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Von Daeniken fuhr mit hundertachtzig Stundenkilometern konstant auf der Überholspur. Die Autobahn schnitt eine Schneise durch üppige Weinberge an den Berghängen des Genfer Sees. Durch die Windschutzscheibe konnte er das tiefblaue Gewässer sehen. Dahinter erhoben sich umhüllt von Wolken die schneebedeckten Gipfel des französischen Departments Haute-Savoie.

Als er die Gemeinde Nyon erreichte, klingelte sein Handy. Er drückte auf den Empfangsknopf am Steuerrad.

»Rohde, Büro der ärztlichen Leichenbeschauer in Zürich.«

»Ja, Doktor …« Von Daeniken fiel wieder ein, dass er Rohdes Anruf gestern Nacht gelöscht hatte.

»Es geht um die Autopsie von Lammers. Wir sind da auf etwas Ungewöhnliches gestoßen.« Rohde beschrieb den Fund der mit Batrachotoxin oder Froschgift überzogenen Patronen. »Mein Kollege, Dr. Wickes, von Scotland Yard ist davon überzeugt, dass derjenige, der Theo Lammers getötet hat, irgendwann mit der CIA zusammengearbeitet haben muss.«

Von Daeniken sagte kein Wort. Die CIA. Das ergab Sinn. Als er entdeckt hatte, dass Blitz kein Deutscher, sondern Iraner und zudem noch ehemaliger Militäroffizier gewesen war, hatte er bereits vermutet, dass die Morde auf das Konto eines Geheimdienstes gingen. Er dachte an Philip Palumbo. Entweder war der Amerikaner nicht in die Operation eingeweiht, oder er hatte ihm die Information wohlweislich verschwiegen.

Von Daeniken bedankte sich und beendete das Gespräch. Die Autobahn verengte sich, und er fuhr in die Stadt hinein. Die Straße führte bergab und am See entlang. Links von ihm erstreckte sich ein großer Park mit schneebedeckten Wiesen, die bis an die Ufer des Sees heranreichten. Er fuhr an einer Reihe stattlicher Gebäudekomplexe vorbei, die auf dem Parkgelände standen. Die Vereinten Nationen. Die Welthandelsorganisation GATT. Die Weltgesundheitsorganisation WHO.

Die Adresse, zu der er fuhr, befand sich in einem weniger imposanten Stadtteil. Er parkte seinen Wagen auf der Rue de Lausanne vor einem Chinarestaurant und einem türkischen Schneider. Es war fünf nach zwölf. Er war spät dran. Die Person, mit der er sich verabredet hatte, würde noch ein paar Minuten länger warten müssen.

Er durchsuchte sein Handy-Telefonbuch unter dem Buchstaben »P«. Ein leises Summen drang an sein Ohr, als die Verbindung mit seinem Gesprächspartner an irgendeinem Ort auf der Welt, den nur Gott selbst kannte, hergestellt wurde.

»Hallo, Marcus«, antwortete eine harte amerikanische Stimme.

Von Daeniken hütete sich zu fragen, wo sich Philip Palumbo gerade aufhielt. »Ich fürchte, diese Unterhaltung fällt nicht in den Bereich unserer bisherigen Geschäftsbeziehung.«

»Geht’s um die Sache, über die wir gestern gesprochen haben?«

»Ja. Ich muss wissen, ob es noch weitere Informationen über Quitab - den Mann, den wir als Gottfried Blitz kennen - gibt, die Sie mir vorenthalten haben.«

»Ich hab Ihnen alles gesagt, was ich weiß, mein Freund. Hab seinen Namen vor zwei Tagen aus Gassans Mund zum ersten Mal gehört.«

»Gilt das auch für den geplanten Anschlag? Keine früheren Hinweise auf eine Terrorgruppe in der Schweiz, die einen Anschlag plant? Nichts über Gassans Verbindungsleute? Zum Beispiel über einen Mann mit Namen Lammers?«

»Sie machen mich ganz nervös, Marcus. Was genau wollen Sie eigentlich von mir?«

»Ich muss wissen, ob Ihre Leute in meinem Land aktiv sind.«

»Was für Leute?«

»Ich weiß nicht, wie Sie sie bezeichnen würden. Leute für die Drecksarbeit. Für Liquidierungen. Für Sanktionen.«

