III.
Von Dante zu Boccaccio
1.
Dante im sechsten Kreis der Hölle. Bei Epikureern
Ich habe bislang fast nur von Dante gesprochen; die zeitgenössischen italienischen Autoren treten ihm gegenüber an die zweite Stelle. Aber Dante kam nicht aus dem Nichts; er hatte Lehrer und Freunde, auch Gegner. Für andere war er der Anfang; Spätere knüpften an ihn an und entfernten sich gleichzeitig von ihm. Die Zeit zwischen 1250 und 1350 lief schnell. Die soziale und politische Geschichte habe ich umrissen; die künstlerischen Umwälzungen waren nicht minder heftig. Um von der intellektuellen Dramatik der florentinischen Entwicklung einen leicht belegbaren Eindruck zu geben, vergleiche ich Dantes Inferno 10 mit Boccaccios Decameron 6, 9. Die Texte liegen gut vierzig Jahre auseinander. Sie zeigen, wie die Welt sich verändert hat.
Mit canto 10 des Inferno betreten wir den sechsten Kreis der Hölle. Wir sehen Epikureer in glühenden Steinsärgen. Dante und sein Führer Vergil befinden sich in einer abseits gelegenen Gasse zwischen Stadtmauer und Gräbern. Vergil erklärt, worin der Irrtum der Epikureer besteht (15): Diese Leute lassen die Seele mit dem Körper sterben. Sie glauben nicht an die Unsterblichkeit, nicht an Strafe oder Glück im Jenseits. Dante und Vergil gehen und staunen. Plötzlich dringt ein Zuruf aus einem der Sarkophage. Einer der Verdammten hat Dantes florentinischen Dialekt erkannt und sich stramm aufgerichtet in dem glühenden Steinsarg. Vergil erklärt: Es ist der Parteiführer Farinata.
Unsere Blicke hatten sich schon fest gekreuzt. Er richtete sich auf mit Brust und Stirn, als habe er für die Hölle nichts als Verachtung.
Sie sprechen über Politik; die Familie Dantes gehört zu den Gegnern Farinatas.
Da erhob sich daneben in der aufgedeckten Öffnung ein Schatten bis zum Kinn; ich glaube, er hatte sich auf Knien aufgerichtet. Er blickte um mich herum, als wolle er sehen, ob ein anderer bei mir wäre.
Er sucht nach seinem Sohn, nach Guido Cavalcanti, dem ersten Freund Dantes, dem Dichter und Philosophen. Er sieht, daß er nicht mit Dante gekommen ist; er fürchtet, Guido sei tot, und sinkt resigniert zusammen. Farinata hört das, verzieht aber keine Miene. Die Stadtpolitik von Florenz ist ihm wichtiger als der Vaterschmerz seines Nachbarn und als die eigenen Qualen im glühenden Steinsarg. Es folgen erneut Unterhaltungen über die blutigen Parteikämpfe in Florenz und über die Rolle des Farinata dabei. Die Unterhaltung endet, indem Farinata dem Höllenbesucher die Zukunft enthüllt: Er sagt Dantes Exil voraus.[813]
Dante und Vergil befinden sich, wie gesagt, im sechsten Kreis, dem der Ketzer. Der Aufbau des canto 10 ist übersichtlich: Am Anfang und am Schluß stehen intime Unterhaltungen der beiden Dichter. Sie schließen drei aufregende Szenen ein. Genaugenommen ist es eine einzige Szene, die der Farinata-Begegnung, die Cavalcante unterbricht und dadurch in zwei Teile zerlegt. Im einzelnen:
Vers 1–21: Dante ist allein mit Vergil, er erbittet Erklärungen zum Gräberfeld nahe der Mauer. Vergil orientiert: Wir sind bei den Anhängern Epikurs.
Vers 22–51: Farinata hört Dante sprechen und erkennt den florentinischen Dialekt. Er beginnt in perfekter Rhetorik mit der captatio benevolentiae, um Dante zum Stehenbleiben zu veranlassen. Er verachtet, er ignoriert die Höllenstrafe. Viel schlimmer ist für ihn die politische Lage in Florenz. Er fragt zuerst nach Dantes Ahnen. Er fragt nicht nach einzelnen Personen, sondern nach der Familie, und weiß: Das waren alte Feinde. Er zieht die Braue hoch, quasi sdegnoso. Ihn interessieren die Kämpfe in Florenz. Er hat keinen Blick für seinen zusammenbrechenden Nachbarn. Dieser existiert für ihn nicht.
