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»Haben Sie die gesehen?«, bellte der Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, Alphons Marti, als von Daeniken dessen Büro betrat. »NZZ. Tribune de Genève. Tages-Anzeiger.« Er klaubte die telefonischen Nachrichten zusammen und zerknüllte sie in der Faust. »Jede Zeitung dieses Landes will wissen, was gestern am Flughafen passiert ist.«
Von Daeniken zog seine Jacke aus und hängte sie sich über den Arm. »Was haben Sie ihnen erzählt?«
Marti warf den Papierball in den Müll. »›Kein Kommentar‹. Was hätte ich denen denn Ihrer Meinung nach erzählen sollen?«
Das Büro auf der vierten Etage des Bundeshauses war im wahrsten Sinne des Wortes majestätisch. Es besaß eine hohe Zimmerdecke, die mit goldenen Blättern und einem Trompe l’Œil-Gemälde von der Himmelfahrt Christi ausgeschmückt war, orientalische Teppiche auf einem polierten Holzboden und einen Mahagonischreibtisch, so groß wie der Altar im Petersdom. Das mitgenommene Holzkreuz an der Wand sollte bezeugen, dass Marti tatsächlich ein Mann des Volkes war.
»Also«, setzte Marti an. »Wann haben sie ihren Flug fortgesetzt?«
»Das Flugzeug ist gestartet, sobald das Triebwerk repariert war«, sagte von Daeniken. »Irgendwann gegen sieben Uhr heute Morgen. Der Pilot hat Athen als Reiseziel angegeben.«
»Noch so ein Haufen Scheiße, den die Amerikaner uns servieren und erwarten, dass wir ihn lächelnd schlucken. Ich hab mich dafür eingesetzt, dass die Verhinderung von Überstellungsflügen über Europa in diesem Büro oberste Priorität hat. Früher oder später wird jemand Informationen an die Presse durchsickern lassen, und man wird mich mit faulen Eiern bewerfen.« Marti schüttelte den Kopf. »Der Gefangene war im Flugzeug, davon bin ich überzeugt. ONYX belügt uns nicht.«
Mittels Parabolantennen an Abhörstationen in Zimmerwald, Heimenschwand und Leuk konnte ONYX den gesamten zivilen und militärischen Satellitenfunkverkehr abfangen. In den ONYX-Stationen standen - wie bei den ECHELON-Stationen - Rechneranlagen, die mithilfe von KI, Algorithmen, optischer Texterkennung, Sprach- und Stimmerkennung sowie Schlüsselwort- und Themenanalyse die Rohdaten auf bestimmte Schlüsselwörter hin untersuchten. Einige dieser Schlüsselwörter lauteten »Federal Bureau of Investigation«, »Geheimdienst« und »Gefangener«.
Und um 04.55 Uhr gestern früh war ONYX auf Gold gestoßen.
»Ich hab die Nachricht selbst überprüft«, fuhr Marti fort. »Namen. Reiseroute. Es stimmte alles.« Er schob einen sandfarbenen Aktenordner über den Tisch. Von Daeniken nahm ihn zur Hand und warf einen Blick hinein. Darin befand sich die Kopie eines Telegramms, das vom syrischen Konsulat in Stockholm an den syrischen Geheimdienstleiter in Damaskus geschickt worden war. Der Inhalt des Telegramms lautete: »Passagierliste: Gefangenentransport #767«. Es folgten die Namen des Piloten und Kopiloten sowie zwei Namen, die ihnen wohlbekannt waren: Philip Palumbo und Walid Gassan.
»Werfen Sie mal einen Blick auf den Zeitstempel, Marcus. Die Passagierliste wurde nach dem Start des Flugzeugs übermittelt. Gassan war also an Bord. Ich glaube nicht eine Sekunde lang, dass Palumbo ihn aus der Maschine befördert hat. Wissen Sie, was ich denke? Ich denke, jemand hat Herrn Palumbo gesteckt, dass wir das Flugzeug durchsuchen wollen. Ich möchte, dass Sie in dieser Sache ermitteln.«
»Nur sehr wenige Personen hier haben eine Kopie der Nachricht bekommen. Sie, ich, unsere Stellvertreter und natürlich die Techniker in Leuk.«
»Ganz genau.«
»Wir haben das Flugzeug doch von oben bis unten durchsucht«, sagte von Daeniken und legte die Akte zurück auf den Tisch. »Es gab keine Spur von dem Gefangenen.«
»Sie meinen, Sie haben das Flugzeug durchsucht.« Die durch Hyperthyreose hervortretenden blauen Augen starrten von Daeniken durchdringend an.
