VI.
Dantes Agon
Dantes Poesie war nicht friedliche Besinnlichkeit, sondern argumentierender Kampf. Die bisherigen Kapitel haben dies jeweils aus der Perspektive eines Faches beschrieben: philosophie- oder ökonomiegeschichtlich, reichs- oder sprachgeschichtlich, kirchen- oder theologiegeschichtlich. Die Trennungen waren nicht radikal durchführbar. Dantes Lebenskampf hatte viele Felder, war aber insofern einfach, als er Aristoteles-Rezeption und Franziskanismus nutzte für die Verteidigung der Reichssouveränität und der Selbständigkeit natürlicher Lebenswerte und weltlicher Wissenschaft. Sein einheitliches Thema befand sich in dramatischer Bewegung, verlief nicht strikt teleologisch, aber bezog sich seit 1300 immer auf die päpstliche Weltherrschaftspolitik: Diese suchte die Städte und Frankreich gegen den Kaiser aufzustellen und erkannte mit großer Konsequenz sowohl weltliche Gewalt wie philosophisches Denken nur an, wenn sie untertänig blieben. Dagegen stellte sich Dante. Dies war sein Schicksal; dies ergab seinen Agon.
1.
Anfänge
Dante wandte sich um 1290 der Philosophie zu. Damals war die intellektuelle Situation des lateinischen Westens schon recht kompliziert. Er konnte nicht vom Nullpunkt anfangen; er mußte sich auseinandersetzen mit dem, was er als politische Großwetterlage – einschließlich der Kirchenpolitik – und Theorie vorfand. Er antwortete philosophierend-poetisch auf die Gesamtsituation seiner Jahrzehnte. Um sie zu beschreiben, hole ich etwas weiter aus. Ich möchte Dante nicht monumentalisieren, sondern historisieren, und ich verstehe unter ›Historisieren‹ nicht das Vorbringen von Geschichtszahlen, sondern das Aufdecken nach- und fortwirkender Kräfte in dem Komplex Commedia–Monarchia, die gemeinsam ein historisches Bollwerk, aber auch ein Ferment für die Zukunft bilden.[901] Denn im Laufe des 13. Jahrhunderts brachte die Papstpolitik divergierende realgeschichtliche, kirchenpolitische und philosophiegeschichtliche Mächte zusammen. Im Blick auf diese Zusammenführung entwickelte Dante seine poetische, philosophische und politische Position. Dante haßte Bonifaz VIII. Aber sein Konflikt mit ihm war von großer objektiver Natur. Er war Dantes Schicksal. Um es von kleinen Interessengegensätzen zu unterscheiden, spreche ich von Dantes Agon. Da standen nicht nur Dantes zwei Bücher gegen viele andere Schriften; da stritten weltgeschichtliche Tendenzen gegeneinander:
-
die alte Reichsidee gegen die neue Rechtskonstruktion und ökonomische Produktivität der Kommunen und ihres Handels;
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die Idee der päpstlichen Weltherrschaft gegen die neuerwachte Selbständigkeit von Politik und Wissenschaft;
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die Gehorsamsforderung der kirchlichen Autorität gegen die Erfahrung der Natur der Dinge und des Wissens.[902]
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Dante spricht im Bewußtsein historischer Dringlichkeit. Er sah Italien und die Menschheit aufs äußerste bedroht – durch die päpstliche Machtpolitik, die Konstantins Schenkung ermöglicht hat, und durch die Habgier der neuen Ökonomie. Ich versuche nun, Dantes theologisch-politische Situation in kleinen Schritten zu entwickeln.
Ob das Christentum philosophielos zur Welt kam, will ich hier nicht entscheiden; jedenfalls enthalten christliche Texte, die um 120 nach Chr. vorlagen, einige philosophische Grundbegriffe. Dazu gehören Konzepte wie ›Vorsehung‹ (pronoia) und ›Gewissen‹ bei Paulus (syneidesis, 1 Kor. 10, 25), das weder in der hebräischen Bibel noch in den Evangelien ein Äquivalent hat, auch ›Logos‹ zu Beginn des Johannesevangeliums. Frühe Christen versetzten antik-philosophische Ideen in ihren kulturellen und sozialen Kontext. Hellenistische Grundbegriffe wie Logos oder Pronoia gehörten jetzt einer neuen Gruppe und ihrer anderen Ethik an; sie waren mitgeprägt durch die Erwartung des nahen Weltendes. Dieses trat so schnell nicht ein; gebildete und reiche Christen des 2. Jahrhunderts entwickelten andere intellektuelle Bedürfnisse als die Fischer vom See Genezareth. Sie suchten das umfassende Verständnis des Geglaubten; sie mußten und wollten es ›rechtfertigen‹ vor sich selbst und missionarisch vor anderen. Das war in der hellenistisch geprägten Kultur des Mittelmeerraums ohne die weitverbreitete Popularphilosophie nicht möglich. Jetzt waren Fragen zu beantworten wie:
Was hieß es, ›erlöst‹ zu sein? Welche Rolle sollten antike Bildung, Literatur und Philosophie für die Christengemeinden der dritten, der vierten Generation spielen? Waren sie als Teufelszeug zu verwerfen oder zu assimilieren? Die antike Dichtung war verbunden mit der griechisch-römischen Götterwelt, also mit dem Kult, den Christen unbedingt zu vermeiden hatten. Darauf gab es widersprechende Antworten. Das kulturelle Gedächtnis Europas bewahrt die philosophierenden Bildungsfreunde unter den Christen – wie Clemens von Alexandrien und Origenes – sorgfältiger auf als die Gegner der Philosophie, dabei hatte doch schon der im Namen des Paulus geschriebene Kolosserbrief (2, 8) davor gewarnt, sich durch die Philosophie verführen zu lassen: Videte ne quis vos decipiat per philosophiam. Die Rede, die in der Apostelgeschichte 17 Paulus zugeschrieben wird, zeigt andererseits den Versuch der Anknüpfung an die Antike.
Philosophische Wanderredner bildeten eine ernsthafte Konkurrenz zu christlichen Missionaren, die sich nicht selten bemühten, es diesen in Gewandung und Auftreten gleichzutun. Wenn ein Christ wie Origenes daranging, eine Gesamtdarstellung des christlichen Glaubens zu liefern, mußte er Konzepte der umlaufenden Popularphilosophie aufgreifen; in ihr mischten sich platonisierende, aristotelische und stoische Elemente. Einen gewissen Vorrang unter ihnen erlangte Platonisches. Denn Christen deuteten Platon als Monotheisten. Sie verstanden seine Ideenlehre als Wissen von einem anderen Leben, als Weg zum Glück der Seele durch Einsicht und Askese und als Projekt jenseitsorientierten ethischen Handelns.
Die endgültige Form dieser Verbindung von Platonismus, schularistotelischen Resten, oft nur in der Terminologie, und christlichem Glauben schien in den Werken Augustins vor 397 vorzuliegen; die platonisierende Philosophie galt ihm als Weg zur Glückseligkeit und zu Gott; sie bot die richtige Ethik. Nur durch ihre Lehre von der Einheit des Weltgrunds gelang Augustin der Abschied von der Christengruppe der Manichäer, der er neun Jahre lang angehört hatte, und von ihrer Annahme zweier Prinzipien. Aber im Nachdenken über Paulus, vor allem über dessen Brief an die Römer, zerstörte der Bischof Augustin diese Voraussetzungen, auch wenn er gelegentlich auf Teile von ihnen zurückgriff. Seine späte Gnadenlehre ging ab etwa 400 von der Schwäche der menschlichen Vernunft aus und von der Ohnmacht des nicht-begnadeten Willens; die Tugenden der Heiden, hieß es jetzt, seien nichts als glänzende Laster. Selbst das Römische Imperium verdiene nicht das Wort civitas, Gemeinwesen (nicht: Staat), da es auf Unrecht beruhe, nämlich auf der Verehrung falscher Götter. Augustin sah in den heidnischen Göttern nicht Produkte der Volksphantasie, sondern real existierende Dämonen. Ungetaufte gehören der Satanswelt an; sie kommen nicht in den Himmel. Daher der Schmerz Dantes, daß Vergil zurückmuß in die Hölle. Aber keineswegs werden Augustin zufolge alle Getauften gerettet; Gottes Gnadenwahl ist unvorhersehbar. Er bestimmt ohne erkennbare Kriterien zur ewigen Freude oder zum Untergang.
Augustins Gesamtwerk wirkte ambivalent. Ihm konnte man sowohl die christliche Kritik an heidnischer Philosophie entnehmen als auch deren Unentbehrlichkeit. Es gab eine Reihe philosophischer Motive, auf die auch der späte Augustin nicht verzichtet hatte: Da war der Ich-Stil, mit dem Augustin über Gott sprach. Die Confessiones schilderten seine psychologischen Zustände und die persönliche Entwicklung. Die Biographie bekam philosophische und religiöse Bedeutung.
