23

Es war 4:41 Uhr morgens, als Jonathan den Wagen an den Straßenrand lenkte und den Motor abstellte. Regen peitschte gegen die Windschutzscheibe. Vor ihm erhob sich ein dreistöckiges Haus aus Stein und Terrakotta, das in Nebel gehüllt war.

»Aber es hat noch nicht mal geöffnet«, sagte Simone. »Es ist keine Menschenseele hier.«

Jonathan zeigte auf zwei Wäscheleinen vor dem Fenster des zweiten Stockes. »Der Stationsleiter wohnt über dem Büro.« Er hielt ihr seine Handfläche entgegen. »Hast du ihn?«

Simone holte Oskar Studers Polizeiausweis aus ihrer Tasche. »Was ist, wenn er dir nicht glaubt?«

»Es ist fünf Uhr morgens. Es wird ihm garantiert nicht in den Sinn kommen, die Echtheit eines Polizisten anzuzweifeln, der um diese Zeit an seiner Tür klingelt. Außerdem kann ich den Polizeiausweis nicht bei Tageslicht benutzen, bevor ich nicht zwanzig Kilo zugenommen, meine Haare abrasiert und meine Nase ein paarmal gebrochen habe. Schau selbst. Was siehst du?« Jonathan hielt den Polizeiausweis neben sein Gesicht. Simone bog den Kopf zurück, schob ihn wieder vor und kniff die Augen zusammen, um das daumengroße Bild im Ausweis erkennen zu können. Er ließ ihr drei Sekunden Zeit, dann klappte er den Ausweis wieder zu. »Und?«

»Es ist zu dunkel. Ich konnte nichts erkennen.«

»Eben.«

Doch Simone ließ sich nicht so leicht überzeugen. »Aber woher weißt du, dass du überhaupt etwas herausbekommen wirst?«

Jonathan zog die Quittungsbelege aus seiner Tasche und steckte sie in das Mäppchen mit dem Polizeiausweis. »Niemand verschickt so viel Geld, ohne sicherzustellen, dass er es im Notfall auch zurückbekommt.«

Simone schüttelte den Kopf. Mit verschränkten Armen und ohne ihren anfänglichen Wagemut wirkte sie kleiner, älter und nicht länger bereit, ihn bei allem kritiklos zu unterstützen. »Ehrlich, Jon, ich denke, wir sollten noch warten.«

»Setz dich hinters Steuer. Wenn ich in fünfzehn Minuten nicht zurück bin, verschwinde von hier.«

Er öffnete die Tür, stieg aus dem Wagen und trat in den strömenden Regen.

»Si?«

Ein unrasierter Mann in einem Flanellpyjama starrte verschlafen durch den Türspalt. Jonathan hielt den Polizeiausweis hoch. »Signor Orsini«, sagte er mit einem italienischen Akzent, der dem der einfachen Leute ähnlich klang. »Kantonspolizei Graubünden. Wir brauchen Ihre Hilfe.«

Orsini nahm Jonathan den Ausweis aus der Hand und hielt ihn sich dicht vors Gesicht. Er kniff sogar die Augen zusammen, um besser sehen zu können. »Um was geht’s denn, dass es nicht bis zum Morgen warten kann?«, fragte er und blickte immer wieder vom Ausweis zu dem Mann, der vor ihm stand, und zurück zum Ausweis.

»Es ist bereits Morgen.« Jonathan nahm den Ausweis wieder an sich und trat einen Schritt vor, sodass der Stationsleiter sich genötigt sah, sich ein Stück in seine Wohnung zurückzuziehen. »Ein Mordfall. Ein anderer Polizist. Mein Partner, um genau zu sein. Sie haben vielleicht in den Nachrichten davon gehört.«

Er wartete darauf, dass Orsini etwas zu dem Foto sagte, doch der Mann sah einfach nur verärgert aus. »Nein, das hab ich nicht«, sagte er. »Niemand hat mir was davon erzählt.«

Jonathan fuhr ungerührt fort, als wäre es ihm völlig egal, wer welche Informationen hätte weiterleiten müssen oder nicht. »Vor ein paar Stunden haben wir herausgefunden, dass die Gepäckstücke unseres Hauptverdächtigen mit einem Zug von Ihrem Bahnhof aus verschickt worden sind. Wir besitzen die Quittungsbelege. Wir benötigen den Namen der Person, die die Gepäckstücke bei Ihnen aufgegeben hat.«

»Haben Sie einen schriftlichen Durchsuchungsbeschluss?«

»Natürlich nicht. Dazu hatten wir keine Zeit. Der Mörder befindet sich bereits auf dem Weg hierher.«

Die Nachricht schien Orsini in keinster Weise zu beeindrucken. »Wo ist Mario? Leutnant Conti?«

»Er hat mir gesagt, ich soll direkt zum Bahnhof fahren.«

Orsini ließ sich die Worte durch den Kopf gehen, während er schniefend seine Pyjamahose hochzog. »Geben Sie mir eine Minute.« Die Tür schloss sich wieder.

Fünf Minuten später erschien Orsini mit ordentlich gekämmten Haaren, gewaschenem Gesicht und mit der grauen Hose und dem steifen blauen Jackett eines Schaffners bekleidet. Jonathan folgte ihm auf dem Weg nach draußen, um das Gebäude herum zum Fahrkartenschalter.

Kurz darauf saß Orsini an seinem Schreibtisch und tippte die Nummern der Quittungsbelege in seinen Computer. »Lassen Sie uns mal sehen … gesendet nach Landquart … Gepäckstücke gestern Nachmittag abgeholt. Basta! Sie sind zu spät. Wenn die Gepäckstücke abgeholt werden, wird der Vorgang automatisch gelöscht. Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.«

Orsinis Ausdruck des Bedauerns machte Jonathan wütend. »Gibt es noch einen anderen Nachweis über die Transaktion?«, fragte er mit forscher Stimme. »Vielleicht vom Ticketkauf des Kunden? Wir sprechen hier über einen Mordfall. Nicht über eine gestohlene Tasche. Beschaffen Sie mir den Namen!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch.

Orsini lehnte sich nachdenklich zurück, doch einen Moment später hämmerte er wie ein Verrückter auf sein Keyboard ein. »Die Tickets sind bar bezahlt worden … es wurde ein Beleg erstellt … warten Sie …« Er stand auf und zwängte sich an Jonathan vorbei zu einer Reihe aus Aktenordnern. Mit einem nervösen Summen zog er einen Zettel nach dem anderen aus einem Bündel Quittungen, studierte jeden mit einem prüfenden Blick und warf ihn dann achtlos auf den Tisch neben sich. Plötzlich zeigte er triumphierend auf einen der Zettel. »Da haben wir ihn!«

Jonathan blickte ihm über die Schulter. »Wie heißt er?«

»Blitz. Gottfried Blitz. Villa Principessa. Via della Nonna.« Aus seiner Stimme war der Stolz über seinen Erfolg deutlich herauszuhören, während seine Augen unverwandt auf den Beleg gerichtet waren. »Und, sind Sie nun zufrieden?«

Doch als sich Orsini umwandte, fand er sich in einem leeren Schalterbüro wieder.

Jonathan war schon auf und davon.

Reich, Christopher
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