53

Nachdem der Notruf eingegangen war, hatten sich zwei Streifenpolizisten zum Waldhoheweg 30 begeben. Die Beamten klingelten bei der Anruferin, und sie öffnete ihnen die Haustür. Die Polizisten waren nicht wirklich in Alarmbereitschaft. Laut einer Kriminalstatistik gehörte dieses Wohngebiet zu den sichersten der ganzen Stadt. Im vergangenen Jahr hatte es hier nicht einen Fall von bewaffnetem Raub, Vergewaltigung oder Mord gegeben.

»Er ist noch im Apartment«, sagte die Mieterin nervös, nachdem sie die Polizisten hereingelassen hatte. »Ich hab die Wohnungstür nach meinem Anruf nicht aus den Augen gelassen. Er ist nicht herausgekommen.«

»Und warum halten Sie ihn für einen Einbrecher?«

»Ich habe nie behauptet, dass er ein Einbrecher ist. Ich hab nur gesagt, dass er ein Eindringling ist. Er hat hier nichts zu suchen. Zuerst hat er behauptet, dass er auf Eva Krüger wartet. Er wollte, dass ich ihn ins Haus lasse. Aber er blutete hier …« Sie zeigte auf eine Stelle an ihrem Hals. »Ich hab ihm gesagt, dass er lieber draußen auf seine Schwägerin warten soll, weil ich ihn nicht kenne. Eine Minute später habe ich ihn auf dem Flur gehört. Er hatte einen Schlüssel zu ihrer Wohnung. Ich hab gesehen, wie er sie betreten hat.«

»Frau Krüger ist seine Schwägerin?«

»Hat er jedenfalls behauptet. Er könnte aber gelogen haben. Ich hab ihn noch nie zuvor hier gesehen.«

Die Polizisten stellten ihr abwechselnd ihre Fragen. »Haben Sie die Frau gesehen, die normalerweise dort wohnt … diese Frau Krüger?«

»Nein.«

»Haben Sie den Mann auf seine Verletzung am Hals angesprochen?«

»Er hat behauptet, er hätte einen Unfall gehabt. Er sagte, er wäre Arzt und würde sich um die Wunde kümmern, sobald er in der Wohnung sei.«

Den Polizisten war ihre Ungeduld deutlich vom Gesicht abzulesen. »Hat dieser Arzt Sie auf irgendeine Art und Weise bedroht?«

»Nein. Er war höflich, aber … aber er hat hier nichts zu suchen, solange Frau Krüger nicht da ist. Ich hab ihn noch nie zuvor gesehen. Er hat mir Angst eingejagt.«

Die Polizisten wechselten einen Blick. Noch so eine Neurotikerin, die nichts Besseres zu tun hatte, als rund um die Uhr den Leuten hinterherzuschnüffeln. »Wir werden mal mit dem Herrn sprechen. Hat er Ihnen zufällig auch seinen Namen genannt?«

»Nein.« Die Frau runzelte die Stirn.

»Also gut, bleiben Sie bitte hier in Ihrer Wohnung.«

Jonathan stand mit gerecktem Kinn im Bad und betrachtete seinen Hals. Die Schnittwunde hatte zu heilen begonnen, das auseinanderklaffende Gewebe wuchs bereits wieder zusammen. Bei seinen Auslandseinsätzen hatte er täglich Verletzungen wie diese zu Gesicht bekommen. Es gab nur eine Möglichkeit, die Wunde ohne Narbenbildung zu verschließen: Sie musste wieder aufgerissen und danach sauber zusammengenäht werden, doch das kam hier und jetzt nicht in Frage.

Er goss sich ein Glas Wodka ein und trank es aus, um sich Mut zu machen.

»Stillhalten«, beschwor er sich mit leiser Stimme und führte Nadel und Faden zum Hals.

Er holte tief Luft. Die Nadel war nicht schlecht, obwohl er sie in einem Nähkasten gefunden hatte. Angemessen spitz. Angemessen steril. Er hatte schon mit schlechteren Instrumenten gearbeitet. Mit den Fingern seiner linken Hand presste er die Haut an den Wundrändern fest zusammen und machte sich an die Arbeit.

Lüge, dachte er. Alles war von Anfang nichts weiter als eine große Lüge gewesen. Emma war nicht Emma und sein Leben mit ihr zum größten Teil nur eine Farce gewesen. Ein Theaterstück, bei dem ein Unbekannter im Hintergrund Regie geführt hatte. Überraschenderweise fühlte er sich angesichts dieser Erkenntnis eher befreit als enttäuscht. Ihm war der Schleier von den Augen gerissen worden, und zum ersten Mal sah er die Dinge so, wie sie wirklich waren. Nicht nur das, was direkt vor ihm lag, sondern auch das, was sich am Rand abspielte. Alles in allem kein besonders erfreuliches Bild. Jonathan, die Schachfigur. Jonathan, der naive Idealist. Jonathan, die ahnungslose Marionette irgendeines unbekannten Strippenziehers.