Augustin hörte nicht auf, Gott als das Gute in allem Guten zu denken. Er leitete zu der Überlegung an: Du siehst ein gutgebautes Haus und ein gutes Essen. Beide sind gut. Jetzt nimm in Gedanken ›Haus‹ und ›Speise‹ weg, denke nur: Gut. Dann siehst du Gott:
Bonum hoc et bonum illud. Tolle hoc et illud, et vide ipsum bonum si potes; ita deum videbis, non alio bono bonum, sed bonum omnis boni.[903]
Augustin erwartete immer noch viel von diesem philosophischen Experiment, das den christlichen Glauben nicht argumentativ voraussetzte, sondern der platonisierenden Tradition entsprungen war: Wer die Entgrenzung des Guten vollzieht, sieht Gott. Ita deum videbis.
Ein weiteres philosophisches Thema des späten Augustin wirkte fort, auch bei Dante: seine Analyse des Geistes, mens. Er habe drei Funktionen, Erinnern, Einsehen, Lieben. Dabei zielte Augustin darauf ab, daß diese Tätigkeiten sich durchdringen. Sie sind eins:
Ich liebe es, zu erkennen. Nur dann erkenne ich, wenn ich einsehen will. Ich weiß, daß ich mich erinnere. Nur dann erinnere ich mich.
Die Universitätsphilosophie sowohl des Mittelalters wie der Neuzeit sprach von drei Seelenvermögen. Die Konzeption Augustins ging in die entgegengesetzte Richtung: Die drei Funktionen sind eine einzige Tätigkeit, ein einziges Leben, ein einziges Wesen.[904]
Diese drei Themen – die Wichtigkeit des Ich, die Allgegenwart des ›Guten selbst‹ und die Analyse des menschlichen Geistes – blieben wirkende Fermente im Denken Dantes. Sie ermöglichten Dante eine Theorie intellektuellen Fühlens und Liebens.
Die anderen lateinischen Kirchenväter – Ambrosius, Hieronymus und der Papst Gregor I. – haben an diesem Bild eines inkohärent gemachten Neuplatonismus wenig geändert: Ambrosius trieb Kirchenpolitik und rezipierte viel von Origenes; Hieronymus legte sprachkundiger als andere die Bibel aus und stritt mit wem er nur konnte; Gregor der Große dachte an die Autorität des römischen Bischofs, beschrieb kundig das jenseitige Schicksal der menschlichen Seele, integrierte monastische Lebenskonzepte und die Engellehre des östlichen Mönchs Dionysius Areopagita, der sich als der Übermittler der Geheimlehren des Apostels Paulus ausgab. Dieser Dionysius war abhängig von dem Neuplatoniker Proklos, fingierte aber, der Vertraute des Apostels zu sein. Auch er stärkte die neoplatonisierende Auslegung des Christlichen. Auf ihn konnte sich Johannes Eriugena stützen, der in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts am Hof Karls des Kahlen eine erste Gesamtdeutung der Wirklichkeit im Sinn christlicher Philosophie vorlegte. Er näherte sich zusehends der christlichen Spekulation des Ostens. Dies war möglich als späte Folge der karolingischen Bildungsreform.
2.
Boethius
Auch die flüchtigste Skizze der christlichen Ideenentwicklung der ersten neun Jahrhunderte fordert einen Blick auf Boethius.[905] Er stammte aus höchstem römischen Adel; er hatte – anders als Augustin – eine hervorragende philosophische Ausbildung genossen; er hat die logischen Schriften des Aristoteles übersetzt und kommentiert. Staatliche Gewalteinwirkung hinderte ihn, das Gesamtwerk des Aristoteles zu übertragen; Theoderich ließ ihn im Kerker in Pavia erdrosseln. Daher fehlten die realphilosophischen Schriften des Aristoteles dem Westen bis weit ins 12. Jahrhundert, um nur Beispiele zu nennen: die Metaphysik und die Seelenlehre, die Ethik, die Physik und die Biologie. Boethius hatte in den letzten Lebensmonaten im Kerker ein Buch geschrieben, in dem er über sein Schicksal, über Gott und den Weltlauf nachgedacht hat: Trost der Philosophie. In dieser Lebenslage schrieb er nicht als Aristoteliker, Logiker, Mathematiker oder Naturforscher, sondern er wollte sein Schicksal verstehen, ähnlich wie der vom doppelten Unglück, dem Tod Beatrices und der Verbannung, gezeichnete Dante. Philosophisch kohärent, vermied er jeden Anklang an christliche Trostgründe. Er unterhielt sich mit der Dame Philosophie und erhielt von ihr Belehrungen über den Kosmos und die göttliche Güte, über den Menschen und sein geistiges Glück. Auch dabei traten neuplatonische und stoische Gedanken zusammen. Wichtig war die intellektuelle Atmosphäre dieses Textes aus der Todeszelle: Philosophie zeigte sich stark als Lebensmacht im Angesicht des Todes. Mit seinem Wechsel von Prosa und Poesie war das Buch bei Dante auch ästhetisch wirkungsvoll, besonders für die Vita nova und das Convivio.
Boethius vereinte in der Consolatio Philosophie und Poesie. Insofern bot er Dante ein einzigartiges Muster. Von Boethius hatte er das Bild der Philosophie als einer vornehmen Frau. Durch Boethius existierte Fortuna als wirkliche Macht im christlichen Denken. Er hatte die Willensfreiheit gegen allen Determinismus verteidigt. Ich greife aus diesem wichtigen Buch einige Themen heraus, die Dante neu aufleben ließ:[906]
Das zweite Buch endet mit folgenden Zeilen:
O felix hominum genus,
Si vestros animos amor,
Quo coelum regitur, regat.
Liebe beherrscht die Bewegung der Sterne. Herrschte diese Liebe bei uns, wäre die Menschheit glücklich.
Die richtige Liebe sichert die Glückseligkeit. Aber auf der Erde herrscht Fortuna. Ihrer Willkür können wir nur ausweichen durch stoische Gelassenheit. Die Sonne des guten Grundes der Welt leuchtet immer, aber sie wird uns durch Wolken verdeckt. Wir müssen die Gesamtordnung der Welt gut finden und uns durch anerzogene Unerschütterlichkeit vor Schicksalsschlägen wappnen (Consolatio 1, 7):
Nubibus atris
Condita nullum
Fundere possunt
Sidera lumen.
In meiner Gebrauchsübersetzung:
Hinter schwarzen Wolken versteckt,
können Sterne ihr Licht nicht verbreiten.
In der poetischen Übertragung von Konrad Weiß:
Wenn hinter Wolken finster sie hausen,
schicken ihr Licht die Sterne vergebens.[907]
Was folgt daraus für die eigene Lebensführung? Entsagen. Das Gedicht endet mit folgenden Zeilen:
Tu quoque, si vis
Lumine claro
Cernere verum,
Tramite recto
Carpere callem;
Gaudia pelle,
Pelle timorem
Spemque fugato
Nec dolor adsit.
Nubila mens est
Vinctaque frenis,
Haec ubi regnant.
Auch du, wenn du im hellen Licht
die Wahrheit fassen willst,
vertreibe die Freuden, vertreibe die Furcht.
Verjage die Hoffnung, dulde kein Schmerzgefühl.
Wo dies alles herrscht, bleibt trübe der Geist,
liegt er besiegt in Fesseln.
Dieses stoische Konzept der Affektunterdrückung hat durch Boethius im Mittelalter Zustimmung gefunden; es war weder Eckhart noch Dante fremd.
Wichtige Elemente der Weltansicht Dantes enthielt der Hymnus des Boethius an die weltgestaltende Gottheit O qui perpetua. Er zeichnet den Weltgrundriß des platonischen Timaios nach: den ideenhaften Ursprung aller Dinge; den zahlenhaft geordneten Charakter der Geschöpfe; die neidlose Güte des göttlichen Ursprungs (Consolatio 3, 9).
O qui perpetua mundum ratione gubernas,
Terrarum caelique sator, qui tempus ab aevo
Ire iubes stabilisque manens das cunctis moveri,
Quem non externae pepulerunt fingere causae
Materiae fluitantis opus, verum insita summi
Forma boni livore carens, tu cuncta superno
Ducis ab exemplo; pulchrum pulcherrimus ipse
Mundum mente gerens simili in imagine formans …
In der Übersetzung von Ernst Gegenschatz und Olof Gigon:
Der du lenkest die Welt nach dauernden festen Gesetzen,
Schöpfer des Himmels, der Erden, der du von Ewigkeit ausgehen
Hießest die Zeit, selbst nimmer bewegt, bewegend das Weltall!
