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Jonathan Ransom klopfte sich das Eis von der Skibrille und warf einen prüfenden Blick zum Himmel. Wenn sich das Wetter weiter verschlechtert, dachte er, kommen wir in ernsthafte Schwierigkeiten. Ein beißender Wind schleuderte ihm Schnee und Kies gegen die Wangen. Die ihm vertrauten zerklüfteten Bergspitzen, welche die Hochgebirgsschlucht in den Schweizer Alpen säumten, waren von einer Armee unheilverkündender Wolken eingehüllt.

Er neigte sich beim Hangaufstieg nach vorne, hob die Füße bei jedem Schritt leicht an. Die Nylon-Seehundhäute unter seinen Skiern sorgten für festen Halt auf dem Schnee, spezielle Bindungen für den Tourenskilauf dafür, dass er zügig vorankam. Er war ein hochgewachsener Mann, siebenunddreißig Jahre alt, mit schmalen Hüften und breiten Schultern. Eine gut sitzende Wollmütze verbarg sein volles, frühzeitig angegrautes Haar. Die Skibrille verdeckte seine blau-schwarzen Augen. Nur sein entschlossener Mund und seine von einem Zweitagebart stoppeligen Wangen waren unbedeckt. Er trug seine alte Bergwachtjacke. Ohne sie ging er niemals auf die Piste.

Hinter ihm kämpfte sich Emma, seine Frau, die mit einem roten Parka und einer schwarzen Hose bekleidet war, den Berghang hinauf. Sie tat sich sichtlich schwer mit dem Aufstieg, machte drei Schritte vorwärts und legte dann eine Pause ein. Zwei Schritte vorwärts, Pause. Sie hatten gerade einmal die halbe Strecke zurückgelegt, doch sie schien mit ihren Kräften bereits am Ende zu sein.

Jonathan richtete seine Skier quer zum Hang aus und rammte die Stöcke in den Schnee. »Bleib, wo du bist«, rief er Emma durch seine trichterförmig um den Mund gelegten Hände zu. Er wartete auf eine Reaktion, doch seine Frau hatte ihn im heulenden Wind nicht gehört. Mit gesenktem Kopf setzte sie ihren schwerfälligen Aufstieg fort.

Mit seitlich gestellten Skiern bewegte sich Jonathan wieder den Hang hinunter. Er war steil und schmal, mit nacktem Felsgestein auf der einen und einer tiefen Schlucht auf der anderen Seite. Tief unter ihnen lag an einem geschwungenen Berghang des Kantons Graubünden die Gemeinde Arosa. Das Dorf war jedoch nur schemenhaft unter den schnell aufziehenden Wolkentürmen zu erkennen.

»War der Aufstieg schon immer so anstrengend?«, fragte Emma, als er sie erreicht hatte.

»Beim letzten Mal hast du mich auf dem Weg zum Gipfel abgehängt.«

»Das letzte Mal liegt acht Jahre zurück. Ich werde eben alt.«

»Klar, zweiunddreißig, ein wahrhaft biblisches Alter. Was soll ich denn sagen? Glaub mir, wenn du die fünfunddreißig erst mal überschritten hast, geht’s nur noch bergab.« Er kramte in seinem Rucksack nach einer Flasche Wasser und reichte sie ihr. »Wie fühlst du dich?«

»Halbtot«, sagte sie und stützte sich schwer auf ihre Skistöcke. »Ist wohl an der Zeit, die Sherpas zu rufen.«

»Falsches Land. Hier gibt’s nur Bergmännchen. Die sind zwar gewitzter, aber leider auch nur halb so kräftig. Ich fürchte, wir sind auf uns allein gestellt.«

»Irrtum ausgeschlossen?«

Jonathan nickte. »Du bist nur überhitzt. Nimm für einen Moment deine Mütze ab, und trink so viel du kannst.«

»In Ordnung, Doktor. Wird sofort erledigt.« Emma entledigte sich ihrer Mütze und trank mit gierigen Schlucken aus der Flasche.