Doch wer steckte dahinter? Wer hatte seine Emma nur dazu gebracht?

Er platzierte den dritten Stich. Der Faden reizte die Wunde und trieb ihm die Tränen in die Augen. Er zog an der Nadel und schloss die Naht.

Wütend. Genau das war er. Wütend auf Emma. Wütend auf Hoffmann. Wütend auf alle, die daran beteiligt gewesen waren, ihm sein Leben zu stehlen und ihn so zu manipulieren, dass er ihren Zwecken am besten diente. Ein unverzeihlicher Diebstahl.

Doch was war mit dem Rest? Dem Bereich seines Lebens, der nur ihm und Emma gehört hatte? War das auch nur gespielt gewesen? Er wollte ihre intimen Momente auch weiterhin als etwas Besonderes betrachten, als etwas, das neben Emmas höherer Aufgabe existiert hatte. Ihr Liebesleben. Die zärtlichen Blicke. Die Berührungen ihrer Hand und die Zeiten, in denen sie sich einander ohne Worte so nahe gefühlt hatten.

Acht Jahre … wie war das nur möglich gewesen?

Er ließ die Nadel sinken und stützte sich mit der Hand am Waschbecken ab.

Er begegnete seinem Blick im Spiegel. Du willst es einfach nicht begreifen, oder? Sie hat dir noch nicht mal gesagt, wie sie wirklich heißt. Hat vielmehr dafür gesorgt, dass wir quer durch Afrika, Europa und den Nahen Osten reisen konnten, um ihre ganz persönlichen Aufgaben zu erledigen. Deine Frau hat ein perfektes Doppelleben geführt. Schau dich doch nur in dieser Wohnung um. Wirf einen Blick auf das winzige schwarze Kleid. Sie hat andere Männer mit hierhergebracht. Hat Wodka mit ihnen getrunken und … sie verführt.

Er blickte sich lange ins Gesicht und stellte sich der Wahrheit.

Den Schmerz unterdrückend, beendete er schnell und geschickt die Arbeit an seiner Halswunde, verknotete den Faden und schnitt ihn mit der Schere ab, die er ebenfalls im Nähkasten gefunden hatte. Unter den gegebenen Umständen hatte er seine Sache ziemlich gut gemacht. Er betupfte die Naht mit Alkohol und klebte dann ein Pflaster auf die Wunde. Nachdem er sein Hemd vom Boden aufgehoben hatte, ging er zurück in die Küche und goss sich noch ein Glas Wodka ein. Die Marke wollte er sich für die Zukunft merken. Zubrowka. Die polnische Bezeichnung für »unverbesserliches, leichtgläubiges Arschloch«.

Er zog sich seinen Mantel über und schob die Hände in die Hosentaschen. Seine rechte Hand berührte den Ehering. Er schwor sich, ihn für den Rest seines Lebens zu behalten. Zur Erinnerung. Dann schaltete er das Licht in der Küche aus und schlenderte zurück ins Wohnzimmer. Er lief einmal durch den Raum und dachte nach über dieses Domizil. Alles hier war eine Illusion. Nichts weiter als Bühnendekoration.

In diesem Moment hämmerte jemand mit einer Faust gegen die Tür. »Polizei. Bitte aufmachen. Wir möchten mit Ihnen sprechen.«

Jonathan erstarrte. Das hatte er der Frau zu verdanken, die er vor der Haustür getroffen hatte. Sie musste die Polizei alarmiert haben. Er stellte sich vor, wie die Sache weitergehen würde. Sie würden nach seinem Ausweis fragen und routinemäßig überprüfen, ob etwas gegen ihn vorlag. Die Antwort würden sie prompt erhalten: Dr. Jonathan Ransom, gesucht wegen Mordes an zwei Polizeibeamten. Vermutlich bewaffnet und sehr gefährlich. Sie würden ihn mit ausgestreckten Armen und Beinen auf den Boden werfen und ihm Handschellen anlegen.

Es hämmerte erneut an der Tür.

»Polizei. Bitte, Herr Doktor, wir wissen, dass Sie in der Wohnung sind. Wir möchten mit Ihnen über Ihre Schwägerin, Frau Krüger, sprechen.«

Doch Jonathan war an dem Punkt angelangt, an dem er nicht mehr aufgeben konnte. Wenn er schon bis zum Hals in der Sache mit drinsteckte, dann konnte er sie genauso gut bis zum bitteren Ende durchziehen.