Keine äußere Macht trieb dich, aus wogenden Massen
Deine Schöpfung zu formen; in dir nur trägst du des höchsten
Guten Gestalt, bist frei von Mißgunst. Das All vom Urbild
Leitest du her; die herrliche, Herrlichster selber,
trägst du im Geiste, die Welt, und formst sie zu ähnlichem Bilde …
Der göttliche Geist (mens) bewegt alles, bleibt selbst unbewegt. Er ordnet nach dauernden Gesetzen den Weltlauf. Auch der Mensch ist Geist (mens), und sein Geist nimmt die Wahrheit nicht von außen auf, sondern gestaltet sie nach eigenem inneren Gesetz. Boethius wendet sich gegen die außenorientierte Erkenntnislehre der Stoiker; ihre Abbildtheorie des Erkennens hält den Menschengeist für eine ungeschriebene Tafel, der von außen die Inhalte eingeschrieben werden. Sie kann nicht begreiflich machen, daß der menschliche Geist nach allem greift und daß er seine Inhalte nach eigenen Regeln aufteilt und wieder zusammenfaßt. Daß er über alles urteilt, indem er sich dabei auf sich selbst bezieht (Consolatio 5, 4):
Unde haec sic animis viget
Cernens omnia notio?
Quae vis singula perspicit
Aut quae cognita dividit?
Quae divisa recolligit
Alternumque legens iter
Nunc summis caput inserit,
Nunc decedit in infima,
Tum sese referens sibi
Veris falsa redarguit?
Woher dann dieser Sinn, der selbst
lebt im Geiste und alles sieht?
Wie geschieht jene Macht, die prüft
einzeln und die erkennt und teilt?
Teile baut sie zum Ganzen aus,
sucht den einen, den anderen Weg,
hebt ihr Haupt bald zum Himmel hoch,
weicht bald nieder zum tiefsten Grund,
um zuletzt zu sich selbst gebracht
auszuzählen, was wahr, was falsch.[908]
Das hieß: Wäre der Mensch nur ein Teil der Natur, würde seine intellektuelle Produktivität unbegreiflich.
3.
Das frühe Mittelalter
Boethius galt wegen seiner Hinrichtung als christlicher Märtyrer. Dies gab seiner Hochschätzung selbständiger Philosophie zusätzliche Legitimation für die Folgezeit, besonders in dem durch Karl den Großen zur Kulturarbeit verpflichteten Klosterleben. Boethius ermöglichte seit der Reorganisation der Bildung im 9. Jahrhundert konkrete philosophische Lebensorientierung und kohärenten Logikunterricht. Dieser beruhte zwar auf beschränkter Textbasis, der sog. Logica vetus. Aber er brachte im kirchlichen wie im politischen Leben zur Geltung, es gebe offenbarungsunabhängige, allgemeine, genau zu bezeichnende und von Führungspersonen zu erlernende Voraussetzungen menschlichen Wissens und Handelns. Kloster- und Kathedralschulen verfuhren nach diesem Programm; sie verbreiteten vom 9. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts eine spezifische Rationalität. Diese erreichte gesamtgeschichtliche Bedeutung; sie berührte den Alltag und die Politik, wie der Historiker Johannes Fried zeigen konnte.[909] Freilich gab es daneben immer auch monastisch-eifernden Bildungshaß und die Warnung vorm Hochmut des Wissens. Im 11. Jahrhundert schrieb Petrus Damiani das Lob der heiligen Einfachheit, sancta simplicitas.
Bis etwa 1100 folgte die vorherrschende Gesamtdeutung des Lebens den lateinischen Kirchenschriftstellern. Das Verständnis des Christentums und der Kirche beruhte politisch-gesellschaftlich auf der Macht Karls des Großen und seiner Nachfolger, besonders Ottos des Großen, der die Bischöfe zu Reichsfürsten gemacht hatte. Intellektuell orientierte es sich eher an Ambrosius und Augustinus als an Boethius. Durchweg war es schon damit überfordert. Für Medizin und Rechtswissenschaft, für eine mehr als symbolistische Naturbetrachtung war darin kaum Platz. Allerdings zeigten gegen 1100 einzelne Denker wie Berengar von Tours († 1088) und Anselm von Canterbury († 1109), was aus der boethianischen Logik und Anregungen des frühen Augustin für eine neue Auffassung des Lebens, des Menschen und der christlichen Lehre zu entwickeln war. Berengar und Anselm waren aus der intellektuellen Entwicklung der westlichen Welt nicht mehr wegzudenken; durch sie wurde das 12. Jahrhundert zur ›Achsenzeit‹.
4.
Die Achsenzeit: Das 12. Jahrhundert
Das 12. Jahrhundert brachte einen allgemeinen Lebensaufbruch. Die Bevölkerung nahm zu; Städtegründungen und Rodungen veränderten die Landschaft. Wer sein Kind in die Schule schicken wollte, mußte es nicht aufs Land in ein Kloster verbringen; die Städte gründeten Hospitäler und Schulen. Der Fernhandel nahm zu; er lieferte jetzt nicht mehr nur seltene Luxusgüter wie Salz, Pfeffer und Gewürze, sondern Waren des täglichen Bedarfs. Die Kirche organisierte die konsequente Durchdringung des flachen Landes; sie setzte die Pfarreistruktur durch. In den Städten wuchs die Bedeutung der Predigt.
Dies war der Kontext für neue Denkentwürfe und neue Einstellungen, für bisher unbekannte Texte und neue Institutionen. Boethius, auch Seneca und Cicero wurden jetzt mehr gelesen als zuvor. Berengar-Debatte und Investiturstreit hatten die Geister aufgewühlt. Es entstanden Dauerdiskussionen auf den Gebieten der Jurisprudenz und Medizin, der Philosophie, Theologie und des Naturwissens. Die Neugier nahm zu. Ein neues Selbstbewußtsein der Lesenden und Lehrenden sprach sich aus; das städtische Bürgertum organisierte sich und stellte unerhörte Fragen an Stadtherren und Lehrautoritäten. Eine stürmische Entwicklung setzte ein; die Neuerer wurden mutiger und einflußreicher, die Konservativen mißtrauischer und defensiver, konnten aber nur durch Neuerungen ihre Macht erhalten. Die Meinungsvielfalt nahm zu. Überall gab es nun Ketzer oder was dafür gehalten wurde. Die westliche Gesellschaft zeitigte neue Spannungen und neues Entwicklungstempo. Städtische Gruppierungen, Fernkaufleute und Händler, bald auch Handwerker, äußerten neues Selbstvertrauen in Religions- und Rechtsfragen. Die Gewohnheit des Gottesurteils wurde durch geordnete Rechtspflege ersetzt. Der Eintritt in ein Kloster wurde zunehmend als Ergebnis individueller Bekehrung verstanden und der familiären Anweisung wenigstens formell entzogen.
In philosophischer Hinsicht brachte das Jahrhundert grundlegende Umwälzungen. Sie hatten gewiß auch ihre Vorgänger, aber so richtig begannen sie mit Peter Abaelard († 1136). Er wies auf die ungelösten Probleme der logischen Schriften des Boethius hin und machte Vorschläge, wie sie zu lösen seien. Dies betraf vor allem die Frage nach dem Realitätsgehalt allgemeiner Bestimmungen, die sog. Universaliendiskussion. Einschneidender waren seine ethischen Reflexionen. Sie verlagerten das Interesse von der objektiven Wertordnung auf die subjektive Seite des Handelnden, also auf seine Absicht. Für die Folgezeit am wirksamsten wurde seine Entdeckung, daß die Texte der christlichen Religion Widersprüche enthielten. In seinem Werk: Ja und Nein, Sic et non, listete er solche Widersprüche sorgfältig auf und formulierte Regeln, sie zu überwinden. So trug er bei zur Entstehung der scholastischen Theologie, also zu Versuchen der kohärenten Gesamtdarstellung des christlichen Denkens.
Den nächsten wichtigen Schritt in diese Richtung unternahm Petrus Lombardus, gestorben 1160 als Bischof von Paris. Sein Hauptwerk, das sog. Sentenzenbuch, stellte Zitate der lateinischen Kirchenväter harmonisierend zusammen. Ihre einheitliche Wahrheit sollte daraus hervorgehen. Die von Abaelard begonnene Arbeit schien – ohne dessen Aufsässigkeiten – erledigt. Die Zusammenstellung des Petrus Lombardus avancierte zum wichtigsten theologischen Lehrbuch bis ins hohe 16. Jahrhundert.