Jonathan erinnerte sich daran, wie er und seine Frau vor acht Jahren ihren ersten gemeinsamen Aufstieg auf demselben Berg unternommen hatten. Damals war er ein frischgebackener Chirurg gewesen, der gerade von seinem ersten Afrika-Einsatz bei Ärzte ohne Grenzen zurückgekehrt war, sie eine zupackende englische Krankenschwester, die er von dort als seine Braut mitgebracht hatte. Kurz vor ihrem Aufbruch hatte er sie gefragt, ob sie bereits Erfahrungen mit dem Bergsteigen gesammelt hätte. »Einige wenige«, hatte sie darauf erwidert. »Kaum der Rede wert.« Und dann hatte sie ihn auf dem Weg zum Gipfel einfach abgehängt und ihm gezeigt, dass sie eine erfahrene Alpinistin war.

»Jetzt ist’s besser«, sagte Emma und fuhr sich mit der Hand durch ihr zerzaustes rotbraunes Haar.

»Bist du sicher?«

Emma lächelte, doch aus ihren haselnussbraunen Augen sprach die blanke Erschöpfung. »Tut mir leid«, sagte sie.

»Was denn?«

»Dass ich nicht so fit bin, wie ich’s hätte sein sollen. Dass wir wegen mir nicht so schnell vorankommen. Dass ich dich in den letzten Jahren nicht hierher begleitet habe.«

»Sei nicht albern. Ich bin froh, dass du hier bist.«

Emma reckte ihm ihr Gesicht entgegen und küsste ihn. »Ich auch.«

»Hör mal«, sagte er und wurde ernst. »Hier wird’s bald sehr ungemütlich. Ich frage mich, ob wir nicht lieber umkehren sollten.«

Emma warf ihm die Flasche zu. »Keine Chance, mein Lieber. Ich hab dich schon einmal auf dem Weg zum Gipfel geschlagen, und ich bin fest entschlossen, es wieder zu tun.«

»Willst du dein Geld darauf verwetten?«

»Ich dachte an was viel Besseres.«

»Ach wirklich?« Jonathan trank einen Schluck und freute sich, von ihr mal wieder eine zweideutige Bemerkung zu hören. Wie lange war es her, dass sie so etwas zu ihm gesagt hatte? Sechs Monate? Oder war sogar schon ein Jahr vergangen, seit bei ihr die Kopfschmerzen eingesetzt hatten und sie sich für viele Stunden am Tag in abgedunkelte Räume zurückzog? Er konnte sich nicht mehr an das genaue Datum erinnern. Lediglich daran, dass die Sache kurz vor Paris angefangen hatte. Und Paris, das war im Juli gewesen.

Er schob seinen Ärmel hoch und prüfte die Daten auf seiner Suunto-Armbanduhr. Höhe: 2 804 Meter. Temperatur: -10° C. Barometer: 900 Millibar, Tendenz fallend. Er starrte auf die Zahlen und wusste nicht, ob er seinen Augen trauen konnte. Der Luftdruck fiel rapide.

»Was ist los?«, wollte Emma wissen.

Jonathan verstaute die Wasserflasche in seinem Rucksack. »Der Sturm wird noch mal zulegen, bevor das Wetter sich schließlich beruhigt. Wir müssen zusehen, dass wir hier wegkommen. Bist du sicher, dass du nicht umkehren willst?«

Emma schüttelte den Kopf. Kein verletzter Stolz diesmal. Nur Entschlossenheit.

»In Ordnung«, sagte er. »Du gehst voran. Ich folge dir. Lass mich nur eben rasch meine Bindungen kontrollieren.«

Als er sich hinkniete, sah Jonathan, wie etwas Schnee auf seine Skispitzen purzelte. Kurz darauf waren seine Skier komplett mit Schnee bedeckt, und die Skispitzen erzitterten fast unmerklich.

Jonathan ließ die Bindungen Bindungen sein und richtete sich alarmiert auf. Hinter ihm türmte sich die Furkanordwand auf, ein dreihundert Meter hohes Massiv aus Felsgestein und Eis mit einem zerklüfteten Kalksteingipfel. Die vorherrschenden Winde hatten losen Schnee gegen den unteren Teil der Wand geweht, sodass ein hoher, breiter Schneewall entstanden war, der gestaucht und instabil wirkte.

Jonathans Kehle war wie ausgedörrt. Er war ein erfahrener Bergsteiger. Hatte Klettertouren in den Alpen, den Rockys und auch auf dem Himalaya unternommen und dabei einige Blessuren davongetragen. Er war mit einem blauen Auge davongekommen, wo andere auf der Strecke geblieben waren. Kurz: Er wusste, wann er sich Sorgen machen musste.

