28
Die Villa Principessa stand am Ende eines Kieswegs. Ein renoviertes Landhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert mit Efeu an den rau verputzten Wänden und mit Geranienblumenkästen vor den oberen Schlafzimmerfenstern. Der Rosengarten vor dem Haus war von einer Steinmauer eingefasst.
Es war neun Uhr morgens. Der Regen bildete einen dichten Vorhang und fiel so tosend und unermüdlich vom Himmel wie ein Wasserfall.
Simone knöpfte ihren Mantel zu und strich sich das Haar hinter die Ohren. »Wir werden ihn also einfach so mit allem konfrontieren? Und wenn er behauptet, dass er die Gepäckstücke nicht verschickt hat? Was machen wir dann?«
»Warum sollte er es abstreiten?«, sagte Jonathan. »Wenn er erst mal erfahren hat, dass Emma tot ist, wird er froh sein, sein Auto wiederzubekommen.«
»Und sein Geld?«
»Auch sein Geld.« Jonathan öffnete das Handschuhfach und nahm den Briefumschlag mit den Geldscheinen heraus. »Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht … Ich meine, darüber, was Emma vorhatte.«
Simones Augen forderten ihn auf weiterzusprechen.
»Ich glaube, es ging um Medizin«, sagte Jonathan. »Emma hat immer davon gesprochen, dass die Hilfsgüter nie ihren eigentlichen Zielort erreichen. Das machte sie verrückt. Du weißt ja, wie’s an unseren Einsatzorten zugeht. Jede zweite Lieferung wird von der Regierung beschlagnahmt oder von Zollbeamten gestohlen, die dann versuchen, sie uns für den doppelten Preis erneut zu verkaufen. Wenn wir siebzig Prozent von dem erhalten, was uns eigentlich zusteht, dann können wir das schon als einen echten Erfolg verbuchen. Ich denke, dass ihre Geheimniskrämerei etwas damit zu tun hatte. Ich meine, sieh dir nur mal dieses Haus an. Es hat garantiert ein Vermögen gekostet. Ich schätze, dass Blitz ein hohes Tier in einem großen Pharmakonzern ist, mit dem sie irgendwas ausgeheckt hat. Eine Schmiergeldzahlung vielleicht. Emma glaubte immer, dass sie nicht genug unternähme, um die Dinge wirklich zu verbessern.«
»Und du glaubst, dass Blitz es uns sagen wird?«
»Mit einhunderttausend Franken kann man durchaus jemanden zur Kooperation überreden.«
»Oder sehr wirkungsvoll zum Schweigen bringen. Ich habe das Gefühl, dass du irgendwas übersehen hast. Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass es vielleicht Blitz war, der die beiden Polizisten auf dich angesetzt hat?«
»Das ergibt keinen Sinn. Zunächst einmal hätte er von Emmas Unfall wissen müssen, und das ist unmöglich. Wie stellst du dir das vor? Dass er Emma die Gepäckstücke schickt und ihr dann ein paar korrupte Bullen auf den Hals hetzt, sobald sie sie abholt? Niemals. Nein, das war garantiert nicht Blitz. Es war jemand anders.«
»Jemand, der über Emmas Unfall Bescheid wusste?«
»Oder jemand, der die ganze Zeit auf die Gepäckstücke gewartet hat.«
Jonathan stieg aus dem Wagen und trat durch das Eisentor. Einen Moment später war Simone an seiner Seite. »Gottfried Blitz« stand auf dem Türschild. Jonathan drückte auf den Klingelknopf. Es erklang ein Gong, der sich wie eine Universitätsglocke anhörte. Niemand öffnete. Er kramte in seiner Hosentasche, fand die Pfefferminzbonbons aus Eva Krügers Reisetasche und steckte sich eins davon in den Mund. »Möchtest du auch eins?«
Simone schüttelte ihren Kopf.
Jonathan legte das Ohr an die Tür und lauschte. Irgendwo im Haus war klassische Musik zu hören. Er läutete noch einmal. Als sich wieder nichts rührte, schwang er ein Bein über das Geländer und reckte seinen Hals, um einen Blick in das vordere Fenster zu werfen. Drei Dackel lagen schlafend auf dem Marmorfußboden. Aus den Augenwinkeln sah er einen Schatten davonhuschen.
