61

Die Tagung des israelischen Kriegsrates in der Balfour Straße hatte vor vierundzwanzig Stunden stattgefunden. In der Zwischenzeit waren zahlreiche Telefonate über den großen Teich geführt worden, deren Heftigkeit und Folgenschwere einem Frühlingsgewitter um nichts nachstand. Telefonate des Außenministeriums mit dem US-State Department. Anrufe der iranischen Heeresleitung beim Hauptsitz des US-Zentralkommandos. Gespräche des Mossad mit der CIA.

Um elf Uhr abends stand der israelische Premierminister in seinem Büro und hielt den Telefonhörer ans Ohr gepresst. Wie jeder Höfling, der um eine Audienz beim Herrscher bittet, war er um etwas Geduld gebeten worden. Der Präsident der Vereinigten Staaten würde ihm in Kürze etwas von seiner kostbaren Zeit widmen.

Zvi Hirsch stand voller Ungeduld neben seinem Premierminister. Der Präsident ließ sie nun schon fünf Minuten warten. Jede weitere Sekunde, die verstrich, machte die Beleidigung für einen von Geburt an unsicheren Menschen wie ihn nur noch unverzeihlicher.

Plötzlich meldete sich eine Frau am anderen Ende der Leitung. »Der Präsident der Vereinigten Staaten.«

Bevor der Premierminister etwas erwidern konnte, drang die Stimme eines kühlen Technokraten an sein Ohr. »Hallo, Avi. Schön, von Ihnen zu hören.«

»Herr Präsident. Ich wünschte, es würde sich um eine erfreulichere Angelegenheit handeln.«

»Ich möchte Ihnen noch meinen Dank dafür aussprechen, dass Sie uns über alle Vorgänge in Kenntnis gesetzt haben«, sagte der amerikanische Präsident. »Diese Entwicklung hat uns gänzlich unvorbereitet getroffen. Wir haben nicht damit gerechnet, dass ein solcher Fall so bald eintreten würde.«

»Diese Entwicklung hat uns beide unvorbereitet getroffen. Ich bin mir sicher, dass Sie unsere Lage nachempfinden können. Wir können nicht tolerieren, dass ein Regime, das sich dafür ausspricht, Israel von der Landkarte zu radieren, Atomwaffen besitzt.«

»Etwas anzudrohen ist eine Sache. Die Drohung in die Tat umzusetzen eine andere.«

»Wozu der Iran fähig ist, ist uns schon lange bekannt. Seit Jahren finanziert er Aktionen der Hamas, des Islamischen Dschihad und der Al-Aqsa-Brigaden. Und deren Aktivitäten beschränken sich nicht nur auf Israel. Ich muss Ihnen sicher nicht schildern, welches Unheil im Irak angerichtet wurde. Der Iran verfolgt zwei Ziele: Die völlige Kontrolle über den Nahen Osten und die Vernichtung des Staates Israel. Er ist bereits auf dem besten Wege, das erste Ziel zu erreichen. Ich werde nicht zulassen, dass er auch das zweite Ziel in die Tat umsetzt.«

»Die Vereinigten Staaten haben immer betont, dass jede Aggression gegen Israel als Aggression gegen Amerika betrachtet wird.«

»Wir können nicht abwarten, bis wir angegriffen werden. Bereits der erste Angriff hätte fatale Folgen.«

»Ich verstehe Ihre Sorge, aber ich denke, es ist zu früh, um etwas zu unternehmen. Wir müssen die Vereinten Nationen zu Rate ziehen.«

»Wenn Sie gewusst hätten, dass die neunzehn Flugzeugentführer planten, amerikanische Maschinen in ihre Gewalt zu bringen und sie ins World Trade Center zu fliegen, hätten Sie dann keine Maßnahmen ergriffen, um das zu verhindern?«

»Eine Nation anzugreifen ist etwas anderes, als eine Gruppe Terroristen auszuschalten«, sagte der Präsident mit größtmöglicher Beherrschung. Jegliche Erwähnung des 11. September ließ ihn mit größter Zurückhaltung reagieren. Das unauslöschliche Datum und der überstürzte Folgekrieg waren zu einer Art Mahnmal für ein ganzes Zeitalter geworden.