»Spürst du das auch?«, fragte er. »Die Schneedecke ist drauf und dran, sich zu lösen.«

»Hast du irgendwas gehört?«

»Nein. Noch nicht. Aber …«

Von irgendwoher … irgendwo über ihnen … konnten sie das Grollen eines herannahenden Donners hören. Der Berg erzitterte. Er dachte an den Schnee auf dem Furka. Die tagelange Kälteperiode hatte ihn zu einer gigantischen Platte zusammenfrieren lassen, die mehrere tausend Tonnen wog. Das war kein Donnergrollen, das er gehört hatte, sondern das Geräusch der auseinanderbrechenden Schneeplatte, die sich von dem darunterliegenden, alten, festen Schnee löste.

Jonathan blickte zum Berg auf. Er war schon einmal von einer Schneelawine überrollt worden. Elf Minuten lang hatte er unter der weißen Last gelegen, begraben in der Dunkelheit, unfähig, eine Hand zu bewegen oder auch nur einen Finger, zu betäubt von der Kälte, um zu spüren, dass sein Bein aus dem Hüftgelenk gerissen worden war, sodass sich sein Knie nur wenige Zentimeter von seinem Ohr befunden hatte. Am Ende hatte er überlebt, weil einem Freund das Kreuz auf seiner Bergwachtjacke ins Auge gefallen war, kurz bevor die Lawine Jonathan unter sich begraben hatte.

Zehn Sekunden verstrichen. Der Donner verhallte. Der Wind ließ nach, und eine unheimliche Stille breitete sich aus. Wortlos löste Jonathan das Seil, das um seine Taille gebunden war, und schlang das eine Ende um Emmas Körper. An einen Rückzug war nun nicht mehr zu denken. Sie mussten so schnell wie möglich aus dem Lawinengebiet heraus. Mit einigen knappen Handsignalen gab er Emma zu verstehen, dass sie auf direktem Wege bergauf laufen würden und sie ihm ohne großen Abstand folgen sollte. »Okay?«, fragte er sie per Handzeichen.

»Okay«, lautete die Antwort.

Jonathan brachte seine Skier in Position und ging los. Die Bergwand war steil und ähnelte in ihrem Verlauf der Bergseite. Er kam zügig voran. Alle paar Meter warf er einen Blick über die Schulter und sah, dass Emma mit ihm Schritt hielt und ihm in etwa anderthalb Metern Abstand folgte. Der Wind nahm wieder zu und drehte in östliche Richtung. Dicke Schneeflocken fielen senkrecht vom Himmel und setzten sich auf ihre Kleidung. Seine Zehen wurden gefühllos, seine Finger taub und steif. Die Sicht verschlechterte sich von sechs auf drei Meter, und schon bald konnte er den Weg vor seiner Nasenspitze nicht mehr erkennen. Allein seine schmerzenden Oberschenkel verrieten ihm, dass er immer noch bergauf ging und sich von der Schlucht entfernte.

Eine Stunde später erreichte er das Felsplateau. Erschöpft sicherte Jonathan seine Skier und half Emma die letzten paar Meter hinauf. Nachdem sich ihre Skier über die Kante geschoben hatten, brach sie in seinen Armen zusammen und rang keuchend nach Luft. Er hielt sie fest, bis sich ihre Atmung etwas normalisiert hatte und sie wieder ohne Hilfe stehen konnte.

Hier, zwischen zwei Bergspitzen, pfiff ihnen der Wind mit der Geschwindigkeit eines Düsenjets um die Ohren. Die Wolken am Himmel jedoch hatten sich etwas verzogen, und Jonathan genoss den atemberaubenden Blick über das Tal bis nach Frauenkirch und dem dahinter gelegenen Davos.

Er fuhr auf seinen Skiern bis an den gegenüberliegenden Rand des Felsenplateaus. Sechs Meter unter ihm befand sich eine Abfahrtsschanze, die sich steil wie ein Fahrstuhlschacht zwischen den Felsen hindurchschlängelte. »Das ist die Romansschanze. Wenn wir da runterkommen, sind wir in Sicherheit.«

Die Romansschanze war in der Gegend berühmt und berüchtigt, denn sie war nach einem Mann benannt worden, der von einer Schneelawine erfasst und getötet worden war, als er an dieser Stelle zu Tal hatte fahren wollen.