Vers 52–72: Cavalcante kniet sich auf, erscheint nicht wie Farinata in voller Gestalt. Auch seine Art zu reden steht im Kontrast zu Farinata. Er nimmt an, Dante sei wegen seiner Intelligenz, per altezza d’ingegno, als Höllenbesucher zugelassen. Er meint, dann müsse auch sein Sohn Guido dieses Privileg teilen. Er mißversteht Dante, hält ihn für tot und sinkt zurück in den glühenden Steinsarg.
Der Ghibellinenführer Farinata degli Uberti war der Führer der kaiserfreundlichen Partei von 1239 bis zu seinem Tod 1264. 1258 wurde er durch die Guelfen vertrieben, schlug diese aber bei Montaperti an der Arbia und kehrte nach Florenz zurück. Er vertrieb die Guelfen zweimal, 1248 und 1260, aber wie Dante schnippisch bemerkt, konnten die zurückkehren, während die Anhänger des Farinata diese Kunst nicht so beherrschten.
Farinata fährt ungerührt in seiner Rede fort, als sei nichts geschehen. Er sagt Dante voraus, er werde in 50 Monaten, also nach vier Jahren und zwei Monaten, nämlich im Juni 1304, selbst erfahren, wie schwer es ist, in die Heimatstadt zurückzukommen. 1304 trennte Dante sich von den Weißen. Hier erfährt Dante zum ersten Mal, was ihm bevorsteht. Er versteht die drohenden Worte nicht. Vergil erklärt sie ihm nicht, sondern verweist auf Beatrice, die sie ihm erklären werde. Andere düstere Prognosen werden folgen.
Dante grübelt: Wieso hatte Cavalcante nicht gewußt, daß sein Sohn lebt. Farinata erklärt das: Die Verdammten haben Kenntnis des Zukünftigen, nicht des Gegenwärtigen. Die Kommentare verweisen auf Thomas von Aquino (Sth 1, 89, 8). Aber der sagt nur, daß arme Seelen natürlicherweise keine Kenntnis von irdischen Dingen haben. Während Dante von Zeitstufen redet: Die Zukunft kennen sie, die Gegenwart nicht.
Dante fragt nach anderen Epikureern: Farinata liegt hier mit Tausenden anderen, mit Friedrich II. und dem Kardinal Ottaviano degli Ubaldini. Farinata erwähnt nur zwei Namen der Großen. Er hält sich an die aristokratische Perspektive und nennt nur einen Kaiser und einen Kardinal.
In Florenz gibt es Epikureer in Massen. Das Wort ›Epikureer‹ war abgelöst von den Texten Epikurs, die nicht bekannt waren. Der Name bedeutete vornehmlich: Anhänger einer hedonistischen, rein irdischen Ethik. Epikurs Texte wurden erst im 15. Jahrhundert bei Diogenes Laertius, Buch 10, wiederentdeckt, den der fromme Ambrogio Traversari übersetzte. Das Wort ›Epikureer‹ war bis dahin meist eine Art Schimpfwort, hier – wie bei Salimbene von Parma – auch auf Kaiser Friedrich II. angewandt. Noch Luther nennt Erasmus ein Schwein aus der Herde Epikurs.[814]
Einige bessere Informationen über Epikur hatte man im 13. Jahrhundert schon durch Cicero. Thomas von Aquino bewertete Epikurs Philosophie als ein zwar grundfalsches, aber diskussionswürdiges ethisches System.
Es ist der canto des Farinata. Ihre Unterhaltung – zuerst über Florenz, über seine persönliche Rolle in den blutigen Parteikämpfen, dann über das Wissen der Verdammten – wird durch Cavalcante unterbrochen. Vergil hat Dante beigebracht, nicht zu viel zu reden (20). Nur die glühenden Steinsärge erinnern an den Höllenort, wo Luna=Diana=Prosperpina herrscht (Vers 80 nach Aen. 7, 118). Daß sie Schmerzen verursachen, wird nicht gesagt. Farinata und Cavalcante haben andere Sorgen.
Dante geht es um das Charakterbild des politischen Gegners Farinata, auch um Ehrenrettung: Farinata besiegte Florenz, wandte sich aber gegen die Parteifreunde, die es zerstören wollten. Florenz ist ihm wichtiger als seine unkomfortable Situation. Er ist kein Genießer, aber hochnäsig, adelsstolz und immer noch Parteimann. Als verachte er das ganze Inferno (36). Die Qualen haben ihn nicht gebrochen. Er zeigt Resistenz gegen das göttliche Strafsystem. Der freie Wille bleibt intakt; er ignoriert das Strafsystem Gottes.