»Herr Blitz«, rief er. »Ich muss mit Ihnen sprechen. Öffnen Sie bitte die Tür.«
Sein Blick wanderte wieder zu den Hunden am Boden. Ihm fiel auf, wie still die Tiere lagen. Unnatürlich still für das Auge eines geschulten Arztes. Er betrachtete die Körper ganz genau. Es sah nicht so aus, als ob eines der Tiere atmete. Eines lag ganz besonders seltsam da, mit unnatürlich angewinkeltem Kopf und aus dem Mundwinkel hängender Zunge.
Jonathan versuchte, den Türgriff zu bewegen, doch die Eingangspforte war verschlossen.
»Was machst du da?«, fragte Simone. »Du kannst doch nicht einfach ins Haus gehen.«
Jonathan hämmerte gegen die Tür. »Herr Blitz! Mein Name ist Ransom. Ich glaube, Sie kennen meine Frau Emma. Bitte öffnen Sie doch. Es geht um die Gepäckstücke. Ich habe sie bei mir. Und auch das Geld.«
In diesem Moment wurde drinnen eine Tür zugeschlagen.
»Klopf weiter«, sagte er, drehte sich um und lief die Treppenstufen hinunter.
»Wo willst du hin?«, rief Simone.
»Zur Hinterseite des Hauses. Irgendwas stimmt hier nicht.«
»Aber … warte!«
Jonathan lief um die Villa herum und erreichte einen kleinen Trampelpfad. Irgendwo auf der anderen Seite drängte ihn Simone, doch stehen zu bleiben, doch ihre Worte drangen nur schwach bis zu ihm durch. Die Hintertür stand offen. Musik quoll ihm entgegen - »Der Ritt der Walküren«. Er ging ins Haus und sah, dass er in einer engen Küche stand. Er schlich voran und verzog bei jedem Knarren des Parkettbodens das Gesicht. Er konnte fast körperlich spüren, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte, doch statt Furcht zu empfinden, fühlte er sich hellwach und beinahe freudig erregt. Kampfbereit.
Er trat aus der Küche und durchquerte das Wohnzimmer, wo die Hunde neben der Eingangstür lagen. Keiner von ihnen hob den Kopf, als er näher kam. Er beugte sich zu ihnen hinunter, um sie sich genauer anzusehen. Die Dackel waren tot, ihr Genick gebrochen. Er richtete sich wieder auf. Sein Atem ging schnell, und das Herz hämmerte in seiner Brust. Direkt vor ihm führte eine Treppe in den zweiten Stock. Er hörte etwas … direkt vor ihm … Er lief weiter den Flur hinunter. Mit einer schnellen Bewegung stieß er die erstbeste Tür auf der linken Seite auf. Ein Gästebad. Leer. Das Geräusch wurde immer schwächer. Ein schwerfälliges, unregelmäßig pfeifendes Atmen.
In diesem Moment drang ihm der Geruch von Kordit in die Nase, und Tränen schossen ihm in die Augen.
Er betrat das Arbeitszimmer.
»Oh Gott«, stieß er aus und lief eilig hinein.
Ein Mann saß zusammengesunken an seinem Schreibtisch. Sein Mund stand offen, seine Brust hob und senkte sich, während er mühsam nach Luft rang. Blitz? Höchstwahrscheinlich. An der Schläfe des Mannes war eine Wunde zu sehen, ein sauberes Einschussloch mit vom Schießpulver geschwärzten Rändern. Hatte Blitz Selbstmord begangen? Jonathan trat einen Schritt zurück und sah sich vergeblich nach einer Pistole um. Er dachte an den Schatten, den er im äußersten Winkel des Wohnzimmers gesehen hatte. Kein Selbstmord. Mord!
Jonathan warf einen Blick zur Tür und fragte sich, ob der Killer wohl noch immer im Haus und er selbst vielleicht in Gefahr war. Dann schob er den Gedanken beiseite und sprach Blitz an, nannte ihm seinen Namen und ließ ihn wissen, dass er Emmas Ehemann war. Auch wies er den Schwerverletzten an, nicht aufzugeben, sagte ihm, dass er alles, was in seiner Macht stehe, tun würde, um ihm das Leben zu retten.
