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In der Kommandozentrale hielt sich von Daeniken ein Fernglas vor die Augen und betrachtete das Anwesen aus seinem sicheren Versteck hinter den Spitzenvorhängen. Das Haus, das die Excelsior Treuhandgesellschaft erworben hatte, stand an der Holzwegstraße 33. Es war ein robustes zweistöckiges Gebäude ohne jede architektonische Besonderheit. Ein elfenbeinfarbener, verputzter Kasten mit einem grauen Schieferdach. Das Haus war umgeben von einem Garten. Vor einem der Schlafzimmer im ersten Stock befand sich ein Balkon. Aber die Straße vor dem Haus interessierte von Daeniken am meisten. Vom Schnee befreit, verlief sie schnurgeradeaus und ebenerdig über eine Länge von etwa fünfhundert Metern. In seinen Augen gab sie eine perfekte Startbahn ab.
Er richtete das Fernglas etwas nach links. In einer Ecke des Anwesens stand ein kleiner Schuppen. Er schien für die Drohne nicht groß genug zu sein, aber Brigadegeneral Chabert hatte ihnen ja gesagt, dass die Drohne in Windeseile zusammengebaut werden konnte. Abgesehen davon wirkte das Haus vollkommen ruhig und ließ nichts von dem erkennen, was sich im Inneren vielleicht gerade abspielte.
Kaum zehn Meter weiter schloss sich schon der Sicherheitszaun des Flughafens an das Grundstück an. Auf der einen Seite erstreckte er sich über eine kleine Anhöhe, machte dann einen Bogen in nördliche Richtung und verlief über eine Länge von etwa drei Kilometern vor einem üppigen immergrünen Wald. Auf der anderen Seite ging der Zaun mitten durch eine weitläufige, schneebedeckte Wiese. Die Wiese wiederum grenzte an eine riesige Betonfläche, die von hohen, grellen Scheinwerfern angestrahlt wurde. Es war die südlichste Spitze des Züricher Flughafens.
Irgendwo in der Nähe hob gerade ein Flugzeug ab. Das Geräusch schwoll an, als die Maschine in ihre Richtung flog. In nur wenigen Sekunden hatte das Donnern der Turbinen alle anderen Geräusche ausgelöscht.
Von Daeniken ließ das Fernglas sinken und kehrte ins Wohnzimmer zurück. »Sie haben das Haus sorgfältig ausgesucht. Keine Nachbarn. Eine großartige Sicht auf den Flughafen. Nichts, das ihnen den Blick auf ihr Ziel verstellen könnte.«
»Und nicht nur das«, fügte ein kleiner, stämmiger Mann mit lockigem schwarzem Haar hinzu. Sein Name war Michael Berger, und er war der Einsatzleiter für Sturmangriffe bei der Züricher Polizei. Berger würde das Haus als Erster stürmen. »Wer auch immer dort drüben ist, wird uns schon von weitem auf das Haus zukommen sehen. Was meinen Sie, mit wie vielen Leuten haben wir es zu tun?«
»Wir wissen es nicht genau, aber wir gehen davon aus, dass es mindestens fünf sind. Vielleicht auch mehr.«
»Bewaffnet?«
»Darauf können Sie wetten. Es sind Profis. Sie haben sich vor ein paar Wochen zwanzig Kilo Semtex-H besorgt, die sich mit ziemlicher Sicherheit in der Drohne befinden.«
Berger nickte grimmig und rechnete sich im Geiste die Chancen aus, dass er und seine Männer den Einsatz erfolgreich und unbeschadet überstehen würden. »Wir greifen von der Luft aus zu. Mit zwei Hubschraubern. Das Team wird sich abseilen. Der Einsatz wird mit dem Start eines Passagierflugzeugs zusammenfallen, wenngleich die Hubschrauber Motorenschalldämpfer besitzen, so dass sie nahezu geräuschlos fliegen können. Ein zweites Team wird sich dem Haus von vorne über die Hauptstraße nähern. Ihre Freunde da drüben werden nicht das Geringste mitkriegen, bis wir ihnen die Türen einbrechen. Die gesamte Operation sollte in weniger als sechzig Sekunden vorbei sein.«
Von Daeniken betrachtete die Einsatzpläne an der Wand. »Wie oft haben Sie so was schon gemacht?«
Berger kniff die Augen zusammen. »Noch nie. Aber im Training leisten wir hervorragende Arbeit.«
Von Daeniken nickte wortlos.