Beim Anblick der Schanze weiteten sich Emmas Augen vor Entsetzen. Sie blickte Jonathan an und schüttelte den Kopf. »Zu abschüssig.«

»Wir sind schon mit Schlimmerem fertig geworden.«

»Nein, Jonathan … schau nur, wie steil es hier bergab geht. Gibt’s keinen anderen Weg?«

»Heute nicht.«

»Aber …«

»Em, wenn wir nicht bald von diesem Felsplateau runterkommen, erfrieren wir.«

Sie trat noch einen Schritt näher an den Rand und reckte den Hals, um zu sehen, was sie dort unten erwartete. Dann schob sie sich zurück und legte das Kinn an die Brust. »Ach, was soll’s«, sagte sie mit wenig Überzeugung in der Stimme. »Wir stecken nun mal hier oben fest. Was haben wir für eine Wahl?«

»Nur eine kurze Abfahrt, eine schnelle Drehung, und dann haben wir’s geschafft. Wie gesagt, wir haben schon Schlimmeres überstanden.«

Emma nickte, etwas beruhigter jetzt. Einen Moment lang wirkte sie fast so, als sei alles in bester Ordnung, als müssten sie sich nicht um erfrorene Gliedmaßen sorgen, als freue sie sich fast auf die persönliche Herausforderung, eine selbstmörderische Schanze zu bewältigen.

»Also abgemacht.« Jonathan löste seine Bretter und entfernte die Häute von der Unterseite. Dann schlug er mit einem der Skier wie mit einer Axt ein neunzig Zentimeter großes Schneestück heraus und warf es über die Kante. Der Brocken geriet in Bewegung und rollte den Berg hinunter. Hier und dort löste sich etwas Schnee, doch die Piste wirkte fest und sicher.

»Du folgst mir«, sagte er. »Ich gebe die Spur vor.«

Emma trat an seine Seite. Ihre Skispitzen ragten über die Kante.

»Geh zurück«, sagte er und beeilte sich, seine Skier wieder anzuschnallen. Er wusste, sie hatte nun diesen gewissen Ausdruck in ihrem Gesicht. Er musste sie dazu nicht mal ansehen. Er konnte es fühlen. »Lass mich zuerst fahren.«

»Ich will aber nicht, dass du die ganze Schwerarbeit erledigst.«

»Denk nicht mal dran.«

»Wer als Letzter unten ankommt, hat verloren. Weißt du noch?«

»Hey … nicht!«

Emma schob sich über den Rand, hing für einen Moment in der Luft und landete dann auf der Piste. Ihre Skier berührten das Eis mit einem leise zischenden Geräusch. Sie landete ziemlich wackelig und sauste in Blitzgeschwindigkeit die Schanze hinab, mit einem etwas schief gestellten Abfahrtsski, den sie fest auf den Schnee presste. Dabei hielt sie die Hände zu weit oben und den Körper zu weit aufgerichtet. Ihre gesamte Haltung wirkte unsicher und unkontrolliert. Jonathans Blicke flogen zwischen den Felsen hin und her, die die Piste säumten. Komm schon! Kurve!, schrie eine Stimme in seinem Kopf.

Kaum drei Meter befanden sich noch zwischen ihr und den Felsen. Anderthalb. Im nächsten Augenblick legte Emma eine perfekte Sprungwende hin und wechselte die Richtung.

Jonathan fiel ein Stein vom Herzen.

Emma raste über die Piste und bewältigte eine weitere Kurve fehlerfrei. Die Hände waren nun dicht an ihrem Körper, die Knie leicht gebeugt, um die unebenen Stellen auf der Strecke abzufedern. Alle Anzeichen von Erschöpfung waren von ihr abgefallen.

Jonathan reckte triumphierend eine Faust gen Himmel. Sie hatte es geschafft. In dreißig Minuten würden sie in einer gemütlichen Ecke im Staffelalp-Restaurant in Frauenkirch sitzen, sich bei zwei dampfenden »Kaffee Lutz« die Anspannung des Tages von der Seele lachen und sich einreden, dass sie nie wirklich in Gefahr geschwebt hätten. Nicht ernsthaft jedenfalls. Später würden sie ins Hotel zurückkehren, ins Bett fallen, und …

In der dritten Kurve stürzte Emma.