Er lief ins Schlafzimmer und riss die Balkontür auf. Draußen sah er sich gründlich um und warf einen Blick über das Geländer nach unten. Der nächste Balkon lag zwei Stockwerke unter ihm. Die Wand war verputzt und ohne Unebenheiten. Es gab keine Möglichkeit, sich irgendwie herunterzulassen.

Das Hämmern an der Tür wurde energischer.

Er lief zurück ins Wohnzimmer, danach ins Arbeitszimmer, wieder ins Schlafzimmer und schließlich in die Küche. Dort blieb er wütend stehen. Er saß in der Falle. Der einzige Weg aus der Wohnung führte durch die Eingangstür.

Wenn er nicht hinauskonnte, dann musste er sie eben zwingen hereinzukommen …

Er ging durch die Küche, beeilte sich aber nicht unnötig. Er wandte sich nicht einmal um oder dachte auch nur daran, auf das laute Hämmern an der Tür zu reagieren. Stattdessen ging er direkt zum Herd. Es war ein modernes Einbaugerät mit blanker Stahlfront und integriertem Sensorbedienfeld, auf dem man durch Berührung die gewünschte Temperatur einstellen konnte. Das half ihm also auch nicht weiter. Der Herd jedoch wurde mit Gas betrieben. Er entfernte die Abdeckplatte. Mit einem Messer, das er aus einer der Schubladen holte, stach er in die Zündflamme. Danach drehte er die Regler aller fünf Kochstellen voll auf. Das Gas schoss aus der Leitung und erfüllte den Raum mit einem schwachen süßlichen Geruch.

Das Hämmern an der Tür hatte aufgehört. Im Flur waren aufgeregte Stimmen zu hören. Der Türknauf wurde erfolglos herumgedreht. Kurz darauf hörte er das kratzende Geräusch von Metall auf Metall. Die Polizei versuchte, das Türschloss zu knacken.

»Ich komme«, rief Jonathan. »Einen Moment, bitte.«

»Bitte, beeilen Sie sich«, kam die Antwort. »Sonst brechen wir die Tür auf.«

»Eine Minute«, rief er. Er schloss die Verbindungstür zur Küche und lief eilig ins Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch fand er einige Papiere und rollte sie zu einem Trichter zusammen. Im Badezimmer stopfte er Toilettenpapier in den Trichter. Dann legte er das Ding aus der Hand, nahm ein großes Badehandtuch und tränkte es mit kaltem Wasser. Er wrang es aus, faltete es zusammen und legte es sich über den Arm. Im Wohnzimmer fand er in einem Aschenbecher ein Streichholzbriefchen.

Die Polizisten hämmerten erneut gegen die Tür. Er hörte das Knacken ihres Funkgerätes.

Inzwischen drang das Gas durch den Spalt unter der Küchentür ins Zimmer. Er schnüffelte und wich zurück. Dann presste er sich mit dem Rücken gegen die Wand, die an die Küche grenzte, drapierte das Handtuch über Kopf und Schultern, riss ein Streichholz an und entzündete den Papiertrichter. Mit ausgestrecktem Arm hielt er die provisorische Fackel so weit wie möglich von seinem Körper entfernt, bis sie lichterloh brannte.

Jetzt!, dachte er.

Er öffnete die Verbindungstür, schleuderte den brennenden Papiertrichter in die Küche und warf sich zu Boden.

Er sah den lodernden Feuerball und hörte die Explosion in der Küche, bei der das auf der Arbeitsplatte aufgestapelte Geschirr durch die Luft flog, Gläser zersprangen, Fensterscheiben zerbarsten und die Stichflamme wie ein Schnellzug durch die Tür ins Wohnzimmer schoss, bevor sie wie von unsichtbarer Hand wieder in die Küche zurückgezogen wurde.

Jonathan kroch auf dem Boden Richtung Eingangstür und versteckte sich in einem Schrank direkt daneben. Kaum eine Sekunde später hörte er einen Knall. Das Türschloss war aufgeschossen worden. Mit gezückten Waffen stürmten zwei Polizisten die Wohnung und liefen geradewegs auf den Brandherd zu. Jonathan beobachtete sie durch einen Spalt in der Schranktür.

Einer der Gesetzeshüter wagte sich näher an die Flammen heran. »Er ist durchs Fenster abgehauen!«

Der andere stieg über das zertrümmerte Geschirr und steckte den Kopf durch die Küchentür. »Er ist weg.«

Jonathan schlüpfte aus dem Schrank, huschte durch die Vordertür und rannte die Treppen hinunter.

Dreißig Sekunden später hatte er das Haus verlassen.

Fünf Minuten später saß er im Mercedes, ließ den Motor an und fuhr auf direktem Weg in Richtung Autobahn.

Reich, Christopher
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