72

Wie ein siegreicher Feldherr stand Alphons Marti mit in die Hüften gestemmten Händen auf dem Hügel und blickte über die Lichtung. »Haben Sie wirklich gedacht, ich würde nicht versuchen rauszufinden, von wem die CIA den Tipp bekommen hat, dass wir das Flugzeug durchsuchen wollten? Sie wissen doch, wie sehr mir daran gelegen ist, die Amerikaner eines Tages mal auf frischer Tat zu ertappen. Sie durchfliegen schon viel zu lange unseren Luftraum, um mutmaßliche Täter zu ihren Geheimgefängnissen zu transportieren. Wenn ich an all die Unschuldigen denke, die sie gefangen halten und deren Leben sie zerstören, wird mir übel.«

»Wer sagt Ihnen denn, dass sie unschuldig sind?«, fragte von Daeniken. »Die Amerikaner konnten auf diese Weise etliche Anschläge verhindern. Die Rechnung geht also auf.«

»Ja, das ist es, was sie uns glauben machen wollen. Sie sind so groß und mächtig, aber allzeit bereit, die Regeln zu brechen, wenn es ihnen in den Kram passt. Dieses Mal hatten wir sie. Gassan war in diesem Flugzeug. Es war die Gelegenheit für die Schweiz, der Welt zu zeigen, wofür wir einstehen.«

»Und das wäre? Sich dem Krieg gegen den Terror zu verweigern?«

»Ach ja, ›Der Krieg gegen den Terror‹. Sie haben ja keine Vorstellung davon, wie sehr ich diese Formulierung verabscheue. Nein, ich habe von Anstand, Aufrichtigkeit und den Rechten des kleinen Mannes gesprochen. Ich bin der Meinung, dass diese Dinge von der ältesten funktionierenden Demokratie der Welt verteidigt werden müssen. Sind Sie da anderer Ansicht?«

Von Daeniken schüttelte sich angewidert. »Ich glaube nicht, dass es tatsächlich irgendjemanden interessiert, wie ich zu diesen Dingen stehe. Soweit ich weiß, war es Gassan, der der CIA die Informationen über den geplanten Anschlag auf unserem Grund und Boden geliefert hat.«

»Und was haben wir davon? Sind Sie dadurch bei der Suche nach der Drohne auch nur einen Schritt weiter gekommen?«

»Deutlich weiter.«

Die Antwort traf Marti unerwartet. »Ach ja?«

»Der Kleintransporter, mit dem die Drohne transportiert wird, wurde letzte Nacht von einer unserer Überwachungskameras auf den Straßen von Zürich fotografiert. In diesem Moment durchforstet die Züricher Polizei auf der Suche nach konkreten Hinweisen über die Drohne alle Gemeinden rund um den Flughafen.«

»Damit verstoßen Sie gegen meine Anweisungen.«

»Ja, das tue ich«, sagte von Daeniken. »Ich hätte Ihnen schon vor zwei Tagen sagen sollen, dass Sie sich zum Teufel scheren sollen. Zu diesem Zeitpunkt war mir bereits klar, dass Sie nicht mit offenen Karten spielen. Natürlich hatte ich keine Ahnung davon, was für ein mieses Spiel Sie tatsächlich spielen.«

»Mieses Spiel?« Marti schoss die Röte ins Gesicht. »Ich war es nicht, der der CIA den Tipp gegeben hat.«

»Nein«, sagte von Daeniken. »Was Sie getan haben, ist noch viel schlimmer.«

»Ich denke, das reicht jetzt. Sie sind erledigt, Marcus. Sie haben sich vorsätzlich meinen Anweisungen widersetzt. Sie haben geheime Informationen an eine ausländische Regierung weitergeleitet. Übergeben Sie meinen Männern Ihre Dienstwaffe.« Die Beamten des Bundessicherheitsdienstes, die für die Sicherheit von Marti verantwortlich waren, standen rechts und links neben ihm. Marti wandte sich an einen von ihnen: »Legen Sie ihm Handschellen an. Ich glaube, es besteht Fluchtgefahr.« Er sah wieder zu von Daeniken. »Warum rufen Sie nicht einfach Ihren Freund Palumbo an, damit er Ihnen aus der Patsche helfen kann?«

»Einen Moment noch.« Etwas an von Daenikens Tonfall ließ die Männer innehalten. Stumm beobachteten sie den Machtkampf ihrer beiden Vorgesetzten.

»Na los, legen Sie ihm Handschellen an«, befahl Marti.