Die Beschreibung des Farinata erfolgt auch mit philosophischen Begriffen. Die Commedia ist auch Lehrgedicht. Farinata heißt großgesinnt, magnanimo (73). Megalopsychia, dieser aristotelische Wert aus der Nikomachischen Ethik (4, 7–9), steht im Kontrast zur antiken wie zur christlichen Demut, humilitas. Sie hat das Große im Sinn und weiß sich ihm gewachsen. Dante zeigt sich unbesorgt, ihn christlich zu integrieren. Farinata denkt nur große Dinge; er setzt sich Gefahren aus; er kennt keinen kleinlichen, nachträglichen Hass.
Dante hatte, wie nach ihm Boccaccio, gründliche Kenntnis der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Dieses Buch war konzipiert als Teil der politischen Wissenschaft. Die Ethik des Aristoteles ist Ethik und Politik. Alles ethisch-politische Verhalten erstrebt Eudaimonie. Glück kann uns nicht von außen kommen, es wird uns nicht wie ein Mantel umgeworfen, sagte Aristoteles. Philosophie ist Bewußtsein von dieser Innensteuerung.
Dante stellt dem Vater seines Freundes Guido Vergil vor und sagt dabei über seinen Freund Guido, dieser habe vielleicht Vergil nicht zu schätzen gewußt (Inf. 10, 62): forse cui Guido vostro ebbe a disdegno.
Dante setzt sich damit ab vom Jugendfreund: Er schätzt Vergil. Anders als Guido. Dantes Bemerkung über Vergil hat mehrere Nuancen; er sagt der Sache nach:
Ich bin politischer Dichter wie Vergil; ich mache nicht nur Liebeslyrik, wie wir sie früher gemeinsam betrieben haben. Ich kümmere mich wie Vergil um das Imperium. Ich mache das große Liebesgedicht für Beatrice. Dies schließt Politik mit ein.
Zweitens: Ich glaube zwar nicht, daß Vergil die Geburt Jesu vorausgesagt habe, obwohl Christen das seit dem vierten Jahrhundert behaupten.[815] Aber Vergil glaubte an das jenseitige Schicksal der Seelen. Ich als christlicher Dichter folge ihm als Dichter der Seelenreise. Ich bin kein Epikureer. – Heute kann man hinzufügen: Obwohl der historische Vergil das gerade war.[816]
Drittens: Dante verehrt Vergil als seinen Vater und Führer, aber er folgt ihm nicht kritiklos. Er legt die Aeneis korrigierend aus, wenn Vergil in der Aeneis 10, 198–203 den Sinn von Bittgebeten bestreitet (Purg. 6, 41–42). Er deutet Distanz an, wenn er nacherzählt, wie Anchises den Aeneas im Jenseits begrüßt, indem er hinzufügt (Par. 15, 26):
Wenn unser größter Dichter Glauben verdient.
2.
Offene Fragen
Es bleiben ungelöste Fragen; ich nenne drei: Erstens, die Leichen der Ketzer liegen unten im Grab, aber hier haben sie ihr Aussehen, ihren Scheinleib; hier leiden und sprechen sie. Das stellt das Problem: Was ist ein Schatten? Vergil ist ein Schatten. Aber er kann Dantes Körper tragen. Wie ist das möglich?
Ungelöst ist zweitens die Frage: Was wird das Jüngste Gericht verändern, von dem es heißt, es werde im Tal Josaphat stattfinden? Die Seelen sind durch Minos schon gerichtet. Sie werden ihren Leib zurückbekommen, und der Deckel wird geschlossen. Da es keine Zukunft geben wird, erlischt ihre Erkenntnis. Mehr geschieht nicht. Wir erfahren aber: Die Zeit wird mit dem Jüngsten Tag enden. Es gab vor Dante wie bei Dante keine christliche Aufwertung der Zeit, außer für die Bewährung auf Erden und die Selbstreinigung im Purgatorio.
Drittens: Wie verhält Vergil sich zu Beatrice? Er verweist auf Beatrice, sie werde Dantes Zweifel wegen der dunklen Zukunftsaussagen klären (127–131). Das wird sie übrigens nicht tun; Cacciaguida wird das in Paradiso 17 erledigen. Jedenfalls anerkennt Vergil Beatrice als die höhere Autorität. Aber in welchem Sinn genau?