Der Lombarde, Bischof von Paris und Bauherr von Notre-Dame, hatte die Traditionsmasse des westlichen Christentums nach dem Grundriß des Glaubensbekenntnisses von Nicea so zusammengefaßt, daß sein Buch sofort ein Erfolg wurde. Es entsprach den späteren universitätspolitischen Forderungen der Päpste Innozenz III., Gregor IX. und Innozenz IV.: Die Philosophie sollte zugelassen, aber klein gehalten werden; die Magd sollte nicht über ihrer Herrin, der Theologie, stehen.[910] Die Päpste zwischen 1200 und 1330 trieben aktive Universitätspolitik. Sie haben die Universität gefördert; sie haben sie bis in die Kleinigkeiten befehligt und kontrolliert. Für Dante wurde entscheidend: Sie haben in gleicher Häufigkeit und gleicher Härte, auch mit ähnlichen Metaphern, die Herrschaft der Päpste über weltliche Herrscher wie die der Theologie über die Wissenschaften gefordert. Genau dieser Zusammenhang war das historisch Charakteristische und bestimmte die Welt Dantes: Die Päpste haben die Selbständigkeit weltlicher Herrschaft ebenso untersagt wie die Selbständigkeit weltlicher Wissenschaft. Dies konnten sie nur durchhalten, wenn sie der Philosophie einen begrenzten Raum zugestanden. Diese Grenze war immer umstritten.
Ich bin über die Grenze des 12. Jahrhunderts hinausgegangen, kehre aber noch einmal zu ihm zurück: Wer in der Zeit vor Petrus Lombardus erfahren wollte, was Christen glauben, bekam die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse und deren Erklärungen zu lesen, aber wenn er es genauer und vollständiger wissen wollte, geriet er ins Unübersichtliche. Diesem Zustand setzte der Lombarde ein Ende. Er erfüllte die Vernunftforderung nach Widerspruchslosigkeit, nach Einheit und Klarheit an den divergierenden Materialien der christlichen Überlieferung. Sein Ziel war die Konkordanz der widersprechenden Stellen.
Fast zur gleichen Zeit arbeitete in Bologna Gratian an der Vereinheitlichung der vorhandenen Rechtsvorschriften. Das war ein Vorgang, den man nicht abschieben darf ins Spezialgebiet des Kirchenrechts. Gratian hat mehr getan, als nur die Grundlage des gesamten Kirchenrechts zu legen. Sein Buch, das Decretum, regelte zum ersten Mal eine Vielzahl auch profaner Lebensverhältnisse. Es definierte zum Beispiel, was ein Vertrag oder was eine Ehe ist. Es rationalisierte, was bisher unklar oder nur lokal geregelt war, für die ganze westliche Christenheit. Es brachte den gesellschaftlichen Status quo in eine juristische Form, nicht durch rein abstrakte juristische Systematik, sondern indem es die älteren Rechtsvorschriften zusammenstellte und harmonisierend interpretierte. Sein Ziel war die Herstellung gelehrter Konkordanz der vielfach widersprüchlichen bisherigen Rechtsgrundlagen. Auch hier wirkte das neue Bedürfnis nach umfassender Regelung, übrigens auch ethischer Normen, die einheitlich, vernünftig, d.h. vor allem widerspruchsfrei sein sollten.
Wer fortan die christliche Wahrheit definieren und den Alltag in ihrem Sinn beherrschen wollte, brauchte den Lombarden und das Decretum. Sie haben die Grundlage gelegt für viele Institutionen und Gewohnheiten, die es im früheren Mittelalter nicht gab. Die Papstkirche des 13. Jahrhunderts, die sich als die Vertretung der Weltherrschaft Gottes verstand, hatte jetzt ausgearbeitete Grundgesetze.
Das System des Kirchenrechts war seit dem 12. Jahrhundert überwiegend papalistisch. Deutsche Kaiser, die ihre Rechte gegenüber den Weltmachtplänen der Päpste behaupten mußten, hatten zunächst nur die Traditionen karolingisch-ottonischer Rechtsverhältnisse auf ihrer Seite. Aber auch sie fanden Hilfe in Bologna, denn dort wurde auch das alte Römische Recht gelehrt, das dem Kaiser eine unabhängige große Macht zusprach, wie sie in der römischen Antike als selbstverständlich galt.
Das Sentenzenwerk und Gratians Decretum waren Einheitssetzungen der menschlichen Vernunft, die dem Bedürfnis des Jahrhunderts entgegenkamen, aber sie hatten ihre Grenzen. Sie systematisierten, was im lateinischen Westen an kirchlichen Regeln und Stoffen vorhanden war. Der Lombarde vereinfachte das Denken Augustins und Gregors vorsichtig und kirchenkonform; er interessierte sich so gut wie nicht für andere Bedürfnisse, die sich jetzt ebenfalls anmeldeten – Krankheiten oder Stadtgründungen, Architektur oder ein Wissen über Tiere; es fehlte eine Biologie, die über deren symbolische Bedeutung hinausgegangen wäre. Dies alles aber brauchte die geschichtliche Dynamik dieses Jahrhunderts. Ihm fehlte noch mehr, nämlich die Chemie und die Optik, Literatur zu Ackerbau und Werkzeugherstellung. Auf diesen Gebieten hatte die islamische Welt einen großen Vorsprung. Er konnte in Spanien und Süditalien nicht verborgen bleiben, Kreuzzügler brachten Proben mit. Westliche Intellektuelle, zuerst in Salerno und Chartres, in Toledo, bald auch in Bologna und Montpellier arbeiteten daran, die Grenzen der rhetorischen, oft abstrakt-verbalen augustinisch-kirchlichen Schulkultur zu sprengen.
Sie hauchten der Philosophie und dem Naturwissen, die bei Petrus Lombardus so gut wie nicht vorkamen, neues Leben ein. Die Natur war neu zu sehen; sie blieb nicht länger nur das Bild ethisch-religiöser Vorstellungen. Mit leichter Vergröberung kann man sagen: Der Westen hat zwischen 1130 und 1230 ein Jahrhundert lang daran gearbeitet, sich die Errungenschaften der höheren griechisch-arabischen und auch der jüdischen Zivilisation zuerst einmal stofflich anzueignen. In der Folgezeit hat er sie weiterentwickelt, bis er ökonomisch, militärisch und technisch die sich geographisch immer mehr erweiternde Welt beherrschte. Dazu übernahm er zunächst die arabischen Zahlzeichen, mit denen Händler leichter rechnen konnten; dann arbeitete er die gesamte Textmasse der griechisch-arabischen Wissenschaften durch. Jetzt verband er Philosophie mit Erfahrungswissen, mit Tierkunde, Optik, Chemie und Medizin; er erarbeitete sich Aristoteles und seine arabischen Kommentoren. Das waren vor allem Ibn Sina (Avicenna, † 1037) und Ibn Rushd (Averroes, † 1198).
5.
›Aristotelisch‹ versus ›peripatetisch‹
Reinen Aristotelismus gab es nie, weder in der Antike noch im Mittelalter. ›Reinen Aristotelismus‹ könnte man das nennen, was Gräzisten und Philosophen des 19. Jahrhunderts als die Lehre des Aristoteles rekonstruiert haben. Im Vergleich dazu kam die Philosophie des Aristoteles in der Geschichte immer nur vermischt vor, versetzt mit platonischen, neuplatonischen und stoischen Lehren, abgerichtet zu theologischen oder theologiekritischen Zwecken. Neuere Forscher haben sich daher angewöhnt, statt von ›Aristotelismus‹ von ›Peripatismus‹ zu sprechen, um an die ständige Umformung des aristotelischen Erbes zu erinnern. Schon allein die beiden wichtigsten Peripatetiker der Araber, die für den lateinischen Westen außerordentlich große Bedeutung hatten, nämlich Avicenna und Averroes, boten zwei recht verschiedene Varianten der Aristoteles-Lektüre an.
Was beide gemeinsam hatten und wodurch sie sich von den Aristotelikern unter den christlichen Theologen unterschieden: Sie waren beide bedeutende Mediziner. Dies war einer der Gründe, warum sie bald im Westen großes Interesse fanden: Sie lösten die bisherige Klostermedizin, auch die Weisheit der heiligen Hildegard, schnell ab. Avicenna wurde schon im 12. Jahrhundert in Toledo übersetzt (Dominicus Gundissalinus; Johannes Hispanus). Sein Handbuch der Medizin (Canon genannt) wurde noch im 16. Jahrhundert gedruckt und geschätzt. Die arabischen Aristoteliker befriedigten das Bedürfnis des Westens nach Naturkunde; sie brachten Physik und Seelenlehre, Biologie und Kosmologie mit. Avicenna arbeitete ein umfassendes System aus und versetzte die Naturbetrachtung des Aristoteles in einen eher neuplatonischen Rahmen, der die Philosophie des einen notwendigen Wesens verband mit Islam und Medizin.