Von Daeniken trat einen Schritt vor und legte bestimmt seine Hand auf Martis Arm. »Kommen Sie mit. Wir müssen uns unterhalten.«

»Für wen, zum Teufel, halten Sie sich eigentlich?«

Von Daeniken umfasste Martis Arm etwas fester. »Glauben Sie mir. Sie werden mit Sicherheit wollen, dass diese Sache unter uns bleibt.«

Einer der Sicherheitsbeamten trat einen Schritt auf sie zu, doch Marti schüttelte den Kopf. Von Daeniken führte den Justizminister den Hügel hinunter und außer Hörweite der Beamten.

»Wir haben nicht nur den Kleintransporter aufgespürt«, sagte er, nachdem sie etwa zwanzig Meter gegangen waren. »Wir haben auch das Geld zurückverfolgen können, das über eine von der Tingeli Bank gegründete Investmentgesellschaft in Übersee an Lammers und Blitz überwiesen worden ist. Sie kennen doch Tobi Tingeli, nicht wahr? Haben Sie sich nicht an der Uni kennen gelernt? Sie haben doch beide Jura studiert, wenn ich mich recht entsinne. Tobi war anfangs nicht sonderlich zuvorkommend. Ich musste ihn an seine Schweizer Bürgerpflichten erinnern.«

»Zweifellos, indem Sie noch mehr Gesetze übertreten haben«, sagte Marti und befreite seinen Arm aus von Daenikens Griff.

Von Daeniken ignorierte die Bemerkung. »Wie Sie wissen, ist die Bank, die hinter der Gründung der Investmentgesellschaft steht, dazu verpflichtet, alle Kontobewegungen ihrer Kunden zu speichern. Tobi war so nett, mir Kopien der Kontoauszüge der Investmentgesellschaft zu überlassen … zum ›Wohle der Öffentlichkeit‹. Wir waren beide ziemlich überrascht, dass das an die Gesellschaft überwiesene Geld nicht aus Teheran, sondern aus Washington D. C. stammt.«

»D. C.? Das ist doch lächerlich.«

»Und zwar von einem Konto des US-Verteidigungsministeriums.«

»Aber Mahmoud Quitab war ein iranischer Offizier. Das haben Sie mir selbst erzählt.« Als Marti erkannte, dass er auf diesem Weg keinen Schritt weiterkam, änderte er seine Taktik. »Und abgesehen davon hatte Tobi nicht das Recht, diese Informationen an Sie weiterzugeben. Damit hat er gegen jedes Bankgeheimnis verstoßen.«

»Vielleicht hat er das«, sagte von Daeniken. »Doch ich bin fest davon überzeugt, dass Ihre Kollegen im Bundesrat um jeden Preis erfahren wollen, wer noch von der Investmentgesellschaft finanziert wird. Tatsächlich haben wir einige der Zahlungen bis zu einem Privatkonto bei der Berner Zweigstelle der Vereinigten Schweizer Bank zurückverfolgen können. Sie selbst haben doch ein Konto dort, nicht wahr? Nummer 517.62 … hm, ich fürchte, Sie müssen mir weiterhelfen.«

Marti war leichenblass geworden.

Von Daeniken fuhr fort: »Seit zwei Jahren haben Sie Monat für Monat eine Summe von fünfhunderttausend Franken vom Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten erhalten. Werfen Sie mir also nicht vor, ein Verräter zu sein. Sie sind ein bezahlter ausländischer Spion.«

»Das ist absurd!«

»All ihr Gerede darüber, die CIA auf frischer Tat zu ertappen und Amerika der Welt vorzuführen, war reine Augenwischerei. Sie wollten Gassan in Bern aus dem Flugzeug holen, damit die CIA ihn nicht verhören konnte. Sie wollten nicht, dass er Palumbo Informationen über den Anschlag liefert.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Welchen Anschlag meinen Sie dieses Mal?« Marti drehte sich zu seinen Männern um und machte Anstalten, nach ihnen zu rufen.

»Denken Sie nicht mal dran«, sagte von Daeniken und holte ein Bündel Papiere aus seiner Jackentasche. »Ich habe alles hier. Konto 517.623 AA. Ein Nummernkonto, aber selbst die sind nicht mehr anonym. Schauen Sie selbst, wenn Sie mir nicht glauben.«

Marti warf einen Blick auf die Unterlagen. »Vor einem Gericht hat nichts davon Bestand. Unzulässige Beweise. Jeder einzelne davon.«

»Wer spricht denn davon, vor Gericht zu ziehen? Ich hab das Ganze bereits in Kopie per E-Mail an die Bundespräsidentin geschickt und sie mit einem Vermerk über unsere laufenden Ermittlungen informiert. Ich glaube nicht, dass sie mit einem Spion zusammenarbeiten möchte, was meinen Sie?«

»Aber … aber …« Geschlagen ließ Marti seinen Kopf hängen.