»Soweit ich weiß, waren Sie auch dabei.«
»Also können wir uns wohl von der Liste der Verdächtigen streichen«, sagte Marti lächelnd, wobei seine schlechten Zähne sichtbar wurden. »Das wird Ihre Ermittlungen um einiges erleichtern. Ich erwarte einen täglichen Bericht von Ihnen.« Er klopfte mit seinen Fingerknöcheln zweimal auf den Ordner und brachte auf diese Weise zum Ausdruck, dass die Angelegenheit für ihn erledigt war. »Also? Was wollten Sie nun von mir? Ihre Sekretärin hat mir mitgeteilt, dass Sie eine Spur im Erlenbacher Mordfall von letzter Nacht verfolgen. Was hat es mit dem Durchsuchungsbefehl auf sich?«
Von Daeniken zögerte und wartete auf Martis Aufforderung, Platz zu nehmen. Als klar wurde, dass der Minister gar nicht daran dachte, ihn zum Sitzen aufzufordern, lieferte er eine kurze Zusammenfassung der Informationen, die er über Lammers zusammengetragen hatte, einschließlich Lammers’ Beteiligung bei der Entwicklung von Artilleriewaffen und seiner neuesten Leidenschaft für MAVs. Er schloss mit der Vermutung, dass der Holländer Mitglied eines größeren Netzwerkes gewesen sein musste, und bat um einen Durchsuchungsbeschluss, damit er die Räumlichkeiten der Robotica AG genauer unter die Lupe nehmen konnte.
»Ist das alles?«, fragte Marti. »Ich kann als Begründung für einen Durchsuchungsbeschluss wohl kaum ›verdächtiges Miniaturflugzeug‹ angeben. Ich brauche einen Grund, der vor dem Gesetz Bestand hat.«
»Ich bin davon überzeugt, dass von Lammers eine Gefahr für die nationale Sicherheit ausgeht.«
»Wie soll das möglich sein? Der Mann ist tot. Nur weil Sie ein Modellflugzeug gefunden haben … und dabei war’s ja nicht mal ein Modellflugzeug … nur ein paar Flügel mit weiß Gott was ausgestattet.«
Von Daeniken rang sich ein Lächeln ab, um sich seine wachsende Verärgerung nicht anmerken zu lassen. »Es ist nicht nur das Flugzeug, Sir. Es ist das ganze Drumherum. Lammers ist uns schon lange bekannt. Er hat sich in der Vergangenheit mit den bösen Jungs eingelassen, und dann, eines Tages, wird er unvermittelt auf der eigenen Türschwelle hingerichtet. Ich bin mir sicher, dass da was im Busch war. Entweder braut sich was zusammen oder es soll verhindert werden. Der Beweis dafür könnte in seinem Büro zu finden sein.«
»Mutmaßungen«, bellte Marti.
»Der Mann hatte eine Uzi in seinem Werkraum versteckt, zusammen mit einem Stapel Reisepässe, die er Personen gestohlen hat, die entweder im Nahen Osten lebten oder dorthin gereist sind. Das sind keine Mutmaßungen.«
Die neuseeländische Botschaft in Frankreich hatte nur wenige Minuten vor von Daenikens Besuch in Martis Büro zurückgerufen und berichtet, dass der bei Lammers gefundene Pass aus einem Krankenhaus in Istanbul gestohlen worden war. Der eigentliche Passinhaber war ein Querschnittsgelähmter, der seit drei Jahren in Vollzeitpflege war. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass sein Pass verschwunden war. Lammers hatte denselben Trick wie in Jordanien angewendet und behauptet, ein Geschäftsmann zu sein, der seinen Pass verloren hätte.
»Es gibt nur einen Grund für den Diebstahl eines belgischen und eines neuseeländischen Passes«, fuhr von Daeniken fort. »Die Vereinfachung der Ein- und Ausreisebedingungen für den Nahen Osten. Das gilt besonders für die Länder mit strengen Ein- und Ausreisebeschränkungen. Jemen. Iran. Irak. Diese Art der Vorgehensweise setzt eine gesicherte Finanzierung, eine gute Infrastruktur und eine verdammt gute Vorarbeit voraus. Lammers hatte Angst. Er wusste, was passieren würde. Die Operation war in vollem Gange.«
»Mutmaßungen«, wiederholte Marti. »›Hatte Angst‹ rechtfertigt keinen Durchsuchungsbeschluss für eine eingetragene Schweizer Firma. Wir reden hier von einem Unternehmen, nicht über eine Privatperson.«
Von Daeniken zwang sich dazu, im Geiste langsam bis fünf zu zählen. »Der offizielle Name für das technische Gerät lautet übrigens ›Micro Airborne Vehicle‹. Es ist auch unter dem Namen ›Drohne‹ bekannt.«
»Von mir aus können Sie’s auch ›Mücke auf Stereoiden‹ nennen. Ist mir völlig egal«, konterte Marti. »Ich werde Ihnen den Durchsuchungsbeschluss trotzdem nicht ausstellen. Wenn Sie seiner Firma unbedingt auf den Zahn fühlen wollen, tragen Sie den Fall einem Untersuchungsrichter in Zürich vor. Falls man dort der Meinung ist, dass Sie genug Beweise haben, um eine Durchsuchung zu beantragen, brauchen Sie meine Hilfe ohnehin nicht mehr.
