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Der Nebel kroch den Berghang hinab, legte sich über die hundert Jahre alten Gebäude und bahnte sich seinen Weg durch die engen gepflasterten Straßen. Der Mann mit dem Arbeitsnamen »Phantom« fuhr durch das idyllische Feriendorf Ascona. Etliche Male musste er ins Schritttempo wechseln, wenn sich der leichte Nebel verdichtete und die gesamte Straße verschluckte.
Nebel … er verfolgte ihn überallhin …
Es war nebelig gewesen, damals, als die Truppen eingefallen waren, so erinnerte er sich, während er die Hügel hinauf und auf Landstraßen wieder bergab fuhr, vorbei an ländlichen Villen und gepflegten Gärten. Kein Nebel wie dieser. Mehr ein nächtlicher Dunst, der aus dem hochgelegenen Bergdorf aufgestiegen war. Dem Dorf, in dem seine Familie Kaffee angebaut hatte. Ein verstohlener, sich windender Nebelschleier, der sich wie eine todbringende Schlange genähert hatte.
Er war gezwungen worden zuzusehen, wie die Soldaten seine Eltern aus ihren Betten zogen, sie nach draußen zerrten, sie auszogen und ihnen befahlen, sich nackt in den Matsch zu legen. Als Nächstes hatten sie sich seine Schwestern vorgenommen, sogar Teresa, die noch nicht einmal fünf war. Er hatte die Augen geschlossen, doch er hatte nichts tun können, um ihre Schreie auszublenden, das Wehklagen ihrer sich aufbäumenden Seelen, bis alle Kraft zur Gegenwehr erschöpft gewesen war. Als die Soldaten fertig waren, schossen sie den Mädchen in den Bauch. Einige gingen ins Haus und fanden den preisgekrönten schottischen Whisky seines Vaters. Sie standen auf der Terrasse, tranken und machten Witze, während seine Schwestern in die nächste Welt hinüberglitten.
Er war damals noch ein Junge gewesen, erst sieben Jahre alt und zu Tode verängstigt. Der Commandante hatte ihm eine Pistole in die Hand gedrückt und ihn vor sich her zu seinen Eltern getrieben, die sich in den Matsch knien mussten. Dann hatte der Commandante seine Hand über die des Jungen gelegt und dessen Zeigefinger in Richtung Abzug geschoben. Schließlich hatte er dem Jungen ins Ohr geflüstert, er müsse seine Eltern erschießen, wenn er selbst überleben wolle. Kurz darauf waren zwei Schüsse gefallen. Sein Vater und seine Mutter waren seitwärts in den Matsch gesunken. Der Junge hatte den Abzug betätigt.
Danach hatte er ohne das geringste Anzeichen von Angst oder Zögern die Waffe gegen sich selbst gerichtet. Wie durch ein Wunder war er am Leben geblieben.
Beeindruckt von so viel Mut und Willenskraft, hatte der Commandante eine Entscheidung getroffen. Statt ihn mit seinen Eltern, seinen vier Schwestern und seinem Hund zurückzulassen, um ein Exempel zu statuieren für diejenigen Arbeiter, die tatsächlich ihr Wahlrecht in Anspruch nehmen wollten, hatte der Commandante den Jungen aus den Bergen mit sich genommen.
Chirurgen entfernten die Kugel aus seinem zerfetzten Kiefer, Zahnärzte erneuerten sein zerstörtes Gebiss. Nach den Operationen wurde er auf eine Privatschule geschickt, wo er sich als fleißiger Schüler erwies. Die Regierung kam für alles auf - es war eine Investition in ein sehr spezielles »Projekt«.
Als Student zeichnete sich der Junge ebenfalls durch hervorragende Leistungen aus. Bald beherrschte er Französisch, Englisch und Deutsch so gut wie seine Muttersprache. Im Sport war er leichtfüßig und wendig. Er interessierte sich nicht für Teamsport und konzentrierte sich auf Einzelwettkämpfe: Schwimmen, Tennis und Leichtathletik.
Einmal pro Woche schaute der Commandante bei ihm vorbei. Dann gönnten sie sich Tee und Gebäck in einem Café vor Ort. Anfänglich klagte der Junge über Albträume. Jede Nacht traf er im Schlaf auf seine Mutter und seinen Vater, die ihn um ihr Leben anflehten. Die Bilder waren so quälend und so real, dass sie ihn auch am Tage verfolgten. Doch der Commandante sagte ihm, er müsse sich darum keine Sorgen machen. Alle Soldaten würden von Albträumen heimgesucht. Mit der Zeit entstand ein Band zwischen ihnen, und der Junge entwickelte echte Zuneigung für den Commandante, den er schließlich sogar als seinen Vater bezeichnete.