So behutsam wie möglich richtete er Blitz an seinem Schreibtisch auf und legte ihn auf den Boden, wobei er darauf achtete, dass seine Luftröhre frei blieb und er weiteratmen konnte. Behutsam drehte er den Kopf von Blitz zu sich und betrachtete die Einschusswunde. Er hatte schon zu viele solcher Verletzungen gesehen. Großes Kaliber. Ausgehöhlter Schusskanal. Die Überlebenschancen von Blitz waren alles andere als gut. Doch im Moment atmete der Mann noch. Das war alles, was zählte.
Er rannte zurück ins Wohnzimmer, nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer des Rettungsdienstes. Als die Stimme am anderen Ende fragte, was passiert sei, sagte er: »Lebensbedrohliche Kopfwunde mit großem Blutverlust.« Als ihm bewusst wurde, dass er Englisch sprach, wiederholte er den Satz noch einmal auf Italienisch.
»Jon, was ist los? Was ist passiert?« Simone tauchte im Türrahmen zum Wohnzimmer auf, und die Besorgnis stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. »Deine Hände sind voller Blut.«
»Auf dem Flur ist ein Badezimmer. Tauche ein paar Handtücher in warmes Wasser, und bring sie mir.«
»Handtücher? Was ist denn los? Warum -«
»Mach schon!«
Jonathan lief zurück ins Arbeitszimmer und kniete sich neben Blitz. Es gab nicht viel, was er bis zum Eintreffen des Rettungswagens tun konnte, außer sicherzustellen, dass das Herz des Mannes weiterschlug. Die Pupillen von Blitz waren geweitet, und der Atem ging schwach. Jonathan nahm das Handgelenk des Verletzten, konnte aber keinen Puls mehr fühlen. Er versuchte, den Mann wiederzubeleben. Dreimal kräftig auf den Brustkorb pressen, zwei Atemstöße. Simone platzte ins Zimmer. Als sie Blitz entdeckte, stieß sie einen lauten Schrei aus und ließ die Handtücher zu Boden fallen.
»Ich hab einen Krankenwagen gerufen«, sagte er. »Sie müssten jede Minute hier sein. Leg die Handtücher neben seinen Kopf.«
»Aber weshalb?« Widerstrebend hob sie die Handtücher auf und legte sie neben Jonathan auf den Boden. Als sie sich wieder aufrichtete, taumelte sie leicht, während sie zusah, wie sich das Blut auf dem Teppich ausbreitete. »Er ist tot.«
»Nein, er lebt noch. Wenn ich es schaffe, dass sein Herz weiterschlägt, bis der Krankenwagen kommt, hat er eine Chance.«
»Er wurde in den Kopf geschossen. Lass ihn doch einfach in Ruhe.«
Jonathan legte seinen Kopf auf die Brust von Blitz. Doch er konnte keinen Herzschlag mehr hören. Die Atmung hatte ausgesetzt. Er sah zu Simone auf und schüttelte den Kopf.
»Wer hat das getan?«, fragte sie.
»Ich dachte, ich hätte etwas gesehen … einen Schatten … Ich habe eine Tür zuschlagen hören. Er muss weggerannt sein.«
»Die Polizei wird jede Minute hier sein. Wir müssen von hier verschwinden.«
Jonathan stand auf. Das Licht kam ihm plötzlich unerträglich hell vor, und er musste blinzeln. Er holte tief Luft und wartete auf das Gefühl des Versagens, das unausweichlich auf den Verlust eines Menschenlebens folgte. Doch nichts geschah. Tatsächlich war er frisch, beinahe glücklich und viel zu energiegeladen für jemanden, der in der letzten Nacht kein Auge zugemacht hatte. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Seine Fingerspitzen fühlten sich bei der Berührung wie elektrisiert an. All seine Sinne waren bis aufs Äußerste geschärft. Sehen. Fühlen. Hören. Nur sein Mund war wie ausgedörrt, und die Zunge fühlte sich pelzig an. Er warf einen prüfenden Blick in den Spiegel an der Wand. Seine Augen starrten ihm entgegen, wild und anklagend, die Pupillen beinahe vollständig geweitet.