»Und eine Atombombe ist etwas anderes als ein Flugzeug«, konterte der Premierminister. »Jede Bombe wird Millionen Israelis töten.«

Der Präsident holte tief Luft. »Was kann ich für Sie tun, Avi?«

»Wir bitten Sie um die Erlaubnis, den irakischen Luftraum überfliegen zu dürfen«, sagte der israelische Premierminister.

»Im Falle eines Angriffs auf den israelischen Staat, erhalten Sie selbstverständlich diese Genehmigung.«

»Bei allem Respekt, Herr Präsident, aber dann wird es zu spät sein.«

»Die Iraner werden sich das nicht gefallen lassen.«

»Vielleicht. Aber einige Schlachten lassen sich nun einmal nicht vermeiden.«

Es entstand eine Pause, und der Premierminister konnte hören, dass der amerikanische Präsident sich mit seinen Beratern unterhielt. Eine Minute später meldete er sich wieder zurück: »Soweit ich weiß, haben Sie noch eine andere Bitte.«

»Wir benötigen außerdem vier Ihrer B61-11-EPWs zur Zerstörung unterirdischer Bunker.«

»Das ist eine ziemlich gewaltige Bitte. Dabei handelt es sich immerhin um Waffen mit nuklearem Sprengkopf.«

»Ja, das weiß ich.«

Der Amerikaner war schon vorher über die Anliegen des israelischen Premierministers informiert worden und hatte seine Antwort sorgfältig vorbereitet. »Hören Sie mir gut zu. Amerika wird unter keinen Umständen den Einsatz von Nuklearwaffen gestatten. Wir glauben aber, dass Israel das Recht haben sollte, sich mit modernster Waffentechnologie zu verteidigen. Deshalb, und unter Berücksichtigung unserer langjährigen Freundschaft, habe ich meinen Männern den Befehl gegeben, umgehend vier unserer B61-Bomben an General Ganz auszuliefern. Sie müssen mir aber Ihr Ehrenwort geben, dass Sie diese Waffen erst dann einsetzen, wenn Sie unmittelbar bedroht werden.«

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das versprechen kann.«

»Diese Bedingung ist nicht verhandelbar. Ich wiederhole noch einmal: Falls dieser iranische Mistkerl auch nur die geringste Maßnahme anordnet, die Ihr Land oder Ihre Interessen gefährdet, haben Sie meine Erlaubnis, die Bomben so einzusetzen, wie Sie es für richtig halten. Sie können den Irak so oft und wann Sie wollen überfliegen. Aber bis dahin habe ich Ihr Ehrenwort, dass Sie die Waffen unter Verschluss halten.«

Zvi Hirsch, der das Gespräch an einem anderen Apparat mitverfolgte, warf dem Premierminister einen fassungslosen Blick zu. Gleichzeitig nickte er energisch, um ihm zu verstehen zu geben, dass er sich sofort mit allem einverstanden erklären sollte.

Der Premierminister gab nach. »Sie haben mein Ehrenwort. Ich möchte Ihnen auch im Namen des israelischen Volkes meinen Dank aussprechen.«

Das Telefonat war beendet.

Zvi Hirsch legte den Hörer auf die Gabel. »Haben Sie das gehört?«

»Natürlich«, sagte der Premierminister. »Warum führen Sie sich so auf?«

»Er hat gesagt, dass wir die Bomben einsetzen dürfen, wenn wir direkt bedroht werden.«

»Und?«

Zvi Hirsch war so aus dem Häuschen, dass er die Worte nur mit Mühe über die Lippen brachte. »Ja, verstehen Sie denn nicht?«, fragte er. »Sie müssen uns gar nicht zuerst bombardieren. Eine ›Bedrohung‹, das kann alles sein … jeder beliebige Akt … solange wir nur zweifelsfrei beweisen können, dass die Iraner dahinterstecken. Teheran muss nur die geringste Maßnahme gegen uns anordnen.«

Reich, Christopher
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