Antonio Stäuble deutet Vergils Hinweis als die Aussage: Die Vernunft führe zum Glauben. La Ragione guida alla Fede. Stäuble entnimmt daraus die Gesamtdeutung der Commedia und erklärt, sie sei die Gesamtbewegung weg von der Vernunft hin zum Glauben. Diese Bewegung inspiriere Dantes Himmelsreise.[817] Diese Deutungsart ist pseudo-theologisch, wird aber heute wieder öfter vertreten. Man muß sie genau ansehen, die Texte der großen Theologen des 13. Jahrhunderts danebenhalten und mit dem Text Dantes vergleichen. Ihr entstehen eine Reihe von Schwierigkeiten:
Die allegorisierende Identifizierung Vergils mit der Vernunft geht zu weit. Der antike Dichter führt Dante bis zum irdischen Paradies, das ebenso ein Glaubensinhalt ist wie das himmlische Paradies. Der historische Vergil wußte nichts vom Purgatorio. Vor allem: Keineswegs ist Beatrice der Glaube oder steht sie für den Glauben.
Es war einfache christliche Lehre seit Paulus: Glaube und Hoffnung hören im Himmel auf. Vergil führt zu Beatrice, und diese glaubt nicht mehr, sondern sieht. Dieses Sehen stillt die Sehnsucht der Vernunft. Die Vernunft wird nicht zurückgelassen wie Glaube und Hoffnung. Diese sind auf das irdische Leben beschränkt. Die Vernunft erreicht mit der Gottesschau ihr Ziel. Steht Beatrice für irgend etwas anderes? Sie ist eine Frau, deren Schönheit Dante erneut überwältigt. Sie kennt sein irdisches Leben genau. Sie ist keine Abstraktion; sie zeigt Freude und Zorn. Die Farbe ihrer Kleidung ist Dante wichtig. Es muß nicht alles gleich symbolisch sein. Dante liebt Beatrice wie ein Mann eine Frau liebt. Aber wenn sie schon für etwas anderes steht, dann für die selige Anschauung Gottes, nicht für den Glauben und nicht für die Theologie, denn die sind ans irdische Leben gebunden.
Dante fehlt am Anfang seiner Reise auch nicht der Glaube. Er ist Sünder, aber gläubig. Er wird nicht zum Glauben, sondern zur Seligkeit geführt, zur natürlichen durch Vergil, zur himmlischen durch Beatrice und Bernhard. Der Apostel Petrus persönlich wird ihm versichern, daß er im rechten Glauben ist. Also kann dies nicht das Ziel der Jenseitsreise sein. Antonio Stäuble irrt. Sein Irrtum ist widerlegbar; er liegt nur in einem gegenwärtigen Trend. Diese Überbetonung des Glaubens nenne ich: Fideismus. Das ist Ideologie, keineswegs thomistische Theologie. Es steht sogar zu dieser im Widerspruch. So etwas muß man abstreifen, um zum Text zu kommen.
Dann kann der Leser wieder auf Feinheiten achten. Er kann Dantes Sprache auffassen, die feinen Zwischentöne zwischen Vergil und Dante. Vergil weiß, was Dante denkt. Aber Dantes dauerndes Fragen geht ihm auch auf die Nerven. Er hat Dante zu verstehen gegeben, er solle nicht zuviel reden. Er ist fast immer freundlich, freundschaftlich, aufmunternd und stärkend. Er ist die sympathischste Person in der ganzen Commedia. Doch man beachte Tonhöhen. Vergil redet in den verschiedensten Stilarten: Manchmal diplomatisch verklausuliert, dann wieder philosophisch klar, aber manchmal auch populär. Hier schnauzt er Dante an. Der wollte doch Farinata sehen, wie er schon Inferno 6, 79–81 erklärt, jetzt sieht er ihn und weicht zurück: Vergil ruft ihm zu (10, 31):
Volgiti! Che fai?
Dreh dich um! Was machst du?
Dagegen spricht Farinata, dessen Stimme Dante hört, bevor er ihn sieht, als geschulter Diplomat, ganz Herr der Situation. Er ist hochgesinnt, magnanimo, redet gravitätisch, mit tiefer Stimme. Mit dunklem o einsetzend bittet er Dante, stehenzubleiben: O Tosco. Das o bestimmt dreifach den Reim der Terzine (22–24):
O Tosco che per la città del foco
vivo t’en vai così parlando onesto,
piacciati di ristar in questo loco.
O Toskaner, du gehst lebend durch die Feuerstadt
und sprichst so würdig,
möchtest du so gut sein, hier an dieser Stelle stehenzubleiben.
Das ist Politik, Diplomatie; er weiß nicht, wen er vor sich hat, aber der Mann kommt aus Florenz. Das ist nicht der barsche Ton, den Vergil zuweilen anschlägt. Die drei Verse sind Großgesinntheit, diplomatische Höflichkeit und korrespondierende Lautmalerei. Sie sind Kunst.