Vielleicht war sie irgendwo hängen geblieben oder hatte eine halbe Sekunde zu spät reagiert und die Felsen mit den Skiern gestreift. Jonathans Magen krampfte sich zusammen. Starr vor Entsetzen sah er, wie ihre Skier eine tiefe Schneise in die Piste schnitten. Emma versuchte, sich mit den Händen im Schnee festzukrallen, aber der Abhang war zu steil. Und zu vereist. Sie legte an Geschwindigkeit zu. Wurde schneller und schneller. Als sie gegen ein Hindernis prallte, wurde sie wie eine Stoffpuppe in die Luft geschleudert. Mit einem unnatürlich verdrehten Bein schlug sie auf dem Boden auf. Dabei schoss der Schnee explosionsartig in die Höhe. Wie von einer Kanone abgefeuert flogen ihre Skier durch die Luft. Einige Sekunden lang sah Emma aus wie ein großer, sich überschlagender Seestern, der mit weit abgespreizten Armen und Beinen den Hang hinabkugelte.

»Emma!«, schrie er und stürzte sich auf die Piste. Er fuhr wie ein Besessener und attackierte den Berg mit angespanntem Körper und weit ausgestreckten Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Ein Nebelschleier zog über den Abhang, dann wurde er von dichten Schwaden eingehüllt, sodass er die Hand nicht mehr vor Augen erkennen konnte und keine Ahnung hatte, in welche Richtung er fahren musste. Er lenkte seine Skier geradeaus und schoss durch die weiße Wolke.

Emma lag ein gutes Stück weiter unten auf der Piste - bäuchlings, mit auswärts gerichteten Füßen und im Schnee vergrabenem Gesicht. Etwa drei Meter von ihr entfernt hielt Jonathan an. Nachdem er sich der Skier entledigt hatte, lief er mit ausladenden Schritten durch den Pulverschnee auf sie zu, suchte schon beim Näherkommen nach irgendeinem Lebenszeichen. »Emma«, sagte er mit fester Stimme. »Kannst du mich hören?«

Im Niederknien streifte er hastig seinen Rucksack ab, dann befreite er ihren Mund und ihre Nase vom Schnee. Als er ihr eine Hand auf den Rücken legte, spürte er, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte. Ihr Pulsschlag war regelmäßig und deutlich zu fühlen. Er holte eine Nylon-Netztasche aus seinem Rucksack, in der sich eine Ersatzmütze, ein Paar Fäustlinge, eine Skibrille und ein Capilene-Hemd befanden. Das Hemd faltete er zusammen und legte es unter ihre Wange.

In diesem Moment regte sich Emma. »Oh, Scheiße«, murmelte sie.

»Beweg dich nicht«, wies er sie in seinem Notaufnahmeton an und tastete vom Oberschenkel aus abwärts vorsichtig ihre Hosenbeine ab. Plötzlich verzog sie schmerzverzerrt das Gesicht. »Nicht … Hör auf!«, rief sie aus.

Jonathan zog die Hand zurück. Ein paar Zentimeter oberhalb ihres Knies zeichnete sich unter dem Stoff deutlich etwas ab. Er sah sich die groteske Wölbung genauer an. Es gab nur eine mögliche Erklärung dafür.

»Es ist gebrochen, oder?« Emma sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an und blinzelte heftig. »Ich kann meine Zehen nicht bewegen. Sie fühlen sich an wie ein loses Kabelbündel. Und es tut weh, Jonathan. Ich meine wirklich höllisch weh.«

»Bleib ganz ruhig, damit ich mir die Sache mal ansehen kann.«

Mit seinem Schweizer Armeemesser schnitt er vorsichtig ihr Hosenbein auf und zog den Stoff auseinander. Aus ihrer Thermalunterwäsche ragten Knochensplitter. Der die Wunde umgebende Stoff war blutgetränkt. Keine Frage, sie hatte sich einen offenen Oberschenkelbruch zugezogen.

»Wie schlimm ist es?«, fragte Emma.