»Das wird mindestens eine Woche dauern.«
»Na und?«
»Und wenn nun eine unmittelbare Bedrohung für die Schweiz bestehen sollte?«
»Gütiger Himmel, seien Sie nicht hysterisch.«
Hinter Martis Schreibtisch hing ein Foto, das den Minister am Ende seines katastrophalen Marathonlaufes beim Einlauf ins olympische Stadium zeigte. Sogar in dem starren Rahmen schien der Mann zu schwanken. Auch war deutlich zu sehen, dass er sich zuvor auf seine Kleidung übergeben hatte. Von Daeniken fragte sich, wie ein Mann gestrickt sein musste, der den Moment seines persönlichen Tiefpunktes im Leben öffentlich zur Schau stellte.
»Wenn Sie meinen, dass eine unmittelbare Bedrohung besteht, liefern Sie mir ein paar hieb- und stichfeste Gründe für Ihre Annahme«, sagte Marti. »Sie haben gesagt, dass Lammers Artilleriewaffen entwickelt hat. Gut. Zeigen Sie mir eine große Waffe. Dieser Durchsuchungsbeschluss wird nicht in irgendeiner Akte verschwinden. Er wird mich meinen Kopf kosten, sobald ich ihn für etwas hinhalte, was nicht niet- und nagelfest ist. Ich kann einpacken, wenn ich zulasse, dass Sie ohne den geringsten Beweis in der Hand losziehen und alle Hebel in Bewegung setzen, um einer wilden Vorahnung zu folgen.«
Eine wilde Vorahnung? War das alles, was er Marti zufolge nach dreißigjähriger Berufserfahrung vorzuweisen hatte? Von Daeniken warf einen prüfenden Blick auf sein Gegenüber. Die eingefallenen Wangen. Die eine Spur zu modische Länge seiner hennarot gefärbten Haare. Der Mann konnte aus den gesetzlichen Vorschriften eine holländische Brezel machen, wenn ihm der Sinn danach stand. Nein, er präsentierte sich absichtlich hartleibig, weil er von Daeniken die verpfuschte Durchsuchung des CIA-Flugzeugs ankreidete.
»Was ist mit der Uzi?«, hakte von Daeniken nach. »Und was ist mit den Pässen? Haben diese Dinge denn gar keine Bedeutung?«
»Sie haben doch selbst gesagt, dass er Angst hatte. Er war auf der Flucht. Diese Fakten erlauben uns aber noch lange nicht, in seine Privatsphäre einzudringen.«
»Der Mann ist tot. Er hat keine Privatsphäre mehr.«
»Hören Sie auf, Spielchen mit mir zu spielen! Ich werde mich mit Ihnen nicht über Semantik streiten.«
»Ich will weiß Gott niemandem zu nahe treten, genauso wenig wie Sie.« Von Daeniken brachte den Vorschriften den gleichen Respekt entgegen wie seinem Nächsten. In seiner gesamten Berufslaufbahn war er nicht einen Schritt von den schriftlichen Vorgaben und dem, was sie implizierten, abgewichen. Doch der Polizeiberuf hatte sich in den letzten zehn Jahren drastisch verändert. Als Mitarbeiter der Abteilung zur Terrorbekämpfung musste er dafür sorgen, dass das Verbrechen verhindert wurde, bevor es geschah. Der Luxus, die Beweise nach der Tat zusammenzutragen, um sie einem Gericht vorzulegen, gehörte unwiederbringlich der Vergangenheit an. Oft waren nur seine Erfahrung und seine Intuition die einzigen verlässlichen Beweise.
Er trat ans Fenster und blickte auf den Fluss Aare. Der anbrechende Morgen hatte den Himmel in eine Palette unterschiedlicher Grautöne getaucht, die alle versuchten, über den Dächern der Stadt die Oberhand zu gewinnen. Der früher am Morgen nachlassende Schneefall hatte wieder unermüdlich eingesetzt. Ein heftiger Wind trieb die Flocken in einem wilden Schneegestöber umher. »Vergessen Sie den Durchsuchungsbeschluss«, sagte er schließlich.
Marti erhob sich und trat hinter dem Schreibtisch hervor, um von Daeniken die Hand zu reichen. »Ich bin froh, dass Sie Vernunft angenommen haben.«
Von Daeniken drehte sich um und ging zur Tür. »Ich muss wieder an die Arbeit.«
»Warten Sie einen Moment …«
»Ja?«
»Was wollen Sie wegen des kleinen Flugzeugs unternehmen? Wegen des MAV?«
Von Daeniken zuckte die Achseln, als ob ihn die Angelegenheit nicht weiter interessierte. »Ich hab nicht vor, irgendwas zu unternehmen«, log er.