3.
Häretiker in Florenz vierzig Jahre später: ›Decameron 6, 9‹
Dantes Kunst ist nicht zeitlos. Sie kommt aus zeitlichen Voraussetzungen und bezieht sich ausdrücklich auf ihre Zeit. Der Zeitbezug ist ihr nicht nur äußerlich, sondern betrifft die leitenden Ideen. Welt- und Religionsauffassungen wandelten sich zwischen 1250 und 1350; Dante steht mitten in diesem Wandel; er greift ihn auf und betreibt ihn. Um dies nicht nur zu vermuten, sondern zu beweisen, gehe ich einige Jahrzehnte weiter; etwa von 1305 nach 1350 von Dante zu Boccaccio. Ich möchte an einem Beispiel zeigen, wie man fünfzig Jahre später in Florenz von epikureischen Ketzern sprach. Das Thema ist fast das gleiche wie in Dantes Inf. 10: Es geht um Guido, um Dantes Freund, den Epikureer und Sohn des Epikureers Cavalcante von Inferno 10. Boccaccios Novelle, Decameron 6, 9, spielt ebenfalls an der Stadtmauer, unter Gräbern. Die Königin, von den zehn jungen Leuten für diesen einen Tag gewählt, beginnt ihre Erzählung:
4 Zuvor müßt ihr wissen, daß in vergangenen Zeiten Florenz sich auszeichnete durch schöne und anerkennenswerte Lebensformen. Nichts ist von ihnen heute übriggeblieben. Die Geldgier, die mit dem Reichtum unserer Stadt ständig wuchs, hat sie alle verjagt.
5 Damals war es Sitte, daß sich die jungen Adligen der einzelnen Stadtviertel trafen und kleine Gruppen von beschränkter Mitgliederzahl bildeten. Sie achteten darauf, nur solche Leute aufzunehmen, welche die Unkosten leicht tragen konnten, und abwechselnd lud jeder einmal alle zu sich nach Hause ein. Heute bot der eine, morgen der nächste für alle offenen Tisch, und so kamen alle an die Reihe, jeder an seinem Tag. Oft luden sie zu ihren Zusammenkünften vornehme auswärtige Gäste ein, wenn sie in die Stadt kamen, aber auch andere Bürger.
6 Mindestens einmal im Jahr trugen alle die gleiche Kleidung, und an den wichtigen Festtagen ritten sie gemeinsam durch die Stadt. Zuweilen veranstalteten sie Turniere, besonders an den Hauptfesten oder wenn irgendeine gute Nachricht von einem Sieg oder ähnlichem in die Stadt gekommen war.
7 Unter diesen Gruppen war nun auch die des Herrn Betto Brunelleschi. Dieser Herr Betto und seine Gefährten hatten sich sehr bemüht, auch Guido, den Sohn des Herrn Cavalcante de’ Cavalcanti, für die Gruppe zu gewinnen.
8 Dafür hatten sie gute Gründe: Nicht nur war er einer der besten Logiker, welche die Welt damals besaß, und ein hervorragender Naturphilosoph – das kümmerte die Gruppe freilich weniger –, sondern er war ein Mann von großer Heiterkeit, eleganten Sitten und hervorragender Beredsamkeit. Alles, was er wollte und was zu einem Adligen paßt, verstand er besser auszuführen als jeder andere. Darüber hinaus war er sehr reich und konnte mit überschwenglicher Gastfreundschaft alle ehren, von denen er annahm, daß sie es wert waren.
9 Jedoch war es Herrn Betto nie gelungen, ihn zu gewinnen, und er und seine Gefährten glaubten, das komme daher: Seine philosophischen Untersuchungen hätten ihn zu sehr von den Menschen entfernt. Weil er zuweilen Ansichten der Epikureer vertrat, sagte das gewöhnliche Volk ihm nach, mit seinen Untersuchungen verfolge er einzig den Zweck, zu beweisen, daß es keinen Gott gebe.