Wieder ging ein Adrenalinschub durch seinen Körper, und ihm wurde klar, was die Ursache für all das war: ein starkes Amphetamin mit einer kleinen Beimischung zur Schärfung der Sinne.
Er kramte die Packung Pfefferminzbonbons aus seiner Tasche. Wie viele davon hatte er in der letzten Stunde gelutscht? Zwei? Drei?
»Komm schon, Jonathan. Jetzt sofort.« Simone packte ihn am Arm und versuchte, ihn zur Tür zu ziehen, doch Jonathan schüttelte ihre Hand ab. »Gib mir nur eine Minute«, sagte er, als ihm die Situation klar wurde. »Ich gehe nicht, bevor ich nicht irgendwas über diesen Typ herausgefunden habe.«
»Aber, Jonathan …«
»Hast du mich nicht verstanden?«, fuhr er sie an. »Glaubst du, wir können ewig vor allem davonlaufen?« Er holte tief Luft, versuchte, ruhiger zu werden und die aufsteigende Hysterie niederzuschlagen. »Blitz kannte Emma«, sagte er. »Sie haben zusammengearbeitet. Das hier ist die Chance für uns herauszufinden, in was sie wirklich verwickelt waren.«
Auf dem Schreibtisch stand ein aufgeklappter Laptop. Der Monitor war übersät von flimmernden Pixeln. Er hämmerte auf ein paar Tasten, doch der Bildschirm blieb unverändert. Also wandte er sich dem Schreibtisch zu und allem, was dort zu finden war. Er öffnete die oberste Schublade und fand eine halbautomatische Waffe. Mit Handfeuerwaffen kannte er sich gut genug aus, um zu erkennen, dass es sich bei der Waffe um eine SIG Sauer handelte - die in der Dritten Welt bevorzugte Offizierspistole. Die nächste Schublade war mit allerlei unsortierten Zetteln, Stiften und Bleistiften angefüllt. Er schüttete den Inhalt auf den Schreibtisch und durchwühlte den Haufen. Notizen mit Namen und Telefonnummern. Ausgewählte Rechnungsbelege. Streichholzschachteln.
Die Schublade mit der Aktenablage war verschlossen. Er brach einen Brieföffner in zwei Hälften und versuchte, sie damit zu öffnen, bevor er es aufgab. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit den Ablagekörben für die Ein- und Ausgangspost auf dem Regal hinter dem Schreibtisch zu. Er blätterte die Papiere durch. Auf einer Aktennotiz stand in großen Buchstaben »ZIAG« und darunter der ausgeschriebene Name der Gesellschaft: Zug Industriewerk AG. Das Memorandum war von einem Hannes Hoffmann an Eva Krüger - mit CC an Gottfried Blitz - adressiert. Betreff: Projekt Thor.
Eva Krüger.
Dort stand er also schwarz auf weiß, der Beweis, den er gesucht hatte. Als ob die Leiche mit der Kugel im Kopf noch nicht Beweis genug wäre.
In der Aktennotiz stand: »Voraussichtlicher Abschluss gegen Ende des ersten Quartals 200-. Letzte Lieferung an Kunden am 10.2. Demontage aller Montageeinheiten muss am 13.2. abgeschlossen sein.«
»Ich höre eine Sirene«, sagte Simone flehend. »Bitte, Jonathan. Lass uns von hier verschwinden.«
»Gleich.«
Unter der Aktennotiz lagen mehrere unbeschriftete Briefumschläge. Im ersten fand Jonathan drei Passbilder von Emma, die Ähnlichkeit mit dem Foto aus dem gefälschten Führerschein hatten. Im zweiten Umschlag waren noch mehr Bilder, dieses Mal von einem blassen blonden Mann in Jonathans Alter. »Hoffmann« stand auf der Rückseite. Es war die gleiche männlich wirkende Handschrift, mit der auch der Brief an Emma adressiert worden war. Er starrte auf das Foto. Hannes Hoffmann. Das war auch der Absender der Aktennotiz an Eva Krüger.
