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
»Technische Fehler kommen hin und wieder einfach vor. Da wäre nur noch eine Kleinigkeit.«
»Ach ja?«
»Sie heißen nicht Eva, richtig?«
Jonathan verneinte, und der Beamte gab ihm seinen Ausweis zurück. »Gehen Sie zum Hauptsicherheitsschalter auf der Davosstraße direkt am Stadtrand. Dort erhalten Sie ein neues Foto, und man stellt Ihnen einen Ersatzausweis aus. Tragen Sie ihn die ganze Zeit gut sichtbar am Körper. Alles klar?« Der Polizist klopfte kurz an die Tür, richtete sich dann auf und ging auf das nächste Auto zu. »Na kommen Sie schon! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
Am Hauptsicherheitsschalter erhielt Jonathan einen neuen Ausweis und ein Programm der Veranstaltungen des Tages. Außerdem bekam er noch einen Stadtplan und Tickets für die Bergbahnen nach Jakobshorn und Parsenn. Ein Beamter begleitete ihn zu seinem Mercedes und beschrieb ihm den Weg zum Hotel Belvedere, das in etwa dreihundert Metern Entfernung auf dem Hang zu sehen war.
Jonathan fuhr im Schritttempo die Straße entlang. Auf den Gehwegen tummelten sich gewaltige Menschenmassen. Soldaten waren an jeder Straßenecke postiert und überprüften stichprobenhaft die Ausweise der Passanten. Überall patrouillierten Polizisten mit angeleinten Schäferhunden. Die Straße, auf der Jonathan fuhr, schlängelte sich an Juweliergeschäften und Skiläden, malerischen Hotels und Cafés vorbei durch die Stadt. Eine steile Auffahrt führte zum Eingangstor des Belvedere Hotels; die Einfahrt war durch eine Schranke gesichert. Zu beiden Seiten des Tores war vorübergehend ein drei Meter hoher Zaun errichtet worden, der am oberen Ende mit gerolltem Stacheldraht gesichert war. Jonathan stellte fest, dass der Zaun das gesamte Hotelgelände umschloss.
Willkommen in der roten Zone.
Vor der Schranke brachte Jonathan den Wagen zum Stehen. Ein bewaffneter Wachsoldat trat heran und zog Jonathans Ausweis durch das Lesegerät in seiner Hand. Die Schranke öffnete sich. Jonathan fuhr den Hang hinauf und hielt direkt vor dem Eingang des Hotels. Er wurde auf beiden Seiten von Soldaten mit Maschinenpistolen bewacht. Im Rückspiegel sah er, wie sich die Schranke wieder schloss. Es schien, als wäre der Rückweg damit endgültig versperrt; er fühlte sich wie in einem Banktresor.
Jonathan blieb hinterm Steuer sitzen und fragte sich, was er als Nächstes tun sollte. Fand das Treffen im Hotel statt? Sollte er Jinn anrufen oder einfach nur abwarten? Es war genau zwölf Uhr. Ein Schweizer Bankier hätte nicht pünktlicher sein können. Sein Blick fiel auf die drei breiten, mit Teppich ausgelegten Treppenstufen, die zur Drehtür des Hotels hinaufführten. Die Wachen vor dem Eingang schienen ihn nun genauer in Augenschein zu nehmen. Schließlich kam einer von ihnen ein paar Schritte auf ihn zu. Jonathan schluckte, während ihm die Schweißperlen auf die Stirn traten. Er warf einen prüfenden Blick auf seine Fingernägel und rückte erneut die Krawatte zurecht. Der Wachsoldat war wieder auf seinen Posten zurückgekehrt und starrte auf die Zufahrtsstraße zum Hotel, als ob er allein mit Blicken etwaige Eindringlinge abschrecken könnte.
Im nächsten Moment brach die Hölle los, denn nun strömte eine Horde dunkelhäutiger Männer in schwarzen Anzügen aus dem Hoteleingang. In dem Gewühl war schwer zu erkennen, wie viele es tatsächlich waren; Jonathan hörte nach dem Siebten auf zu zählen. Und dann sah er ihn. Groß, stattlich, gut gebaut und mit einem kleinen Bart. Ein Mann, der sich für gewöhnlich in besseren Kreisen bewegte als seine Begleiter. Zugleich Teil der Gruppe und doch herausragend. Doch es war vor allem der Ausdruck, eine Mischung aus Ungeduld und Gereiztheit, auf seinem stolzen Gesicht, der Jonathan ins Auge stach. Ein Gesicht, das er von dem Foto, das er am Abend zuvor gesehen hatte, wiedererkannte. Parvez Jinn.
Plötzlich drang ein Schrei an Jonathans Ohren. Einen Moment lang dachte er, jemand hätte Alarm geschlagen. Doch es war kein Angstschrei gewesen; kein Killer oder Selbstmordattentäter war gesichtet worden. Es war ein Freudenschrei. Parvez Jinn stand mit an die Wangen gepressten Händen am Fuße der Treppenstufen, und seine Ungehaltenheit war einem Ausdruck tiefster Glückseligkeit gewichen.
»Mein Auto«, rief er auf Amerikanisch. »Der S600. Der Wagen ist ein wahres Kunstwerk.«
»Ein V8?«, fragte einer seiner Begleiter.
Jinns Antwort klang fast empört. »Ein V12!«
Sofort stürzte sich die gesamte Horde auf den Wagen und umkreiste ihn mit weit aufgerissenen Augen. Hier und da schwebten Hände ehrfürchtig über der Karosserie, so als ob ihre Besitzer es nie wagen würden, den Wagen auch nur zu berühren. Jinn umrundete unterdessen prüfend das Auto. Seine Blicke waren kritischer als die aller anderen Kunden.