10 Nun war Guido eines Tages vom Or San Michele über den Corso degli Adimari zum Baptisterium San Giovanni gegangen, einen Weg, den er oft nahm. Damals standen dort noch die großen Marmorsärge, von denen heute einige im Dom Santa Reparata und viel andere rings um San Giovanni stehen, Guido ging gerade dort entlang – zwischen diesen Steinsärgen, den Porphyrsäulen, die dort stehen, und dem Stadttor von San Giovanni, das geschlossen war –, als Herr Betto und seine Gruppe über den Platz von Santa Reparata geritten kamen. Als sie Guido zwischen den Gräbern sahen, riefen sie: »Los! Diesmal geben wir’s ihm!«
11 Sie gaben ihren Pferden die Sporen und preschten wie in einer scherzhaften Attacke gegen ihn heran. Bevor er sich versah, hatten sie ihn umringt und riefen ihm zu: »Guido, du weigerst dich, zu unserer Gruppe zu kommen. Aber sieh mal, wenn du bewiesen hättest, daß Gott nicht existiert, was hättest du davon?«
12 Guido, der sich von ihnen umzingelt sah, rief sofort zurück: »Herren, hier seid ihr zu Hause. Hier könnt ihr mich beschimpfen, wie ihr wollt!«, und noch während er dies sagte, stützte er eine Hand auf einen dieser hohen Sarkophage und sprang, behende wie er war, mit einem Satz auf die andere Seite. Befreit von der Umzingelung, ging er davon.
13 Sie blieben verblüfft stehen und schauten einander an. Dann begannen sie, über ihn zu reden und zu behaupten, er sei dämlich, denn was er ihnen geantwortet habe, habe gar keinen Sinn; der Platz, auf dem sie stünden, gehöre schließlich ihnen so wenig wie allen anderen Bürgern und Guido habe mit ihm nicht weniger zu tun als sie.
14 Aber Messer Betto wandte sich ihnen zu und sagte: »Die Dämlichen, das seid ihr, denn ihr habt ihn nicht verstanden. Er hat uns elegant und in wenigen Worten die größte Beleidigung der Welt zugerufen. Denn wenn ihr genau zuseht, sind diese Särge die Häuser der Toten, denn dorthin werden die Toten gelegt, und dort halten sie sich auf. Die Gräber, behauptet er, seien unser Haus, um uns zu beweisen, daß wir, die ungebildeten Laien, im Vergleich zu ihm und zu anderen studierten Männern weniger wert sind als Tote. Insofern sind wir hier auf dem Gräberfeld bei uns zu Hause.«
15 Jetzt verstanden alle, was Guido hatte sagen wollen. Sie schämten sich und belästigten ihn nie mehr. Und Herrn Betto hielten sie von da an für einen scharfsinnigen, einen denkenden Mann.
4.
Nach 40 Jahren. Ähnlichkeit im Kontrast
Boccaccios Novelle 6, 9 bezieht sich zurück auf Dante, Inferno 10. Wir sind wie dort bei Epikureern, es geht wie dort um Guido Cavalcanti. Wir stehen auch hier zwischen Stadtmauer und Gräbern. Steinsarkophage wie dort, aber jetzt an der Porta San Giovanni, genau lokalisiert. Wir sind in der Stadt Florenz, nicht im Inferno. Aber es ist der Bereich der Toten, dem Guido sich entzieht. Er muß springen. Kein Engel kommt, nichts Übernatürliches hilft.
Einige dieser antiken Sarkophage sind heute noch im Vorhof des Dommuseums zu sehen.
Guido distanziert sich von den jungen Edelleuten, springt über einen mannshohen Sarg. Er ist sportlich. Der größte Philosoph ist all-round-Mensch. Eingeführt als Sohn des Cavalcante, den der Dante-Leser aus Inferno 10 kennt. Er war als Dichter bekannt; Boccaccio sah ihn als Philosophen.
Zur Charakteristik Guidos sagt Boccaccio: Er ist ein glücklicher Mensch, reich und philosophisch. Boccaccio stellt ihn nicht als Dichter vor, sondern als Denker, als Logiker und Naturphilosoph: grüblerisch, ernst, auffallend. Er ist gentile. Die Novelle zehrt wie der canto Dantes von einem ethischen Konzept, freilich von einem andersgearteten: Sie handelt vom Wert der gentilezza, von edlen Umgangsformen, die ein wirklich Edler nicht verliert, wenn er grob angegangen wird. Er begrüßt die Flegel mit: Signori. Meine Herren!
Die Leute halten ihn für einen Atheisten. Aber nur das vulgäre Volk, la gente volgare (9). Es zeigt sich: Auch die Garde junger Nobler denkt wie das gewöhnliche Volk. Sie betreiben das, was ich »attributiven Atheismus« genannt habe.[818] In Inferno 10 war von Atheismus nicht die Rede; das jenseitige Leben von Menschenseelen wurde bestritten. Die Situation hat sich verschärft. Wer die Seelenunsterblichkeit leugnete, mußte deswegen nicht Atheist sein.