Von Daeniken nahm ihm die Papiere aus der Hand. »Also, Alphons, was genau hat Jonathan Ransom jetzt vor?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wissen Sie es nicht, oder wollen Sie es mir nicht sagen?«

»Ich weiß nur, dass sie ihn aus dem Weg räumen wollen. Er hat mit dieser Sache nichts zu tun.«

»Mit was nichts zu tun? Lügen Sie mich nicht an. Irgendwo da draußen lauert eine Gruppe Terroristen mit einer Drohne, mit der sie in den nächsten achtundvierzig Stunden ein Passagierflugzeug angreifen wollen.«

»Ich sagte es Ihnen doch schon. Ich weiß nichts über die Drohne.«

»Also, was wissen Sie denn nun? Sie verdienen ganz sicher keine fünfhunderttausend Franken monatlich fürs Däumchendrehen. Ich will alle Einzelheiten. Wer? Warum? Seit wann? Wenn Sie irgendetwas wissen, dass den Anschlag vielleicht verhindern könnte, dann reden Sie jetzt. Das ist Ihre einzige Chance, die erdrückende Beweislast gegen Sie zu mildern.«

»Ich werde es Ihnen sagen«, sagte Marti nach langem Schweigen. »Aber falls irgendjemand fragt, werde ich alles abstreiten.«

Von Daeniken wartete.

Marti seufzte. »Ich weiß nichts über den Anschlag. Sie wollten Exportlizenzen von mir. Als Justizminister fällt so was in meinen Zuständigkeitsbereich.«

»Wer wollte diese Lizenzen?«

»John Austen.«

»Wer ist das?«

»Ein Freund. Ein Glaubensbruder.«

»Sparen Sie sich diesen Mist. Wer ist er?«

»Ein Generalmajor der US-Luftwaffe. Er leitet eine streng geheime Einheit mit Namen Division. Vor zwei Jahren hat seine Organisation eine Firma in Zug mit Namen ZIAG gekauft, die innovative Technologien herstellt. ZIAG hat Parvez Jinn im Iran Waren geliefert. Ich war dafür zuständig, den Export zu genehmigen. Aber das ist jetzt vorbei.«

»Welche Art von Waren?«

Marti bedachte von Daeniken mit einem vorwurfsvollen Blick, als grenze diese Frage an eine persönliche Beleidigung. »Was glauben Sie denn?«

»Ich bin Polizist. Ich ziehe es vor, wenn die Schurken ihre Taten selbst gestehen.«

»Zentrifugen. Maraging-Stahl. Solche Waren eben. Ich habe sichergestellt, dass die Papiere den richtigen Leuten in die Hände fielen und dass niemand beim Zoll zu genau hinsah.«

»Sie meinen Geräte, mit denen Uran für Atomwaffen hergestellt werden kann?«

Marti nickte. »Was die da unten damit machen, geht mich nichts an.«

»Was ist mit dem Anschlag?«

»Ich sagte es Ihnen bereits. Ich weiß nichts von einem Anschlag. Ich will die Drohne ebenso sehr wie Sie aus dem Verkehr ziehen.«

Von Daeniken ließ Martis Worte sacken und kniff beim Versuch, alles zu einem schlüssigen Bild zusammenzufügen, die Augen zusammen.

Warum, zum Teufel, sollten die Vereinigten Staaten ihre eigenen Anstrengungen unterwandern, den Iran an der Herstellung von atomaren Waffen zu hindern?

Er rief sich die Ereignisse der vergangenen Tage wieder in Erinnerung - die Ermordung von Blitz und Lammers, die Informationen über die Existenz der Drohne und des Sprengstoffes und nun auch noch die Erkenntnis, dass ein Schweizer Unternehmen, das heimlich in der Hand der Amerikaner war, den Iran mit modernster Atomwaffentechnologie versorgt hatte.

Und dann dämmerte es ihm.

Ein furchtbarer, unfassbarer Gedanke.

Mit neuem, abgrundtiefem Hass starrte er Marti an. »Warum?«

Doch Alphons Marti antwortete ihm nicht. Er faltete seine Hände und senkte seinen Kopf, als ob er betete.

Reich, Christopher
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