Averroes, der erst gegen 1230 dem Westen bekannt wurde, schuf ebenso eine umfassende Weltansicht, bewährte sich aber vor allem als Kommentator der aristotelischen Schriften. Griechisch konnte er nicht, aber er war so tief in die Gedanken des Aristoteles eingedrungen, daß sein Kommentar für Jahrhunderte unentbehrlich blieb. Er kritisierte Avicenna; dieser habe Philosophie mit frommer Rhetorik vermischt und dadurch den Begriff der Philosophie verdorben. Nicht, als habe Averroes den Islam verworfen; er hielt ihn für die Erziehung und politische Formierung der Massen für unentbehrlich, aber ihm zufolge sprechen die Religionen eine andere Sprache als die Wissenschaft. Er dachte die Notwendigkeit der drei großen Religionen pragmatisch, gesellschaftlich, politisch. Die Wissenschaft gehe von notwendigen Vernunftregeln aus: für die Erziehung und Leitung des Volkes genüge die Rhetorik. Diesen Unterschied habe Avicenna verkannt. Ohne die Rolle der Religionen mißachten zu wollen, beschnitt Averroes ihre theoretischen Ansprüche. Das hatte einschneidende Folgen – für den Begriff Gottes und die Einschätzung von Offenbarung, für den Lehrsatz von der Erschaffung, für das Konzept der Seele und der Seligkeit. Aber auch wer die Trennung von philosophischer Wissenschaft und predigerhafter Rhetorik ablehnte, kam um Averroes nicht herum; er brauchte dessen Kommentar. Dies hat im Westen den Begriff von Philosophie, von Forschung und das Selbstverständnis von Gelehrten verändert. Seit dem 13. Jahrhundert gab es die Universität mit einer Fakultät, die noch immer die der artes hieß, die aber das Lehrprogramm der alten Bücher über die sieben freien Künste austauschte gegen die Arbeit am Text des Aristoteles anhand des Averroes.
Es entwickelte sich ein professionelles Selbstverständnis der sog. ›Artisten‹. Die Theologen wollten nicht, daß die artes-Lehrer auf das Terrain der Theologie übergriffen. Das trug dazu bei, daß sie die Selbständigkeit der Philosophie gegen Glauben und Theologie scharf herausstellen konnten. Sie kamen zu anderen Ergebnissen als die Theologen, zum Beispiel bei der Frage nach der Unsterblichkeit der Seele, aber sie konnten ihre Argumente vortragen, wenn sie nur versicherten, die Philosophie führe zwar zu anderen Ergebnissen, aber sie persönlich folgten gehorsam dem Glauben der Kirche; sie beschränkten sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit nur aufs Gebiet der Philosophie.
Das war ein kluger Schachzug. Er hielt Inquisitoren fern. Aber damit vermieden sie nicht alle Konflikte. Denn Theologen wandten ein, Christen könnten nicht auf der Selbständigkeit einer Methode beharren, die den Glauben zwar bestehen lasse, aber de facto ignoriere. Die Bibel mache nun einmal Aussagen über Weltanfang, Seele und wahres Glück. Ein Wissensfeld, das sich in einer gläubigen Lebenswelt als extraterritorial erklärte, gefährdete die Einheitlichkeit einer Zivilisation und den allumfassenden Welterklärungsanspruch der Theologie. Eine gewisse Selbständigkeit der Philosophie war seit dem 13. Jahrhundert nicht mehr zu versagen, etwa für die Naturphilosophie, die Medizin und die Logik. Aber Aristoteles hatte Grundlagen des Islams wie des Christentums angerührt, indem er die Ewigkeit der Welt lehrte oder vom menschlichen Intellekt behauptete, er schaffe seine Glückseligkeit selbst und sie könne ihm nicht von außen gegeben werden. Daher brachen im 13. Jahrhundert immer wieder Streitigkeiten aus wegen der Selbständigkeit profanen Wissens. Wer wie Dante um 1290 eine argumentierende Lebensorientierung suchte, stand vor einer Mehrzahl von Lösungsvorschlägen dieser Konflikte.
6.
Aristoteles bei Christen – Albertus Magnus
Ich unterscheide grob vier wichtige philosophische Richtungen, zwischen denen Dante wählen konnte. Da ist erstens Aristoteles, den man mit der Hilfe des Averroes las. Die Frage war, wie weit ein Autor ihm inhaltlich entgegenkam; dafür ist Albert der Große ein wichtiges Beispiel.
Zweitens war da die aristotelismuskritische Position vieler Franziskaner, besonders Bonaventuras.
Drittens versuchte Thomas von Aquino Aristoteles von Averroes abzusetzen und den so gereinigten Aristotelismus in sein Konzept von Theologie zu integrieren.
Viertens gab es Autoren, die sich methodisch auf die Philosophie beschränken wollten. Das gilt teilweise für Albert, weitgehend für Siger von Brabant.
Um Averroes war es in Paris etwa ab 1265 zur Krise gekommen. Es folgten die Verurteilungen von 1270 und 1277. Dennoch war Averroes um 1290 noch unübersehbar wichtig. ›Averroes‹, das war ein riesiger Textkomplex detaillierter Kommentararbeit; ›Averroismus‹ war ein Kampfwort des ausgehenden 13. Jahrhunderts, von Thomas Aquinas gegen Siger geprägt. Dieses Schlagwort zog ein umfangreiches gelehrtes Lebenswerk zu drei Irrlehren zusammen:
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Die Ewigkeit der Welt. Das war schon der ›Irrtum des Aristoteles‹ gewesen;
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Die Einzigkeit des möglichen Intellekts für alle Menschen schließe individuelle Unsterblichkeit der Seele aus;
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Der Anspruch der Philosophie, notwendiges Wissen zu sein gegenüber den immer nur wahrscheinlichen Erzählungen der Theologen, deren plausible Reden ausreichten zur Erziehung des Volkes. Insofern seien sie ethisch-politisch unentbehrlich.
Albert von Köln sah in den Schriften des Averroes eine Fülle von Einsichten; er war weit davon entfernt, ihn auf die drei genannten Irrlehren festzulegen, ohne diese zu teilen. Er erklärte, er stimme mit Averroes im wesentlichen überein. Das bezog sich zunächst auf Alberts Arbeit an Aristoteles-Kommentaren; es schloß nicht aus, daß Albert in theologischen Texten einige Mysterien des Christentums – so die neue Lehre von der Substanzverwandlung beim Abendmahl – vor philosophischen Zugriffen verteidigte. Die Arbeit an Aristoteles–Averroes hinderte ihn nicht, sich dem Weltsystem des Avicenna und des Liber de causis zu nähern, die das durch Zwischeninstanzen vermittelte Ausströmen der göttlichen Einheit in die Vielheit der Welt beschrieben. Dies war wiederum anschlußfähig an die neuplatonische Tradition, die Boethius und in anderer Form Dionysius Areopagita lehrten.
Albert hat lange gelebt, und es ist nicht einfach, seine vielfältigen theoretischen Ansätze einheitlich darzustellen. Allerdings trifft es nicht zu, daß er sich beim Kommentieren den Ansichten des jeweiligen Autors angeschlossen habe, ohne sein eigenes Urteil abzugeben; er unterbrach vielmehr häufig die Textarbeit, um seine persönliche Wertung zu begründen. Noch wichtiger: Albert trieb seine Studien zu Aristoteles, Avicenna und Averroes nicht in der Absicht, dieses neue griechisch-arabische Wissen in eine Synthese des christlichen Denkens einzufügen; er machte vielmehr anhand dieser Texte klar, daß die Christen noch keine befriedigende Theorie hatten, selbst nicht auf Gebieten, von denen sie meinen mochten, Augustin und die lateinischen Kirchenväter hätten sie hinreichend bearbeitet. Das galt für das Konzept der Seele (anima) und des Intellekts, ebenso für die Entstehung der Ordnung des Universums und die Theorie der menschlichen Glückseligkeit. Es galt für viele Einzelfragen der Ethik, der Seelentheorie und erst recht der Naturkunde. Albert machte dem Westen klar, daß er intellektuell unterlegen war. Dies tat er nicht nur in einzelnen schroffen Aussprüchen, sondern durch jahrzehntelange Erklärung der inzwischen übersetzten griechisch-arabischen Texte. Daher hatte er großen Erfolg, auch wenn er sich bitter zu beklagen hatte über die philosophiefeindliche Rohheit seiner Ordensbrüder. Die umfassende Rezeptionsbewegung, die er nicht allein bewirkt hat, war nicht mehr zurückzudrängen; ab etwa 1250 bestand das Studium der Philosophie in der Auseinandersetzung mit Aristoteles, Avicenna, dem Liber de causis und Averroes. Davon macht Thomas von Aquino keine Ausnahme, wie sein Sentenzenkommentar beweist. Denn es war offensichtlich: die augustinische, überhaupt die lateinische Tradition war an vielen Lebensfragen vorbeigegangen. Petrus Lombardus hatte die patristischen Texte zusammengefaßt, ohne auf Philosophie, Medizin und Naturforschung auch nur einen Blick zu verschwenden. Diese Enge, mit der man vor 1150 leben konnte, lag 1250 vor aller Augen; Wellen der Neuorientierung durch Rezeption und Assimilation setzten ein, die sich keineswegs auf Albert beschränkten.