Die jungen Leute fragen ihn: Wenn du bewiesen hättest, daß kein Gott existiert, was hättest du davon? Man muß intellektuelle Schritte bewerten können. Zu was sind sie gut? Boccaccio teilt Dantes Einwände gegen das Übergewicht einer rein theoretischen Einstellung.
Boccaccio verurteilt Florenz so scharf wie Dante: Der Geldsinn hat alles korrumpiert (4). Gute alte Gewohnheiten des Zusammenlebens sind dahin. Nicht ein nachdenklicher Außenseiter wie Guido schadet der Stadt, sondern die allgemeine Geldgier. Dante und Boccaccio teilen das Armutskonzept, das sowohl aus Philosophie wie aus Franziskanertum stammt. Seit dem 12. Jahrhundert waren Reichtum und Armut aktuelle Fragen. Abaelard zitiert in seiner Theologia die Philosophen, die seit Sokrates das arme Leben als das vernünftige gepriesen haben.[819]
Boccaccio gibt die extravaganten Ansichten Cavalcantis kritiklos wieder. Guidos Charakter erleidet bei ihm durch sie keinen Schaden. Keine Andeutung, daß sie aus moralischer Korruption hervorgehen.
Die Novelle ist auf den Ausspruch am Schluß, § 14, hin konstruiert. Auf ihn wird von Anfang an hingewiesen (3): Es heißt, er sei tiefsinniger als alles sonst im Decameron. Die Behauptung ist: Der Geist ist Leben, ist die höchste Form von Leben. Nur das intellektuelle Leben ist Leben. Das steht bei Aristoteles Metaphysik 12, 7, bei Seneca und Siger von Brabant.
Der Vergleich von Inferno 10 mit Decameron 6, 9 macht den Zeitabstand fühlbar und belegt die intellektuelle Entwicklung von 1300 bis 1350:
Bei Boccaccio wird niemand zur Hölle verdammt. Alle sind in Florenz. Florenz ist wie die Hölle: Todeszone, viele Epikureer. Die Gesellschaft differenziert sich aus. Die Muse, die freie Geselligkeit nimmt ab. Gemeinsam mit Dante ist die Florenz-Kritik: Schonungslose Analyse des Verfalls durch Frühkapitalismus, bürgerlichen Erwerbssinn, kaufmännisches Zweckdenken. Weitere Themen der Politik bleiben jetzt draußen. Es besteht keine Hoffnung auf einen das Leben verbessernden Kaiser. Ganz anders als Dante verschwendet Boccaccio keinen Gedanken mehr daran, ein Kaiser könnte kommen und das Leben erneuern.
Boccaccio kritisiert Guido nicht; er zeichnet ihn mit Sympathie. Es ist die Novelle Guidos als einer großen Persönlichkeit und der gentilezza als einem untergegangenen Wert. Boccaccios Guido fehlt nichts, außer vielleicht der Glaube. Eher kritisiert Boccaccio die gottgläubige rohe Reitergruppe, diese Naturburschen ohne Sinn für intellektuelle Diskussion. Er entkommt der drohenden Bedrängnis durch eigene Kraft, sportliche Übung und Entschlossenheit.
Boccaccio sucht hier mehr als Dante die philosophische Substanz. Ihm gegenüber weitet er die Themen aus auf Logik, Naturphilosophie, Epikureismus, Beweis, daß Gott nicht ist, intellektuelles Leben als das eigentliche Leben.
Die verbreitete Ansicht, das Decameron erzähle nur vom sinnlichen Vergnügen, ist falsch. In unserer Novelle und oft im Decameron ist davon nicht die Rede. Es geht wie bei Dante um die geistig-ethisch-politische Situation von Florenz, um Gesellschaftskritik, um Formulierung der anstehenden philosophischen Probleme. Boccaccio ist kein Immoralist; er führt den Immoralismus der Kaufmannsstadt vor Augen; er veranschaulicht in konkreter Moralphilosophie den Wert der gentilezza.
Die dramatische Regie ist ähnlich wie in Inferno 10: Da sind Epikureer, da ist ein Cavalcanti, wir sehen Gräber an der Stadtmauer. Boccaccio bietet etwas mehr an epischer Beschreibung des Verfalls und verzichtet auf den Reim; er arbeitet den Lehrcharakter der Erzählung stärker heraus.