Rasch ließ Jonathan das Seitenfenster hinunter, um zu verhindern, dass man die drei Einschlagspuren der Patronen entdeckte. Die Dellen an der Stoßstange hatte er eigenhändig wieder ausgebeult. Eine Werkstatt hatte ihm den passenden schwarzen Autolack verkauft. Es war nicht perfekt, aber man musste sich schon auf den Boden legen, um die ausgebesserte Stelle zu entdecken. Anschließend hatte Jonathan den Wagen gewaschen, poliert und letzte Hand an die Felgen gelegt, bevor er die Stadtgrenze von Davos überfahren hatte. Abgesehen vom Seitenfenster sah der Sedan aus, als wäre er gerade erst vom Fabrikband gelaufen.
Jonathan stieg aus dem Wagen.
Der Sicherheitschef der Gruppe trat auf ihn zu, aber ohne jede Spur von Feindseligkeit. Stattdessen verbeugte sich der Mann, schüttelte Jonathan überschwänglich die Hand und äußerte sich wortgewaltig über die Perfektion des Wagens. Mit seinen 1,84 Metern, dem ordentlich gekämmten und gescheitelten Haar und in seinem tadellosen Anzug wirkte Jonathan wie der Prototyp eines deutschen Autoverkäufers. Das Mutterland von Mercedes-Benz war seit langem mit der islamischen Republik Iran eng verbunden. Jinn folgte seinem Bodyguard auf dem Fuße. Falls es den Minister überraschte, einen Mann anstelle von Eva Krüger zu sehen, so ließ er es sich nicht anmerken. Vielmehr schüttelte er Jonathan nicht gerade fest die Hand und sagte auf Englisch: »Ich grüße Sie, mein Freund.«
»Evan Krüger«, stellte Jonathan sich vor, während er die Hand des Mannes schüttelte und spürte, wie Jinn bei der Erwähnung des Namens kurz zusammenzuckte. Mit einem aufgesetzten Lächeln trat der Iraner einen Schritt näher, und Jonathan flüsterte ihm zu: »Eva hatte einen Unfall. Ich bin an ihrer Stelle geschickt worden.« Und dann lauter: »Es wäre mir eine große Ehre, Sie zu einer kurzen Probefahrt in Ihrem neuen Auto einzuladen, Herr Jinn.«
Sofort trat der Sicherheitschef neben Jonathan und äußerte auf Farsi eine Reihe von Bedenken. Jonathan verstand nur die Hälfte davon, bekam aber mit, worum es ging. Der Technologieminister durfte unter keinen Umständen in das Auto steigen und ohne Leibwache damit herumfahren. Parvez Jinn wies sämtliche Bedenken zurück. Niemand erteilte ihm Vorschriften, was er zu tun und zu lassen habe. Er entließ seine Bodyguards mit einer knappen Geste und setzte sich auf den Beifahrersitz. »Wir fahren!«
Jonathan nickte und öffnete die Fahrertür. Es passte alles zusammen. Das Treffen sollte im Auto stattfinden. Jede Art des Informationsaustausches erforderte eine gewisse Privatsphäre. Das Auto lieferte die ideale Tarnung dafür: Einerseits war es Eva Krügers Eintrittskarte nach Davos, andererseits diente es Jinn als eine Art Schutzraum, in dem er sich verstecken und seine verräterischen Informationen an die andere Seite weitergeben konnte.
Als er ins Auto stieg, entdeckte Jonathan Hannes Hoffmann, der die Auffahrt hinaufkam. Kormoran. Hoffmann war über dem einen Auge genäht und trug einen Hut, den er tief ins Gesicht gezogen hatte, um die Wunde zu verbergen. Ihre Blicke trafen sich. In der nächsten Sekunde schon rannte Hoffmann die Straße hinauf. Jonathan zog die Wagentür zu, und der Wagen sprang an. Jinn zuckte auf seinem Sitz zusammen, so wie Jonathan vor einigen Tagen.
»Automatische Zündung«, erklärte Jonathan und spielte seine Rolle nach allen Regeln der Kunst. »Sie können sie aber auch auf manuell stellen, wenn Ihnen das lieber ist.«
»Bemerkenswert.« Jinn sah sich beeindruckt im gut ausgestatteten Wageninneren um.
»Ich habe die Geschenke mitgebracht, die Eva Ihnen versprochen hat«, sagte Jonathan, während er die Automatikschaltung des Wagens auf »Fahrt« einstellte und das Gaspedal durchdrückte. »Den Pullover und natürlich auch Ihr Geld.«
»Warten Sie«, sagte Jinn und bedeutete Jonathan, mit der Übergabe des Geldes noch so lange zu warten, bis sie außer Sichtweite des Hotels waren.
Jonathan schloss das Fenster, und die getönten Scheiben verbargen den Blick ins Wageninnere. Hoffmann versuchte, den Mercedes aufzuhalten, indem er sich mitten auf die Straße stellte, doch Jonathan dachte gar nicht daran anzuhalten. Stattdessen beschleunigte er den Wagen noch etwas mehr. Hoffmann sprang zur Seite und fiel in eine Schneewehe.
Parvez Jinn hingegen war zu beschäftigt damit, das eingebaute Navigationssystem zu studieren, um den Vorfall überhaupt zu bemerken.