Das intellektuelle Gesamtklima änderte sich. Die Sprache der Theoretiker schichtete zwischen 1150 und 1300 Themen und Termini, Beweisverfahren und Quellen um. Die Kirche zögerte; sie verbot zuerst das Studium der Metaphysik und der naturkundlichen Bücher des Aristoteles und der Kommentare. Die logischen Schriften waren weiterhin erlaubt, auch die ethischen, aber Metaphysik und Naturforschung sollten an der kirchlich subventionierten und kontrollierten Universität keinen Platz finden. Das befahl der zuständige Erzbischof im Jahr 1210; der päpstliche Legat Robert, der Vertreter Innozenz’ III., wiederholte 1215 diese Vorschrift.[911] Albert hatte damals noch gar keinen Einfluß, aber die Überlegenheit, ja Unentbehrlichkeit des griechisch-arabischen Wissens war erkannt. Der Papst warnte die Theologen von Paris, sich den weltlichen Wissenschaften zu sehr zuzuwenden; er tadelte ihre Versuche, den Glauben zu sehr mit Vernunftargumenten stützen zu wollen; dadurch würden sie ihn überflüssig machen.[912] Papst Gregor IX. schrieb am 27. Februar 1230 den Pariser Theologen, sie sollten sich nicht als Philosophen gebärden. Den artes-Lehrern befahl er, worüber sie Vorlesungen halten sollten; die neuen naturkundlichen Bücher sollten sie nicht benutzen, bis diese von jedem Verdacht der Irrlehre gereinigt seien.[913] Die Kirche forderte von den Professoren einen Eid, bei der rechten Lehre zu bleiben; unwürdige artes-Lehrer seien zu entfernen. Aber sie begann ihren Rückzug, indem sie eine Kommission einsetzte, die das Häretische dieser Bücher ausmerzen sollte.[914] Wir hören nichts vom Ergebnis dieser Überprüfung, aber die neue Wissenschaft war nicht mehr aufzuhalten. Im März 1255 schrieb das Statut der Universität vor, die Schriften des Aristoteles insgesamt zu behandeln.[915] Der Siegeszug setzte sich fort durch die neue Studienordnung der Dominikaner von 1259, an der Albert und Thomas beteiligt waren.
7.
Die Linie Bonaventuras. Franziskaner
Der Widerstand gegen die Neuerung hörte nicht auf, nicht bei den Dominikanern, noch weniger bei den Franziskanern. Anfangs schloß deren Armutsidee den Besitz von Büchern aus; Pergamentbände waren teuer. In der Anfangsphase standen sie dem akademischen Betrieb kritisch gegenüber. Diese Ablehnung ließ sich nicht halten; Alexander von Hales und Bonaventura organisierten das Studium der Franziskaner. Auch sie konnten die aristotelische Philosophie nicht völlig ausschließen. Niemand kam mehr ohne deren Texte und Terminologie aus. Aber sie sahen sie kritisch, besonders nachdem gegen 1265 die Kritik am ›Averroismus‹ immer lauter wurde, was zu den Verurteilungen von 1270 und 1277 führte. Bonaventura, der organisatorische und intellektuelle Führer der Franziskaner, ist 1274 gestorben. Im Jahr davor, 1273, hat er in einer Reihe von Universitätspredigten, Collationes in Hexaemeron, scharfe Kritik am Aristotelismus geübt. Er verderbe das Verständnis des Christlichen. Er sei nur in untergeordneter Funktion für den Christen verwendbar. Die Philosophie sei in den Gehorsam des Glaubens zu zwingen, sonst sei sie gefährlich und führe zum Hochmut. Bonaventuras Reden schleuderten Brandsätze gegen die Philosophie und enthielten doch tiefsinnige Kritiken an den Mängeln der peripatetischen Philosophen. Franziskanerdenker haben sie zu originellen Positionen weitergeführt; Nikolaus von Kues hat sie systematisch entwickelt. Gerade ihr Widerspruch zur Philosophie war, intelligent gemacht, philosophisch und naturwissenschaftlich fruchtbar. Die Franziskanerschule hat durch ihre größere Distanz die Aristoteliker herausgefordert, die eine stärkere Tendenz zu schulmäßiger Abschließung und dogmatischer Erstarrung zeigten. Ihr bekanntestes Opfer wurde Galilei. Auch Descartes und Kant hatten noch mit ihnen zu kämpfen. Bonaventura gehört in die Geschichte der Philosophie wegen seiner Einsichten in die Grenzen der peripatetischen Vernunft und durch seine Kunst, ein einheitliches Konstrukt christlichen Denkens vorzulegen, das die aristotelischen Elemente nur in strikter Unterordnung zuließ. Bonaventuras Werk tritt einheitlicher auf als die zerklüfteten und manchmal mangelhaft koordinierten Schriften Alberts. Sie dienten auch der Disziplinierung der von einer ›geistigen‹ und armen Kirche träumenden Franziskanerchaoten, die einen dritten, unautoritären Abschnitt der Geschichte des Christentums erwarteten, ein Zeitalter des freien, des heiligen Geistes.
Dem stand die machtpolitische Etablierung der Kirche entgegen, seit dem endenden 11. Jahrhundert von mächtigen Päpsten betrieben, von Gregor VII., Innozenz III. und seinen Nachfolgern bis Bonifaz VIII. († 1303). Diese Kirche wollte Weltherrschaft, und das in einer Zeit, in der sich das Selbstbewußtsein der philosophischen Vernunft und der politischen Sphäre schnell parallel entwickelte. Das ergab Konflikte, und sie gaben den Schriften des Abtes Joachim von Fiore († 1204) und ihrer Botschaft von einem ›Dritten Reich‹ der Freiheit und des Friedens in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts hohe Aktualität. Gegen sie kämpfte Bonaventura an.
Seit den achtziger Jahren des 13. Jahrhunderts legten die religiösen Orden sich Hausphilosophien zu und verpflichteten bei schweren Strafen ihre Professoren auf diese. Viele Franziskaner legten sich auf die These vom Vorrang der Liebe und des Willens vor der Vernunft fest; viele (nicht alle!) Dominikaner bezogen die entgegengesetzte, die intellektualistische Position, behaupteten also den Vorrang des Intellekts vor dem Willen. Damit trat ein unfruchtbarer Schulstreit in die Welt. Denn beide Parteien mußten zugestehen, daß auch die Seelenkraft, die sie für zweitrangig erklärten, zum Wesen der geistigen Seele gehöre. Wer um 1300 studierte oder lehrte, wurde auf diese Frage gestoßen, die nicht selten bloßer Wortstreit war. Sowohl Meister Eckhart wie Dante haben sich mit ihr befaßt. Beide haben sie im Sinne der dominikanischen Ordensdoktrin entschieden und ihr neue Seiten abgewonnen.
8.
Der historische Kompromiß: Thomas von Aquino
Die kompakteste, brauchbarste aller Ordensautoritäten wurde Thomas von Aquino († 1274), besonders nachdem Johannes XXII. ihn 1323 heiliggesprochen hatte. Er sollte Richtschnur sein nicht nur für Dominikaner, sondern für die Gesamtkirche. Er wurde monumentalisiert. Er wurde ein Teil der Institution. Für die historische Erkenntnis ist es daher wichtig, sein Werk als die Arbeit eines individuellen Autors zu lesen, der sich entwickelt und der in zeitlich abfolgenden Texten verschiedene Absichten verfolgt. Zum Beispiel hat er die Summe der Theologie ausdrücklich als Universitätstext für Anfänger konzipiert, während er in den Quaestiones disputatae argumentativ weiter ausholt.