Doch die Albträume hörten nicht auf.
Er bekam Probleme in der Schule. Zunächst machten sie sich in seinem Sozialverhalten bemerkbar. Er war entweder unfähig oder unwillig, normal mit seinen Mitschülern umzugehen. Er war höflich. Er war umgänglich … bis zu einem gewissen Grad. Doch nie durchbrach er die Mauer aus eisiger Distanziertheit. Er hatte keine Freunde und auch kein Bedürfnis, Freunde zu finden. Er aß immer alleine. Nach dem Training auf dem Leichtathletikplatz kehrte er in sein Zimmer zurück, wo er pflichtbewusst seine Hausaufgaben erledigte. An den Wochenenden spielte er entweder Tennis mit einem oder mehreren Mitschülern (wobei er jede ihrer Einladungen, danach mit ihnen auszugehen, ausschlug) oder blieb in seinem Zimmer, um sich seinen Sprachstudien zu widmen.
All dies war umso verwunderlicher, als der Junge sich zu einem gutaussehenden Mann entwickelte. Er hatte einen schlanken, wohlgeformten Körper und fast aristokratisch zu nennende Züge, denen die indianische Herkunft seiner Mutter kaum anzusehen waren. Zudem besaß er das Charisma des geborenen Anführers. Die beliebtesten Jungen bemühten sich um seine Freundschaft. Doch er wies sie alle zurück. Seine arrogante Ablehnung wurde bald mit beißendem Spott erwidert. Er wurde als Sonderling, Mistkerl und Freak verhöhnt. Und er reagierte ungewöhnlich heftig darauf. Er fand heraus, dass er gut mit den Fäusten umgehen konnte und es genoss, seinen Gegner blutig zu schlagen. Es dauerte nicht lange, bevor es sich herumsprach: Er war ein Einzelgänger, mit dem man sich besser nicht anlegte.
Sein zweiter Makel, der von Seiten der Schule als noch viel bedenklicher eingestuft wurde, war seine mangelnde Bereitschaft, am Gebet teilzunehmen. Er besuchte eine römisch-katholische Schule, die von ihren Schülern verlangte, die tägliche Messe zu besuchen. Zwar setzte er sich auf seinen Platz in der Kirchenbank, doch er betete nie und sang auch nicht mit. Wenn er vor dem Altar kniete, wies er den Leib und das Blut Christi zurück. Als der Priester einmal versuchte, ihm das heilige Sakrament mit Gewalt in den Mund zu schieben, biss er ihn so heftig in die Finger, dass Blut floss. Zu allem Überfluss bemerkte der Schulrektor, dass der Junge sich selbst die Sprache seiner mütterlichen Vorfahren beibrachte und seine Gebete immer häufiger in längst vergessenen Worten an einen heidnischen Gott richtete.
Der Commandante wurde über all dies in Kenntnis gesetzt. Doch er war mitnichten enttäuscht darüber, in welcher Weise sich sein Projekt entwickelte, sondern vielmehr hocherfreut. Jemanden, dessen Gewissen unbelastet war von jeglichen christlichen Moralvorstellungen, den konnte er gut brauchen. Vor allem, wenn dieser Jemand durch sein äußeres Erscheinungsbild und seine Bildung alle Qualitäten eines Gentlemans besaß. So ein Mann konnte sich mühelos in den höchsten Kreisen der Gesellschaft bewegen. Er würde Zutritt zu den am strengsten überwachten Zirkeln erhalten.
Kurz: So ein Mann war der perfekte Profikiller.
Eine Minute später hatte »der perfekte Profikiller« die Stadt hinter sich gelassen und fuhr die umliegenden Hügel hinauf. Er bog in die Via della Nonna ein und fand die Villa Principessa ohne größere Schwierigkeiten. Er fuhr noch einen Kilometer weiter und parkte sein Auto am Ende einer dunklen Sackgasse. Dort führte er Schritt für Schritt sein Ritual durch. Er nahm die Ampulle von seinem Hals, tauchte die Patronen in die bernsteinfarbene Flüssigkeit und pustete sanft über jede von ihnen. Währenddessen sprach er seine Gebete.