»In vierzig Minuten geht’s los«, sagte Berger. »Einigen wir uns auf zwanzig nach sieben.«
Die Männer machten einen Uhrenvergleich.
Von Daeniken ging zurück zum Fenster, wo Meyer mit dem Fernglas stand. »Hat jemand aus der Nachbarschaft irgendwas Verdächtiges gehört oder gesehen?«
»Scheinbar war hier in den letzten paar Tagen eine ganze Menge los. Ein ständiges Kommen und Gehen. Autos, die die Straße hoch- und runtergefahren sind und vor dem Haus geparkt haben.«
»Irgendeinen Hinweis auf den Kleintransporter?«
»Alles, nur kein Kleintransporter.«
Hauptmann Berger gab ihnen von der Hintertür aus zu verstehen, dass es an der Zeit war, das Haus zu verlassen. Von Daeniken ging zu ihm. Gemeinsam rannten sie zu einem wartenden Kleintransporter und zogen die Wagentür hinter sich zu.
Zwei Minuten später erreichten sie die örtliche Feuerwehrstation, wo Bergers Männer bereits auf sie warteten. Zwei Aérospatiale-Écureuil-Hubschrauber standen mit sich gemächlich drehenden Rotorblättern auf dem angrenzenden Fußballfeld.
In der Feuerwehrstation konnte man die allgemeine Anspannung fast körperlich spüren, als die Männer ihre dunkelblauen Overalls und Kevlarwesten anzogen und danach ihre Nylongurte anlegten, in denen sich die Einsatzausrüstung befand: Funkgerät, Granaten, Munition. Das hier war alles andere als eine Trockenübung.
Das Team bestand aus insgesamt fünfundzwanzig Polizeibeamten. Der Trupp war nicht mehr ganz so jung, wie von Daeniken gehofft hatte. Ihm fiel auf, dass mehrere Beamte damit zu kämpfen hatten, die Westen über ihren stattlichen Bäuchen zu schließen. Die Standardausrüstung bestand aus einer kompakten Heckler-&-Koch-MP-5-Maschinenpistole. Zwei der Männer schulterten große unhandliche Wingmaster-Gewehre, mit denen man Türen aus den Angeln reißen konnte.
Von Daenikens Funkgerät meldete sich. Es war Meyer. »Im Haus sind gerade die Lichter angegangen.«
»Beleuchtung im Haus angeschaltet«, verkündete Berger seinem Team mit lauter Stimme.
Der Raum roch nach Angstschweiß.
»Irgendwelche Stimmen zu hören?«, fragte von Daeniken.
Ein Beamter aus dem Technikteam hatte ein Lasermikrophon auf die Fenster des observierten Hauses gerichtet. Das Gerät konnte die feinsten Vibrationen der Fensterscheiben messen, die von Personen verursacht wurden, die sich im Haus unterhielten, und diese Vibrationen so übersetzen, dass sie die ursprünglichen Laute möglichst genau wiedergaben.
»Der Fernseher ist eingeschaltet«, berichtete Meyer. »Hoffentlich stellen sie den Ton ordentlich laut.«
Berger teilte seine Männer in zwei Teams von je acht Mann auf und bestimmte acht Reserveleute. »Ich brauche grünes Licht von offizieller Seite.«
»Das haben Sie.« Von Daeniken wünschte ihm viel Glück.
Berger drehte sich um und ging zu seinen Männern zurück. »Wir starten in fünf Minuten.«
Von Daeniken lief auf einem Weg am Rande des Waldes zurück zur Kommandozentrale. Er blickte zum Himmel auf. Es war eine wunderbare Nacht mit einem funkelnden Sternenhimmel und einem tiefhängenden sichelförmigen Mond. Seine Armbanduhr zeigte an, dass es genau 7:16 Uhr war. Die Nacht war hereingebrochen. Hinter sich hörte er, wie Berger seine Männer in die Hubschrauber beorderte. Von Daeniken vergrub die Hände in den Taschen und beschleunigte seinen Schritt.
»Von Daeniken.«
Er blieb stehen, drehte sich einmal im Kreis und versuchte herauszufinden, aus welcher Richtung die Stimme gekommen war. Aber er konnte niemanden sehen.
Plötzlich löste sich ein großer, breitschultriger Mann aus dem Schatten der Bäume. »Mein Name ist Jonathan Ransom. Ich habe gehört, dass Sie nach mir suchen.«