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Jonathan wartete, bis ein großer Menschenpulk um ein Uhr aus der Mittagspause zurückkehrte und auf das Firmengelände strömte. Sodann schloss er sich einer Gruppe von etwa zwölf Arbeitern in blauen Jacketts an, die durch die Fabriktore und an dem einsamen Wachmann im Securitas-Wagen vorbeigingen. Er hatte seine Krawatte abgenommen und den Kragen seines Jacketts hochgeschlagen. Um den Hals trug er den gestohlenen Ausweis, den er wohlweislich umgedreht hatte, sodass das Foto nicht zu sehen war.
Im Gebäude selbst hielt sich kein Wachpersonal auf. Hier gab es lediglich eine elektronische Sicherheitsschranke am Ende des Flures. Er hielt seinen Ausweis an das Datenlesegerät und durfte passieren. Die Männer bogen in die eine Richtung ab. Die Frauen in die andere. Er betrat einen Umkleideraum. Ganz in seiner Nähe hing eine Stechuhr an der Wand. Zusammen mit den anderen reihte er sich in die Schlange vor der Uhr ein und hielt den Blick unverwandt auf den Boden gerichtet. Als er an die Reihe kam, nahm er eine beliebige Karte aus einem der Fächer und steckte sie in die Stechuhr. Zum Glück gehörte sie keinem der sechs oder sieben Männer, die hinter ihm standen. Neben dem Waschraum stand ein Schrank mit frisch gestärkten Arbeitskitteln. Er nahm sich einen in seiner Größe heraus und betrat dann durch eine doppelte Schwingtür die Produktionshalle.
Die Fabrikhalle hatte bis hin zu den freiliegenden Aluminiumträgern, die die Decke abstützten, eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem riesigen überdachten Stadion. Zahllose Arbeiter eilten geschäftig hin und her, einige zu Fuß, andere mit Gabelstaplern und wieder andere in Elektroautos. In der weitläufigen Halle waren in unregelmäßigen Abständen bis zu zehn Meter hohe Warenstapel aufgetürmt. Seltsamerweise schien die enorme Größe der Halle alle Geräusche eher zu dämpfen, sodass es hier fast so still war wie im Vakuum des intergalaktischen Raums.
Ganz in seiner Nähe warteten etliche Reihen blitzblanker, stählerner Druckkessel darauf, inspiziert zu werden. Jonathan sah sie sich von allen Seiten an und ging dann weiter durch die Halle. Wann immer er etwas sah, das ihn interessierte, blieb er stehen und fragte, was dort hergestellt wurde. Die Arbeiter waren zum größten Teil sehr höflich, zuvorkommend und professionell. So erfuhr er zum Beispiel, dass die Druckkessel tatsächlich Mischmaschinen waren, die für ein großes Schweizer Pharmazieunternehmen hergestellt worden waren.
An anderen Stellen waren die Arbeiter in der Fabrikhalle emsig mit der Produktion von Autoklaven, Luftkühlern und Extrudern beschäftigt - für eine einzige Firma eine ziemlich umfangreiche Produktpalette. Wie dem auch sei, es traf zu, was der Mann im Restaurant gesagt hatte: Die Zug Industriewerk AG schien nicht länger in der Rüstungsindustrie tätig zu sein.
Am hinteren Ende der Fabrikhalle fiel ihm ein Durchgang in eine andere Halle auf, durch den nur wenige Personen gingen. Jonathan bemerkte, dass der Eingang mit einem biometrischen Augenscanner gesichert war. Auf einem Schild neben der Tür stand: »THOR. Thermal Heating and Operation Research. Durchgang nur für befugtes Personal.«
Thor. Der Name von Emmas USB-Stick. Der Name auf der Aktennotiz, die er auf dem Schreibtisch von Blitz gefunden hatte: Voraussichtlicher Abschluss gegen Ende des ersten Quartals 200-. Letzte Lieferung an Kunden am 10. 2. Demontage aller Montageeinheiten muss am 13.2. abgeschlossen sein.
Jonathan versuchte gar nicht erst, in den gesicherten Bereich zu gelangen. Er drehte sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung. Nach Antworten auf seine Fragen würde er woanders suchen müssen. Im Hauptgebäude.
An einer Wand hing ein Klemmbrett mit einem Qualitätssicherungsformular, daneben stand eine Kiste mit sechs glänzenden Ventilen. Er nahm beides an sich. Den Wegweisern im Gebäude folgend, gelangte er zum Hauptverwaltungstrakt. Mit einem höflichen Kopfnicken ging er an der Empfangsdame vorbei und betrat einen Fahrstuhl am hinteren Ende des Eingangsbereichs.
Im Fahrstuhl hing ein Schild, das darauf hinwies, was auf den einzelnen Etagen zu finden war. Erdgeschoss: Rezeption. Erster Stock: Finanzabteilung. Zweiter Stock: Verkauf und Werbung. Dritter Stock: Direktion. Er drückte auf die »2«.
Im zweiten Stock angelangt, sah er, dass die Zimmer nummeriert waren: 2.1, 2.2 und so weiter. Unter jeder Nummer waren der Name oder die Namen der jeweiligen Büroleiter aufgeführt. Das Büro von Hannes Hoffmann befand sich hinter der letzten Tür auf der linken Seite. Eine tadellos frisierte Sekretärin saß im Vorzimmer.
»Für Herrn Hoffmann«, sagte er und hielt ihr die Kiste entgegen, als ob sich darin ein Weihnachtsgeschenk befände.
»Wen darf ich melden?«
Jonathan nannte ihr den Namen des Mannes, dessen Ausweis er gestohlen hatte. »Proben zur Inspektion.«
Die Empfangsdame würdigte den Ausweis keines Blickes.
Jonathan wurde klar, dass sie nicht mit von der Partie war. Sie hatte nichts mit Thor zu tun.
»Ich werde Sie telefonisch anmelden«, sagte die Frau.
»Nur keine Umstände«, sagte Jonathan. »Er erwartet mich.«
Ohne auch nur einen einzigen Gedanken an die möglichen Folgen zu verschwenden und nur von dem übermächtigen Wunsch getrieben, endlich alles zu erfahren - über Emma, über Thor, über wirklich alles -, öffnete er die Tür und betrat das Büro von Hannes Hoffmann.