»Es geht so«, antwortete er, als handele es sich nur um eine Verstauchung. Er holte fünf Schmerztabletten aus seinem Rucksack und half ihr dabei, sie mit etwas Wasser einzunehmen. Dann nahm er einen Pflasterverband aus dem Erste-Hilfe-Kasten und verschloss damit den Schlitz in ihrer Skihose. »Wir müssen dich auf den Rücken drehen und dich mit dem Kopf bergauf legen. Okay?«

Emma nickte.

»Zuerst werde ich aber dein Bein notdürftig schienen. Der gebrochene Knochen darf sich auf keinen Fall verschieben. Bleib bitte einen Moment ganz still liegen.«

»Grundgütiger Himmel, Jonathan. Sehe ich vielleicht so aus, als ob ich dir jeden Augenblick davonlaufe?«

Jonathan kletterte die Piste hinauf, um Emmas Skier und Skistöcke einzusammeln. Dann positionierte er die Stöcke rechts und links neben ihrem Bein, schnitt ein Stück des Kletterseils ab, band es um das untere Ende der Stöcke und schlang es locker um ihren Oberschenkel und ihr Schienbein. Danach kniete er sich neben sie und reichte ihr sein Lederportemonnaie. »Hier.«

Emma steckte es sich zwischen die Zähne.

Behutsam zog Jonathan das Seil an, bis sich die Stöcke fest an das gebrochene Bein geschmiegt hatten. Emma hielt die Luft an. Schließlich band er das andere Ende des Seils fest und drehte sie zunächst auf den Rücken und dann um hundertachtzig Grad, sodass ihr Kopf oben und ihre Füße unten lagen. Die nächste Minute verbrachte er damit, aus Schnee einen kleinen Hügel hinter ihrem Rücken aufzuhäufen, sodass sie sich aufrichten konnte. »Besser?«, fragte er.

Emma zog eine Grimasse, während ihr eine Träne über die Wange rollte.

Er drückte ihre Schulter. »In Ordnung. Jetzt sollten wir schleunigst Hilfe holen.« Er nahm das Funkgerät aus seiner Jacke. »Davos Rettungsstation«, rief er und drehte sich in eine windgeschütztere Position. »Ich möchte einen Notfall melden. Eine Skifahrerin liegt verletzt am südlichen Abhang des Furka am Fuße der Romansschanze. Over.«

Auf seinen Funkspruch folgte nichts als Stille.

»Davos Rettungsstation«, wiederholte er. »Dies ist ein Notruf. Wir brauchen dringend Hilfe. Bitte melden Sie sich.«

Laute Störgeräusche drangen aus dem Funkgerät. Er versuchte es noch einmal. Doch wieder erhielt er keine Antwort.

»Wahrscheinlich liegt’s am Wetter«, sagte Emma. »Versuch’s mal auf einer anderen Frequenz.«

Jonathan schaltete auf eine andere Frequenz.

Vor Jahren hatte er in dieser Gegend als Bergtrainer und bei der Skiwacht gearbeitet und sämtliche Frequenzen der umliegenden Rettungsstationen in seinem Funkgerät gespeichert - Davos, Arosa und Lenzerheide. Wie auch die Kanäle der Kantonspolizei, des Schweizer Alpine Clubs und der von Rega, der Hubschrauber-Rettungsstation, die von Skifahrern und Bergsteigern gemeinhin als »der Fleischtransport« bezeichnet wurde.

»Arosa Rettungsstation. Eine Skifahrerin liegt verletzt am Südhang des Furka. Wir brauchen sofort Hilfe.«

Wieder keine Antwort.

Er sah sich das Funkgerät genauer an. Das Lämpchen für die Stromzufuhr flackerte schwach. Er schlug das verdammte Ding gegen sein Bein. Das Lämpchen flackerte erneut, dann erlosch es. »Es ist tot.«

»Tot? Das Funkgerät? Wie kann das sein? Ich hab doch gesehen, wie du’s gestern Abend überprüft hast.«

»Ja, und da funktionierte es auch noch einwandfrei.« Jonathan schaltete das Gerät mehrmals ein und aus, doch nichts tat sich.

