59
Jonathan fuhr bis zur völligen Erschöpfung. In Rapperswil am südlichen Ende des Zürichsees verließ er die Autobahn und lenkte den Wagen durch die Stadt und weiter die Hügel hinauf. Als er zehn Minuten lang an keinem Haus mehr vorbeigekommen war und weit und breit kein Auto entdecken konnte, fuhr er an den Straßenrand und schaltete den Motor aus. Bis Davos waren es noch hundert Kilometer.
Er holte die Nottaschenlampe aus dem Handschuhfach und las die Zeitungen, die er gekauft hatte. Außer dem, was er zufällig in den Fernsehnachrichten aufgeschnappt hatte, wusste er ziemlich wenig über das Wirtschaftsforum.
Das Wirtschaftsforum fand einmal im Jahr statt und brachte an die tausend führende Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft aus aller Welt an einen Tisch, um über ein ausgewähltes Thema und dessen Gefahren und Nutzen für die Menschheit zu diskutieren. In diesem Jahr ging es um die starke Zunahme von Nuklearwaffen. In einem Artikel stand, dass »achtzehn Staatsoberhäupter, zweihundert Minister und vierundsiebzig der einhundert namhaftesten CEOs« zum Gipfel erwartet wurden. Auf der Gästeliste von diesem Jahr standen unter anderem zwei ehemalige US-Präsidenten, der britische Premierminister, der Sultan von Brunei, der König von Jordanien und die Vorsitzenden von Shell, Intel und der Deutschen Bank.
Ein Artikel in der Financial Times befasste sich mit den Sicherheitsvorkehrungen im Zuge des Großereignisses. Gut dreitausend Soldaten sollten eine Schar von zweihundert Polizeibeamten dabei unterstützen, den reibungslosen Ablauf des Wirtschaftsforums zu gewährleisten. Niemand durfte ohne vorherige Durchsuchung die Konferenzräume betreten. Auf einigen Fotos waren große Zäune zu sehen, die auf schneebedeckten Feldern errichtet worden waren und mit imposanten Scheinwerfern und von bewaffneten Wachposten mit Schäferhunden gesichert wurden. Den Fotos nach zu urteilen ähnelte Davos derzeit eher einem Inhaftierungslager als einem Wintersportparadies.
Im Tagesanzeiger fand er einen Artikel über eine Schweizer Firma, die die Lesegeräte für die Ausweise der Forumsbesucher hergestellt hatte. Die Scanner wurden von den Sicherheitsbehörden aufgestellt und mussten von allen passiert werden, die das Großereignis besuchen wollten. Der Firmenchef behauptete großspurig, dass niemand seine Lesegeräte austricksen könne. Er führte aus, dass es drei Sicherheitsbereiche gab. Die grüne Zone stand allen Anwohnern und Besuchern offen. Sie mussten aber dennoch an einem der drei Sicherheitskontrollschalter eine Art Identitätsnachweis vorzeigen, bevor sie einen offiziellen Besucherausweis erhielten, den sie ständig um den Hals tragen mussten. Die gelbe Zone umfasste den Teil der Stadt, in dem sich das Kongresshaus befand, wo das Wirtschaftsforum tatsächlich abgehalten wurde, sowie die öffentlichen Einrichtungen in unmittelbarer Nähe der Hotels, in denen die offiziellen Besucher des Gipfels untergebracht waren. Um Zugang zur gelben Zone zu erhalten, musste man eine offizielle Einladung zum Wirtschaftsforum vorweisen und sich vom Nachrichtendienst der Schweiz überprüfen lassen.