»Undercover«, murmelte Jonathan, der sich an das Wort aus einem der Spionageromane erinnerte, die er als Jugendlicher verschlungen hatte. Alles hier war »undercover«. Emma, die nicht Emma war. Amphetamine, die wie Pfefferminzbonbons aussahen. Egal, ob Mensch oder Ding, alles war verschleiert, alles getarnt worden. Er betrachtete den Körper, der ausgestreckt auf dem Boden lag. Und Blitz? Wer war er, wenn er nicht gerade Blitz war?
Jonathan schüttelte sich, als ihm klar wurde, wie gewaltig das Ausmaß der Täuschung war. Das hier war kein einmaliger Betrug. Emma hatte keinen afrikanischen Gesundheitsminister bestochen oder Pharmazeutika auf dem Graumarkt gekauft. Das hier war eine weitaus größere Sache. Etwas von ganz anderem Kaliber. Es war die Welt der »(keine Rechtschreibvorschläge)«, Scheinidentitäten und perfekt gefälschten Führerscheine.
»Jonathan, bitte!« Simone klammerte sich an der Rücklehne des Stuhls fest, als würde nur das sie noch daran hindern wegzulaufen.
Sirenen. Mindestens zwei. Er hob den Kopf, und in dieser Sekunde wusste er, dass sie näher kamen und sich nicht entfernten. Und das mit hoher Geschwindigkeit. Er wischte mit der Hand über den Schreibtisch, schob alle Papiere zusammen und stopfte sie in eine lederne Aktentasche, die neben dem Regal stand. »Lauf«, sagte er. »Ich bin direkt hinter dir.«
»Ja, aber … beeil dich!«
»Ich bin sofort da«, sagte er und schob Simone aus dem Zimmer. »Geh hinten raus!«
Simone rannte aus dem Zimmer.
Jonathan stand im Türrahmen. Die Sirenen waren jetzt direkt vor dem Haus. Aufgeregte Stimmen drangen durch den unermüdlich trommelnden Regen. Er lief zum Schreibtisch von Blitz zurück und öffnete die oberste Schublade. Einige Sekunden starrte er auf die Pistole, dann nahm er sie an sich und steckte sie sich in den Hosenbund.
Im Flur verlangsamte er seinen Lauf gerade so viel, dass er die Polizeiwagen am Straßenrand sehen konnte und die Polizisten, die mit gezückten Waffen auf das Haus zurannten. Ein kleiner, entschlossen wirkender Mann in einem schwarzen Mantel lief vor der Gruppe über den Kiesweg.
Polizei? Wo war der Krankenwagen, den er telefonisch angefordert hatte?
Fragen. Viel zu viele Fragen.
Jonathan hetzte durch das Haus und holte Simone an der Hintertür ein. Er ergriff ihre Hand und zog sie durch den Garten.
»Wo laufen wir hin?«, fragte sie und versuchte mühsam, mit ihm Schritt zu halten. »Das Auto ist auf der anderen Seite.«
»Vergiss das Auto. Das können wir später holen.«
Am Feldweg hielten sie nicht an, sondern liefen weiter den Hügel hinauf. Jonathan ignorierte den Wind, den Regen und das bis an die Brust reichende Unterholz und bahnte sich einen Weg bis zum Gipfel. Simone hinter ihm keuchte, japste und fluchte, aber irgendwie schaffte sie es, ihm zu folgen. Als er schließlich einen Blick zurückwarf, waren sie gut hundertzwanzig Meter bergauf gelaufen, und zwischen ihnen und der Villa befanden sich achthundert Meter.
»Ich kann nicht mehr«, sagte Simone und schnappte nach Luft. »Ich brauche eine Pause.«
Doch es war nicht Simones Stimme, die er hörte, sondern die von Emma. Ja, einen Moment lang war es, als sähe er seine Frau, in Rot und Schwarz gekleidet, wie sie auf dem Abhang unter ihm gestanden hatte. Er ergriff Simones Hand. »Komm weiter«, sagte er. »Es gibt nur einen Weg.«
Und mit vor die Brust gepresster Aktentasche, drehte er sich um und lief immer höher hinauf in die Berge.