»Das ist eine hochbrisante Frage.«

»Allerdings, und ich glaube, dass Sie mir eine Antwort schulden.«

»Ich würde sagen, ich habe meine Pflicht und Schuldigkeit gestern erfüllt.«

»Gestern war strikt nach Protokoll. Es muss ebenso sehr in Ihrem Interesse liegen, Gassan und seine Helfershelfer zu stoppen, wie in unserem. Sie könnten es genauso auch als Ihren Erfolg verbuchen.«

»Mag sein«, gab Palumbo zu. »Wie auch immer, ich brauche von Ihnen schon ein paar mehr Anhaltspunkte, mit denen ich arbeiten kann.«

Von Daeniken stieß einen Seufzer aus und überlegte, wie viele Informationen er an Palumbo weitergeben sollte. Tatsächlich blieb ihm kaum eine Wahl. So war das eben, wenn man sich mit einer Supermacht verbündete. Oder heutzutage wohl eher mit der Supermacht schlechthin. Er konnte von Palumbo keinen Vertrauensbeweis verlangen, wenn er nicht bereit war, selbst einen zu erbringen.

»Wir waren Blitz auch schon auf die Schliche gekommen, sind aber einer anderen Fährte gefolgt. Dieser Mann, nach dem ich Sie eben gefragt habe, Theo Lammers, war einer seiner Komplizen. Die beiden haben sich zum letzten Mal vor vier Tagen getroffen. Wir nehmen an, dass Lammers eine hochmoderne Drohne für Blitz entwickelt hat, die mit einer Geschwindigkeit von fünfhundert Stundenkilometern fliegen und zwanzig Kilo Plastiksprengstoff in einer Spezialvorrichtung transportieren kann. Lammers wurde in der Nacht nach diesem Treffen umgebracht. Es war die Tat eines Profikillers. Wir nehmen an, dass es sich um denselben Mann handelt, der Blitz getötet hat. Den Beweisen nach zu urteilen, war der Todesschütze einer Ihrer Leute.«

»Was für Beweise?«

Von Daeniken erzählte ihm von den mit Froschgift überzogenen Patronen und der Verbindung zwischen dieser eigenwilligen Praxis und den Indios, die bei den von der CIA ausgebildeten Todesschwadronen in El Salvador dabei gewesen waren.

»Das hört sich für meinen Geschmack ziemlich weit hergeholt an«, antwortete Palumbo. »Abergläubische Indios, Todesschwadronen, Gift … Sie reden von etwas, das dreißig Jahre zurückliegt. Das ist doch alles längst Geschichte.«

»Ich denke, Sie glauben ebenso wenig an Zufälle wie ich.«

»Da liegen Sie allerdings völlig richtig«, sagte Palumbo, aber er kam von Daeniken nicht weiter entgegen.

»Phil, ich frage Sie jetzt geradeheraus: Bezieht dieser Typ sein Gehalt von der CIA, oder arbeitet er freiberuflich auf Anweisung für eine unbekannte dritte Seite?«

»Das kann ich Ihnen wirklich nicht beantworten. Sie sprechen über etwas, das auf keinem Operationsplan zu finden ist. Für solche Dinge ist die Chefetage zuständig. Das liegt weit über meiner Gehaltsstufe. Ich glaube nicht, dass der Vizeboss besonders erfreut ist, wenn ich meine Nase in Angelegenheiten stecke, die mich nichts angehen.«

»Das ist mir vollkommen klar«, sagte von Daeniken. »Aber irgendjemand bezahlt diesen Killer. Irgendjemand schickt ihn zu den richtigen Männern. Ich hab den Eindruck, dass dieser Jemand besser Bescheid weiß über das, was hier vor sich geht, als Sie oder ich. Ich zumindest finde das ziemlich besorgniserregend. Ich dachte, dass Sie sich mal etwas umhören könnten. Vielleicht … inoffiziell.«

»Inoffiziell?«

»Was immer Sie herausfinden können …«

»Froschgift, richtig? Danach sind wir quitt?«

»Vollkommen quitt«, versicherte von Daeniken mit jener Nachdrücklichkeit, die die Amerikaner für absolute Ehrlichkeit hielten.

Palumbo ließ sich das eine Weile durch den Kopf gehen und überließ es von Daeniken, derweil dem Knistern in der Leitung zu lauschen, das für kabellose Telefone so typisch war. »Also gut«, sagte er schließlich.

»Also gut was

»Ich melde mich wieder bei Ihnen«, sagte Palumbo.

Dann war die Verbindung unterbrochen.

Reich, Christopher
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