Zur roten Zone gehörte das Kongresshaus, in dem alle Reden gehalten wurden und die Sitzungen der Ausschüsse stattfanden sowie das Belvedere Hotel, in dem die meisten VIPs residierten. Die Ausweise, die Zutritt zu diesem Bereich gestatteten, waren nicht nur mit einem Foto versehen, sondern enthielten auch einen Chip mit allen relevanten Informationen über die entsprechende Person. Personen, die Zutritt zur roten Zone hatten, erhielten zudem spezielle Lesegeräte. Diese konnten in einem Umkreis von zehn Quadratmetern die Signale der anderen Gipfelteilnehmer empfangen und den Namen, das Foto und die Biographie dieser Personen auf das Display des Lesegerätes übertragen. Zwar würde wohl niemand der Teilnehmer einen Bill Gates oder Tony Blair übersehen, aber den saudischen Ölminister in dem Besucherpulk auszumachen, war ohne Frage eine andere Sache.
Jonathan kramte alle Gegenstände aus dem Handschuhfach und warf sie auf den Beifahrersitz. Er war sich sicher, dass Emma einen Ausweis bekommen hatte, der ihr Zutritt zur roten Zone gewährte, falls sie den Auftrag erhalten hatte, in Davos das Auto an P.J. auszuliefern. Er blätterte die Gebrauchsanweisung des Wagens durch, genauso wie das Serviceheft und die Kaufbelege, beugte sich dann vor und fuhr mit der Hand über die Verkleidung des Handschuhfachs. Nichts.
Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und dachte angestrengt nach. Wenn der Ausweis nicht beim Gepäck war, das Blitz nach Landquart geschickt hatte, dann musste er im Wagen sein. Aber wo? In der Gebrauchsanweisung stand, dass der Mercedes neben dem Panzerschutz noch weitere Besonderheiten aufwies. Der Wagen war zudem mit Gleitschutzbremsen, einer elektronischen Einparkhilfe und SSR-Pannenlaufreifen ausgestattet.
Schließlich fand er das Gesuchte unter der Rubrik »Kundenspezifikationen«: Ein Tresor, der unter dem linken Rücksitz versteckt war. Er stieg aus dem Wagen und öffnete die Heckklappe. Dann beugte er sich in den Kofferraum und zog an einer Schlaufe, die am unteren Ende des Sitzes zu sehen war. Der Sitz klappte hoch. Darunter befand sich eine unauffällige schwarze Stahlkiste. Er öffnete sie. Darin lag ein DIN-A4-Umschlag, auf dem »Eva Krüger« stand. Er riss ihn auf. Ein Plastikausweis an einem Stoffband fiel heraus. Der Ausweis gewährte Zugang zum Wirtschaftsforum, darauf das Foto, das er schon von Eva Krügers Führerschein kannte. Des Weiteren befanden sich in dem Umschlag ein französischer Pass mit dem Foto von Parvez Jinn und ein Handy.
Ein Pass zusammen mit einhunderttausend Schweizer Franken und dem gepanzerten Mercedes Sedan. All das, so schloss Jonathan, als Gegenlieferung für »Gold« - etwas, das Parvez Jinn, der Technologie-Minister der Islamischen Republik Iran, ihnen aushändigen sollte.
Er setzte sich wieder hinters Steuer und nahm das Handy zur Hand, ein absolutes Billigmodell. Er schaltete es ein und sah, dass es über ein Guthaben von fünfzig Schweizer Franken verfügte. Emma ein Handy zu hinterlegen, ergab nur dann einen Sinn, wenn sie damit jemanden hätte anrufen sollen … jemanden, der nur unter einer bestimmten Nummer zu erreichen war. Parvez Jinn? Er checkte das Telefonbuch, fand aber keine eingespeicherten Nummern. Oder war es vielmehr so, dass Jinn den Auftrag hatte, sich mit ihr in Verbindung zu setzen? Das erschien wesentlich logischer. Der Minister würde einen geeigneten Moment abpassen müssen, einen Moment, in dem er keine Bodyguards um sich hatte.
Allmählich dämmerte Jonathan, was sich hier abspielte. Er verstand noch längst nicht alles, nur den Kern der Sache: Warenlieferungen im Austausch für Informationen. Oder »Gold«, wie sie es nannten. Es gab nur eine Ware, die die Iraner seines Wissens nach interessierte. Die Art von Ware, die der Westen ihnen vorenthielt.