Als er fertig war, stieg er aus dem Wagen und öffnete den Kofferraum. Er zog den Fleecepullover sowie die Regenjacke an und setzte schließlich die flammend rote Ferrari-Kappe auf. Den Leuten fiel immer nur die Kappe auf, nie das Gesicht darunter. Danach entledigte er sich seiner bequemen Slipper. An ihrer Stelle zog er ein paar Wanderstiefel an. Zuletzt schulterte er einen Rucksack; die Schweizer waren ein Volk von Wanderern. Er schloss den Kofferraum, steckte die Waffe in seinen Gürtel und lief die Straße hinunter.
Nach ein paar hundert Metern sah er, wie ein dunkelhaariger Mann mit drei Dackeln aus der Eingangstür der Villa Principessa trat und ihm auf der Straße entgegenkam. Der Mann war Mitte fünfzig. Er hatte blaue Augen und trug einen dunkelblauen Pullover. Es war der Mann, den er suchte.
Das Phantom näherte sich ihm mit einem freundlichen Lächeln. »Guten Morgen«, sagte er freundlich. Er hatte nicht oft die Gelegenheit gehabt, mit denen zu sprechen, die er umbringen sollte, und er genoss die Situation. Über die Jahre war er zu seinen eigenen Überzeugungen die Themen Sterblichkeit und Schicksal betreffend gelangt, und er war gespannt zu sehen, ob der Mann womöglich ahnte, dass seine Zeit auf dieser Welt sich ihrem Ende näherte.
»Morgen«, erwiderte Gottfried Blitz.
»Darf ich?« Das Phantom beugte sich hinunter, um die Hunde zu streicheln, die eifrig seine Hände leckten.
Blitz ging in die Hocke und kraulte die Hunde am Kopf und im Nacken. »Meine Kinder«, sagte er. »Grete, Isolde und Eloise.«
»Drei Töchter. Passen sie gut auf ihren Papa auf?«
»Sehr gut. Sie halten mich fit.«
»Was kann man noch mehr von seinen Kindern erwarten?«
Nur wenige Zentimeter trennten die Männer voneinander. Das Phantom sah Blitz direkt in die Augen. Er nahm eine gewisse Unbehaglichkeit bei dem anderen wahr. Keine Angst, aber Vorsicht. Er erwiderte den Blick des Mannes lang genug, um ihn davon zu überzeugen, dass von ihm keine Gefahr ausging. Er hat es nicht im Gefühl, dachte das Phantom. Er hat keine Ahnung von seinem bevorstehenden Schicksal.
Mit einem beiläufigen »Salut« erhob sich der Profikiller und lief bis zum Ende der Straße. Ein Blick zurück über die Schulter zeigte ihm, dass Blitz weiter in die entgegengesetzte Richtung lief.
Die Begegnung hatte ihn aufgewühlt. Der Mann mochte vielleicht nervös sein, aber er ahnte nicht im Geringsten, dass sein Leben sich dem Ende zuneigte. Seine Seele hatte sich mit dieser Vorstellung noch nicht befasst.
Das Phantom unterdrückte die aufkommende Panik. Nichts ängstigte ihn mehr als die Vorstellung, plötzlich und ohne Vorwarnung sterben zu können.
Er bog um die Ecke und rannte einen kleinen Hügel hinauf. In fünfzig Metern Entfernung ging rechts von der Straße ein Feldweg ab. Er folgte dem Pfad und zählte beim Gehen die Häuser. Als er das vierte erreicht hatte, sprang er über den niedrigen Zaun und lief gemächlich bis zur Hintertür der Villa. Er blickte nach links und rechts und hielt nach neugierigen Blicken Ausschau. Überzeugt davon, dass ihm niemand zusah, klopfte er zweimal laut an die Tür. Die Waffe lag in seiner Hand, eine Kugel im Lauf, drei weitere bereit, um ganz sicherzugehen. Ihm fiel auf, dass das Haus nicht mit einer Alarmanlage gesichert war. Arrogant, aber nichtsdestotrotz ein netter Zug. Er presste die Fingerspitzen an die Tür und untersuchte, ob er irgendwelche Vibrationen spüren konnte. Das Haus war völlig still. Blitz war noch nicht von seinem Spaziergang zurückgekehrt.
Nur Sekunden später war das Phantom im Haus.