»Liegt’s vielleicht an den Batterien?«

»Kann ich mir nicht vorstellen. Hab gestern extra einen neuen Satz eingelegt.« Er zog die Fäustlinge aus und öffnete das Gerät. »Die Batterien sind’s nicht. Es liegt an der Verkabelung. Die Stromzufuhr ist nicht mit dem Sender verbunden.«

»Dann repariere es.«

»Das kann ich nicht. Nicht hier jedenfalls. Ich weiß nicht mal, ob ich’s könnte, wenn ich das nötige Werkzeug dafür hätte.« Er warf das Funkgerät in seinen Rucksack.

»Und was ist mit dem Handy?«, wollte Emma wissen.

»Was soll damit sein? Hier oben kriegt man doch nirgendwo Empfang.«

»Versuch’s wenigstens«, forderte sie ihn auf.

Das Display von Jonathans Handy zeigte einen Sendemast, der mit einer dicken schwarzen Linie durchgestrichen war. Er wählte trotzdem die Nummer der Station Rega, erhielt aber wie erwartet keine Verbindung. »Nichts. Wir stecken mitten im Funkloch.«

Emma starrte ihn an, und er konnte sehen, dass sie angestrengt versuchte, die Informationen zu verarbeiten. »Aber wir müssen mit irgendjemandem Kontakt aufnehmen.«

»Es gibt niemanden, mit dem wir Kontakt aufnehmen können.«

»Versuch’s noch mal mit dem Funkgerät.«

»Wozu soll das gut sein? Ich habe dir doch gesagt, dass es nicht funktioniert.«

»Tu’s einfach!«

Jonathan kniete sich neben sie. »Hör mal, wir schaffen das schon«, sagte er so ruhig wie möglich. »Ich werde runterfahren und Hilfe holen. Solange du dein Lawinenfunkgerät bei dir hast, werde ich dich problemlos wiederfinden.«

»Du kannst mich hier doch nicht alleine zurücklassen! Du findest niemals den Weg zu mir zurück, nicht mal mit dem Ortungsgerät. Die Sicht beträgt unter sechs Metern. Ich werde erfrieren. Wir können nicht … Ich kann nicht …« Ihre Worte erstarben. Sie ließ den Kopf auf den Schnee sinken und wandte ihr Gesicht ab, damit er nicht sah, dass sie weinte. »Weißt du, ich hatte es fast geschafft … Die letzte Kurve … Hab nur den Bruchteil einer Sekunde zu spät reagiert …«

»Hör mir zu. Dir wird nichts passieren.«

Emma blickte zu ihm hoch. »Wirklich nicht?«

Jonathan wischte ihr die Tränen von den Wangen. »Ich verspreche es dir«, sagte er.

Er griff erneut in seinen Rucksack, nahm die Thermosflasche heraus und goss seiner Frau eine Tasse heißen Tee ein. Während sie trank, holte er ihre Skier und legte sie kreuzförmig hinter ihr in den Schnee, sodass er sie aus einiger Entfernung gut erkennen konnte. Dann zog er seine Bergwachtjacke aus und legte sie ihr über die Brust. Anschließend setzte er seine Mütze ab und zog sie über Emmas Mütze bis in ihren Nacken hinunter. Schließlich holte er noch die Erste-Hilfe-Decke aus seinem Rucksack und wickelte sie ihr vorsichtig um Brust und Rücken. Auf der Decke prangte in orangefarbenen Neonlettern das Wort »HILFE«. Die Buchstaben waren im Falle einer Rettungsaktion von einem Hubschrauber aus gut zu erkennen. Doch an diesem Tag würde kein Hubschrauber dieses Gebiet überfliegen.

»Gieß dir etwa alle fünfzehn Minuten eine neue Tasse Tee ein«, sagte er und nahm ihre Hand. »Achte darauf, dass du etwas isst, und schlaf auf keinen Fall ein.«

Emma nickte und umklammerte seine Hand wie ein Schraubstock.

»Denk an den Tee«, ermahnte er sie wieder. »Alle fünfzehn -«

»Halt die Klappe und mach, dass du wegkommst«, sagte sie. Sie drückte seine Hand ein letztes Mal, dann ließ sie ihn los. »Hau schon ab, bevor du mich zu Tode ängstigst.«

»Ich komme, so schnell ich kann, zurück.«

Unverwandt sah Emma ihn an. »Und Jonathan … schau nicht so, als ob du dir selbst nicht traust. Du hast noch nie ein Versprechen gebrochen.«

Reich, Christopher
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