Sein Ziel war – anders als das Alberts, ähnlich wie das Bonaventuras –, einen einheitlichen Gesamtentwurf der christlichen Wissenschaft zu schaffen, aber dabei der natürlichen Vernunft und damit der aristotelischen Philosophie einen größeren Freiraum zu belassen. Thomas hat einmal seine Absicht mit großer Klarheit kurz zusammengefaßt. Er schrieb:
Da das Ziel der Philosophie unterhalb des Ziels der Theologie liegt und auf dieses hingeordnet ist, muß die Theologie über alle anderen Wissenschaften herrschen und das verwenden, was sie geben.[916]
Der Theologe soll die Ergebnisse aller anderen Wissenschaften für seinen höheren Zweck nutzen, dazu muß er sich in sie einarbeiten; er kann ihnen nicht ihre Ergebnisse vorschreiben. Doch soll die Theologie allen Wissenschaften Befehle erteilen, imperare. Sie kontrolliert sie und disponiert über sie. Ganz ähnlich dachten die genannten Päpste sich das Verhältnis zu den europäischen Königreichen: Sie gestatteten begrenzte Autonomie. Wo die Grenzen lagen, das bestimmten sie im Blick auf ihren höheren Zweck. Sie förderten die Wissenschaften, sofern sie sich der theologisch korrigierten Vernunft unterstellten. Thomas sah ein, daß er sich sorgfältig und bis in Texteinzelheiten hinein mit Aristoteles, Avicenna und Averroes auseinandersetzen mußte; daher schrieb er wie Albert Kommentare zu Aristoteles. Dabei suchte er Aristoteles und Averroes zu trennen, Aristoteles für die christliche Weltsicht zu gewinnen und Averroes als Verunstalter des Aristotelismus zu widerlegen. Wenigstens war dies seine späte Position. Vor 1265, als der große Streit noch nicht entflammt war, schrieb er über Averroes milder. Im Sentenzenkommentar gab er informative Berichte über dessen Lehre; er wußte, daß er in den Fragen der Welterschaffung, also der Ewigkeit der Kosmos, und in den Konzepten von Seele und Intellekt bei Aristoteles– Averroes Rat holen mußte. Für jemanden, der nicht allzu genau hinsah, schien es passagenweise, als sei Thomas ein Anhänger des Averroes. Aber Thomas versuchte, Aristoteles so viel abzugewinnen, als ihm für ein zusammenhängendes christliches Denken verwertbar schien.
Bei Aristoteles und Averroes hatte die Substanz, also das einzelne Ding, große ontologische Selbständigkeit; Thomas griff das auf, machte aber eben diese Substanz vom ständigen Seinszufluß der ersten Ursache abhängig. Die Substanz galt ihm nicht mehr als das selbständige Seiende, sondern als das beständig Sein Empfangende. Das war nicht mehr Aristoteles–Avicenna–Averroes, sondern eine thomistische Sonderleistung, die unter dem Namen der ›Realdistinktion‹ (zwischen der Substanz und ihrem Sein) in die Geschichte eingegangen ist. Diese theologisierende Umformung der Metaphysik des Aristoteles zog den Widerspruch sorgfältiger Aristoteles-Leser geradezu herbei. Nach dem Tod des Thomas begannen daher heftige Debatten. Aristoteles, Augustin und Averroes wurden jetzt genauer gelesen als zuvor, und manchem christlichen Lehrer kam es nun vor, als sei nicht Averroes der Verfälscher des Aristoteles, sondern Thomas der Verfälscher des Averroes. Ausführliche Debatten über das Sein und das Wesen, über Substanz und Dasein, Substanz und Akzidens waren die Folge, an denen sich besonders Aegidius Romanus, Heinrich von Gent und Gottfried von Fontaines beteiligten.[917] In Auseinandersetzung mit ihnen baute Dietrich von Freiberg († gegen 1320), der Lehrer und Freund Meister Eckharts († 1328), seine Philosophie auf.
Dabei ging es um die Grundbegriffe der aristotelischen Metaphysik. Noch heftiger umstritten war die Position des Thomas zum aristotelischen Konzept von ›Seele‹ und Geist (›Intellekt‹). Für Aristoteles – aber auch für andere antike Philosophen – war die Geistseele oder der Intellekt das Haben des Allgemeinen. Erkennend, sagten sie, werde er selbst das Allgemeine. Das Wissen war die Erfassung des Notwendigen. Das Einzelne galt als das sinnlich Wahrnehmbare und Zufällige. Individuell war der Geist höchstens durch Verbindung zu einem Körper, aber die war ihm zufällig, nicht notwendig und mochte im Zusammenbruch des Organismus, also im Tod, zugrunde gehen. Dies war, nachdem neoplatonisierende christliche Denker der Antike den platonischen Gedanken der Seelenunsterblichkeit zu einer Wesenskomponente des christlichen Denkens gemacht hatten, ein Skandal für christliche Theologen; sie waren an der Belangbarkeit der Einzelseele nach dem Tod, an ihrem Weiterleben zwecks Strafe und Belohnung interessiert. Thomas interpretierte Aristoteles so lange, bis individuelle Unsterblichkeit herauskam; damit trat er in scharfen Gegensatz zu Averroes und den ›Averroisten‹. Auch Bonaventura hatte sich, wie gesagt, aristotelischer Grundbegriffe bedient, aber die Mängel des Aristotelismus grell bezeichnet. Thomas zog Aristoteles auf die Seite seiner, wie er selbst sagte, theologisch befehligten Philosophie und baute ihn entsprechend um. Seine Lehre von der Geistseele und von der Seligkeit des Menschen waren mit aristotelischen Materialien gebaut, aber von seiner Theologie überformt. In der Frage der Ewigkeit der Welt begnügte er sich damit, daß sie nicht beweisbar sei, während Albert gelehrt hatte, in dieser Frage müßten Naturphilosophen anders urteilen als die Theologen. Die artes-Lehrer waren berufsmäßig Aristoteles-Erklärer geworden; bei ihnen regte sich Widerstand gegen die Umdeutung durch Thomas. Sie brauchten nur der Maxime Alberts zu folgen und sich auf den Standpunkt der unkorrigierten Philosophie des Aristoteles zu stellen. Jetzt waren sie der Häresie verdächtig.
9.
Philosoph von Beruf: Siger von Brabant
Der berühmteste Fall der Ausgeschlossenen war Siger von Brabant (ermordet 1286 in Orvieto).[918] Er war Albert-Schüler wie Thomas auch. Nur wo Thomas sich bemühte, Aristoteles an die theologische Generallinie anzunähern, entschied Siger sich für Trennung von Theologie und Philosophie. Nicht, als bestritte er die Theologie; er beschränkte sich nur auf seine berufliche Aufgabe der Aristoteles-Erklärung. Er verteidigte wie Albert die methodische Selbständigkeit der Vernunft. Wer die Aufgabe des christlichen Denkens darin sah, aus Vernunft und Glaube ein korrektes theologisches Gesamtsystem zu bauen, mußte dies verwerfen – als unerlaubte Abweichung und als eitle Selbstermächtigung des Denkens gegenüber der Tradition. Daher die Anklagen gegen Siger, deren Wortführer Thomas war und die zu seiner Vertreibung aus Paris geführt haben. Dante hat ihn aus dem Mund des heiligen Thomas rehabilitiert.
10.
Diskussionspunkte
Die einzelnen Streitpunkte ergaben sich aus der Vorgeschichte: Erstens: Konnte das Universum als zufällig geworden gedacht werden, oder mußte man sagen, es sei immer gewesen? Welche ontologische Selbständigkeit kam der Substanz zu angesichts der Allwirksamkeit des göttlichen Weltgründers? Wie waren Substanz und Dasein, Substanz und Akzidens korrekt zu definieren? Zweitens: Kann man als Aristoteliker die individuelle Seelenunsterblichkeit beweisen? Wenn nicht, geht dann jede ethische Verbindlichkeit verloren? Und drittens: War es innerhalb einer christlichen Zivilisation erlaubt, einen methodisch selbständigen Bezirk der Vernunft abzugrenzen, der sich auf Aristoteles und seine Kommentatoren gründete?
Darüber stritten die vier Konzeptionen, die Dante vorfand, als er um 1290 Philosophie studierte. Alle blickten dabei auf Aristoteles und seinen Kommentator.
Albert war der überragende Lehrer, der viele Texte und Denkmöglichkeiten erschlossen hatte, den kohärenten Peripatetismus Sigers, den theologisch kontrollierten des Thomas und dessen weitgehende Ablehnung mit partiellen Zugeständnissen durch Bonaventura. Albert hatte bei der Aristoteles-Erklärung theologische Interventionen abgewiesen. In anderen Texten wollte er die theologischen Mysterien vor philosophischen Eingriffen schützen. Das war insgesamt ein zweigleisiges, nicht-harmonistisches ›System‹. Wegen seiner vielfachen Anknüpfungsmöglichkeiten war es historisch fruchtbar.
Bonaventura hatte aristotelische Termini an untergeordneter Systemstelle akzeptiert, betonte aber, besonders in seiner Endphase um 1273, die Gefahren, die das griechisch-arabische Wissen für die Christen mit sich bringe.