Der Wandel von 1300 bis 1350 ist sichtbar: Ähnliche intellektuelle Position, aber nicht mehr im Jenseits, sondern Differenzierung am irdischen Ort. Farinata war nur äußerlich in der Hölle. Oder besser: Die Hölle Dantes zeigt Florenz als Hölle. Dante redet nicht über die Ketzerei des Farinata, erwähnt die Hölle nur als Platz im Bestrafungsrahmen. Farinata tritt aus dem Rahmen heraus. Von diesem sagt man zu Recht, er sei als Struktur des Inferno nach der Nikomachischen Ethik gebildet, aber Aristoteles kannte keine Häretiker. Bei Boccaccio verschwindet dieser Laster-Katalog-Rahmen vollständig. Neu ist: Boccaccio stellt Dantes Freund Guido in den Mittelpunkt; er läßt Farinata draußen. Er zeigt biographisches Interesse an Dante und seinen Freunden. Dante überließ Gott die harte Bestrafung des Unglaubens, fragt selbst nicht danach, sondern nach der scharf umrissenen Politikerfigur der älteren Generation, den es nichts angeht, wenn sein Sargnachbar zusammenbricht. Boccaccio verschiebt die Szene auf den Platz zwischen Dom und Stadtmauer; er macht den Häretiker zur überlegenen Universalperson. Er zeichnet einen Heroen der neuen Zeit. Guido ist kein einsamer Intellektueller; er ist gesellschaftlich integriert, ein uomo universale. Boccaccio nimmt die christlichen Zensuren zurück, die schon in Inferno 10 knapp waren. Er erarbeitet den Lehrcharakter seiner Erzählung; in ihr ist Aristotelismus präsent wie bei Dantes magnanimo; nur verschärft Boccaccio ihn durch das Zitat aus Siger und Seneca. Beide dichten rund um die Nikomachische Ethik des Aristoteles. Sie aktualisieren die aristotelische Ethik-Politik zur Florenz-Kritik.[820]
Ich lasse hier zwei Fragen offen; ich stelle sie nur: Erstens: Wie denkt Dante das Verhältnis von ›Rahmen‹, Struktur der Hölle, Lasterkatalog und Einzelperson? Er rückt Farinata heraus. Indem er ihn hochgesinnt nennt, magnanimo, gesteht er dem verurteilten Häretiker zu, was Aristoteles als die Tugend der großen Leute beschrieben hat. Er sagt nicht etwa: Wie konnte er sich’s erlauben, nicht ans Jenseits zu glauben, jetzt sieht er, was er davon hat. Nichts dergleichen. Dante respektiert die moralische, die individuelle Perfektion der Person. Er rechtfertigt nicht das Strafurteil. Er greift es auch nicht an. Er läßt es als Hintergrund stehen.
Zweitens eine methodische Frage: Dantes Commedia und das Decameron wollen als Dichtung gelesen werden. Ist das möglich ohne Information von außerhalb der Dichtung? Verlangt das der Ganzheitscharakter von Dichtung? Muß sie nicht alles enthalten, was zu ihrem Verständnis nötig ist? Will sie nicht rein als poetisches Ganzes genommen werden, als in sich geschlossenes episches Gewebe, ohne gelehrte Anmerkungen? Was entgeht einem Leser, der im Farinata-Kapitel das Wort großgesinnt, magnanimo, nicht als aristotelisches Ethikkonzept erkennt und bei Boccaccio nicht das Aristoteles-Seneca-Siger-Zitat im Mund des Guido? Er wüßte dann nicht, daß Dante in dem historischen Kampf um die magnanimitas im christlichen Westen spricht.[821] Er sähe nicht, wodurch es Dante möglich wurde, einen großen florentinischen Politiker in einer Unterhaltung vorzustellen, als wäre er gar nicht in der Hölle, ja sogar unter der ausdrücklichen Erklärung, seine Strafleiden interessierten ihn nicht. Diese Erfindung um 1300 zu verteidigen, erforderte gelehrtes Wissen. Nur als eigene Erfindung wäre das schwer plausibel zu machen gewesen. Aber das Wesentliche hätte der ungelehrte Leser begriffen: Farinata ist ein Ketzer, aber er ist nicht nur ein Ketzer, sondern ein großgesinnter, unegoistischer Staatsmann. Er schont sich nicht. Er ignoriert seine Bestrafung und seine körperliche Qual. Und diese Selbständigkeit kann (oder will) auch der allmächtige Gott nicht verhindern. Diese theologisch-philosophische Quintessenz: Dantes Gott respektiert selbst in der Hölle die Freiheit, versteht auch, wer nicht wie Dantes gebildete Zeitgenossen das Wort ›großgesinnt‹ als Rückendeckung durch die größte philosophische Autorität der Zeit für ein poetisch-politisches Experiment erkennt. Auch für ihn ist der Farinata-Gesang in sich vollständig; er ist in sich rund und schön.