Er richtete sich kerzengerade auf; sein Herz pochte bis zum Hals. Rasch loggte er sich noch einmal auf der Interlink-Website ein und studierte erneut die Liste der Warenlieferungen. Zentrifugen, Navigationsgeräte, Vakuumröhren. Er ging die letzten Monate zurück - Dezember, November, Oktober: Kohlenstoffextruder. Maraging-Stahl. Kühlsysteme. Und noch weiter zurück - September. August: Ringmagneten. Luftkühler. Für Jonathan bestand kein Zweifel mehr daran, dass die Teile mit einer irreführenden Bezeichnung versehen worden waren. Es machte keinen Unterschied, ob er ihre genaue Funktion kannte oder nicht. Er wusste, wofür sie bestimmt waren, und das reichte.
Plötzlich verspürte er den unbändigen Drang, aus dem Wagen zu steigen. Fast fluchtartig verließ er das Auto und lief die Straße hinauf. Er wurde immer schneller, und schließlich rannte er die Steigung hinauf, ohne auf seine schmerzenden Beine, sein Herzrasen und seinen keuchenden Atem Rücksicht zu nehmen.
Er ließ die Gedanken schweifen und stellte sich vor, in diesem Augenblick in den Bergen zu sein, tief in der Wildnis, für einige Tage auf einer Expedition, wo einen plötzlich - für einen erkenntnisreichen, kurzen Moment - die Erkenntnis überwältigte, dass, zumindest für den Augenblick, alles andere bedeutungslos wurde: die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft. Hier tat sich eine neue Welt auf, losgelöst von allem, was bislang gewesen war, ohne Verpflichtungen und Erwartungen, die einen vorwärtstrieben. In diesem Moment war man nichts weiter als ein einzelner Mensch, allein und nur von Felsen, Bäumen und reißenden Flüssen umgeben. Ein einzelnes, klopfendes Herz, umgeben von einer Welt, die es schon seit Ewigkeiten gab, noch bevor die Menschheit damit begonnen hatte, sie zu zerstören. In einem solchen Augenblick fühlte man sich verwegen und unbeschreiblich lebendig.
Zehn Minuten später erreichte er den Gipfel des Hügels, auf dem eine Steinpyramide errichtet worden war. Er umrundete sie. Seine Lungen brannten, und seine Augen schmerzten von der Kälte. Im Norden erkannte er die sichelförmige Silhouette des Zürichsees, an dessen Ufern die Lichter der Häuser wie Juwelen funkelten. Im Süden lag das Tal, so weit das Auge reichte, in eine tiefe Dunkelheit gehüllt, die nur sehr vereinzelt von kleinen Lichtpunkten durchbrochen wurde. In etwa einem Kilometer Luftlinie waren bereits die Ausläufer der Alpen zu erkennen, die sich mit ihren zerklüfteten Gipfeln vor ihm auftürmten und der fruchtbaren Ebene ein jähes Ende bereiteten.
Warum, Emma?, schrie alles in ihm. Warum um Gottes willen hast du dem gefährlichsten Land der Welt all diese Dinge zukommen lassen? Keine Frage, man hatte sie gebraucht, um Bomben bauen zu können. Nicht irgendwelche Bomben. Die Bombe.
Kurz darauf machte er sich wieder an den Abstieg. Nach zehn Minuten erreichte er den Mercedes. Er stieg ein und schaltete die Heizung an. Eine Frage quälte ihn mehr als alle anderen.
Für wen hatte sie gearbeitet?
Er legte den Kopf zurück und schloss die Augen, aber in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Es dauerte lange, bis er einschlief. Am Horizont zeigte sich bereits das erste Licht des Tages und tauchte den Himmel in ein unheilverkündendes, aschfahles Grau.