Thomas von Aquino brachte diese neue Denkwelt in ein umfassendes christliches Schema. Es umfaßte nicht nur die Bibel und die bei Petrus Lombardus gesammelten Sentenzen, sondern verband auch Positionen der peripatetischen Tradition mit der neuplatonisch-christlichen Philosophie mit ihrem Muster des Ausgangs der Geschöpfe von Gott und ihrer Rückkehr zu ihm. Er anerkannte die Selbständigkeit der Philosophie, aber nur bis zum theologisch fixierten Punkt; er unterwarf Vernunft, Philosophie und weltliche politische Macht der von seiner Theologie beratenen päpstlichen Herrschaft. Sie mußten nach deren Kriterien nützlich sein. Aber die Philosophen hatten inzwischen ihre eigenen Kriterien entwickelt: Widerspruchsfreiheit im Anschluß an die logischen Schriften des Aristoteles hatten Anselm und Abaelard auch von christlichen Lehren gefordert; die Schule von Chartres und die Rezeption der griechisch-arabischen Philosophie hatten die Konsistenz der Naturdinge entdeckt; einige Denker hatten ausgewählte Motive Augustins und fast alle Philosopheme des Boethius weiterentwickelt. Daher waren Konflikte mit dem päpstlichen Weltherrschaftsanspruch unvermeidlich, sei’s der päpstlichen Wissenschaftspolitik, sei’s ihren realpolitischen Eingriffen. Dies hat Leben und Denken Dantes bestimmt.
11.
Dante gegen päpstliche Weltherrschaft in Politik und Wissenschaft
Man darf sich das intellektuelle Leben zwischen 800 und 1300 nicht so vorstellen, als hätten einsame Genies in isolierter Stellung mit den Weltproblemen gerungen. Sie lebten, lasen und dachten in ihrem sozialen Kontext. Zunächst am Hof von Kaiser Karl und seinem westfränkischen Nachfolger, dann in einem der von Karl disziplinierten Benediktinerklöster, später in einer Kathedralschule, zuletzt an der Universität. Allein schon, um eine noch so kleine Bibliothek zur Verfügung zu haben, war eine soziale Organisation gefordert. Aber auch die innere Motivation der intellektuellen Arbeit hing oft, nicht immer, mit dem Zweck dieser Institutionen zusammen. Dies alles bedeutete Themenvorgaben, Diskussionszusammenhänge und – Kontrolle, auch Zensur. Es gab früh Ketzerverdächtigungen, so schon im 9. Jahrhundert gegen Gottschalk und Johannes Eriugena, aber zwischen 800 und 1050 hatten solche Konflikte lokalen Charakter. Es gab Debatten innerhalb desselben Klosters wie in Corbie; es gab Verurteilungen und Verhaftungen wie im Fall Gottschalks, aber eine große, überregionale Auseinandersetzung entbrannte erst im Streit um Berengar von Tours († 1088) und gleich darauf im Investiturstreit.
In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts verschob sich das Verhältnis von Kultur und Politik, von Kirche und Bildung. Der Papst in Rom trat zunehmend als Glaubensrichter auf. Er entzog den Ortsbischöfen und Äbten mehr und mehr die Kontrolle über Bücher und Lehren und schuf sich schließlich mit der Universität Paris ein eigenes Organ der Denkarbeit und der Ausbildung.
Diese Entwicklung hatte viele Ursachen; grob könnte man sagen: Jetzt übernahm das erstarkte Papsttum die kulturelle, intellektuelle und politische Führung; der Römische Kaiser, mächtiger noch als gegen Ende des Mittelalters, geriet seit etwa 1075 in Konflikt mit der auf ihre ›Freiheit‹ pochenden Papstkirche. Vor 1050 hatten deutsche Kaiser Päpste, Bischöfe und Äbte eingesetzt. Das war mit dem gestiegenen Unabhängigkeitsbewußtsein der geistlichen Herren schwer vereinbar. Rom arbeitete daran, den Klerus nach den Idealen des Mönchtums umzuformen. Es forcierte die Überlegenheit alles Geistlichen über das Weltliche. Vor allem stießen die deutschen Könige auf den Machtanspruch der Päpste, die aus den deutschen Bischöfen päpstliche Kirchenbeamte machen wollten. Sie waren aber seit Otto I. Reichsfürsten und hatten ihre politische Herrschaft gegen die Zentralgewalt zunehmend ausgebaut.
Der Beginn dieser Entwicklung und die ersten großen Konflikte sind mit dem Namen von Papst Gregor VII. (1073–1085) verbunden. Zunächst schien er nicht mehr zu verlangen, als daß die Kirche ihre Sachen selbst regeln kann. Aber dies war unter den seit Karl dem Großen bestehenden Bedingungen schon die Revolution. Er wollte die Bischöfe selbst ernennen oder absetzen, er mußte den Einfluß der Großen, vor allem den des Römischen Kaisers, zurückdrängen. Er zentralisierte die kirchliche Verwaltung. Er forderte die ›Freiheit der Kirche‹. Er erließ neue Bestimmungen zum Beispiel im Ehe- und Erbrecht und machte sich damit zum wahren europäischen Gesetzgeber. Wie er sein Amt auffaßte, faßte er in einem kurze Programmtext zusammen, dem sog. Dictatus papae. Er beanspruchte, der Papst sei der einzige Bischof für die gesamte Welt; alle Fürsten hätten seine Füße zu küssen. Alle größeren Entscheidungen in allen Bistümern habe er zu fällen. Er hat alles zu beurteilen, ihn hat niemand zu beurteilen. Er hat das Recht, Kaiser abzusetzen, nicht nur Bischöfe. Ein Römischer Bischof kann nicht irren; durch die Verdienste des heiligen Petrus wird er unfehlbar heilig. Auch die kanonischen Bücher, also die Heilige Schrift und die Kirchenväter, haben nur Autorität kraft seiner Genehmigung.[919]
Dieses Programm war undurchführbar; es widersprach den Machtverhältnissen der Zeit um 1075. Und doch war es außerordentlich folgenreich: Der Papst faßte den Gedanken, er sei als Repräsentant Gottes der Herr der Welt. Wenn er Kaiser absetzen konnte, wenn alle Fürsten seine Füße zu küssen hatten, war klar, wer ihr Herr war. Er selbst war die oberste Instanz; niemand durfte ihn richten. Er hatte zu bestimmen, wer herrschen durfte; er setzte fest, welche Bücher Autorität hatten. Sein Herrschaftsanspruch war universal; er galt politisch wie kulturell. Er griff daher auch in den Streit um Berengar ein und suchte ihn endgültig zu entscheiden. Er versuchte, sein Recht als Weltregent auszuüben, indem er befahl, niemand dürfe dem 1076 abgesetzten König Heinrich dienen, ut nullus sicut regi serviat.[920] Im März 1081 erklärte Gregor noch einmal seine Konzeption: Wenn der Papst die Macht hat, den Himmel zu öffnen und zu verschließen, dann hat er erst recht die Macht, über die Erde zu urteilen. Es sei doch gar kein Zweifel, daß die Priester Christi die Väter und Magister der Könige und Fürsten seien. Der Papst ist verantwortlich für die Wahrung der Glaubensüberlieferung und die rechte Lehre, für die eruditio sacrae religionis.[921] Für die Folgezeit entscheidend wurde dieser Doppelanspruch des Papstes; er sollte herrschen über die weltlichen Fürsten und über die intellektuelle Welt. Die Welt werde regiert von der heiligen Autorität der Bischöfe und von der königlichen Macht, aber die geistliche Macht stehe um so höher, als sie auch über Könige vor Gott Rechenschaft ablegen muß. Sie hat zu beurteilen, wer würdig ist, als König zu regieren. Innozenz III. präzisierte seine Rechtsauffassung in dem Decretale Venerabilem fratrem vom März 1202: Der Papst bestreite nicht das Recht der Fürsten, den Kaiser zu wählen. Aber ihm komme es zu, die erwählte Person zu bewerten. Und wenn die Wahl zwiespältig ausfalle, falle die Entscheidung an ihn. Er könne auch den Kandidaten der Minderheit wählen.[922] Dem Papst gehöre die weltliche Herrschaft nicht nur im Kirchenstaat, sondern auch in anderen Regionen.[923] Überhaupt verhalte sich die weltliche zur geistlichen Macht wie der Mond zur Sonne, die allein das Licht gibt.[924] Innozenz III. bezog die Worte Gottes an den Propheten auf den Papst, dem Gott sage: Ecce, constitui te super gentes et regna, ut evellas et destruas, et dissipes, et aedifices et plantes. Sieh, ich habe dich gesetzt über die Völker und die Königreiche, damit du ausreißt, zerstörst und zersprengst, und damit du aufbaust und pflanzt.[925] Das war eine radikale Vollmacht, von Gott selbst dem Papst verliehen. Papst Bonifaz VIII. gab 1303 dem Weltherrschaftskonzept der Päpste den bekannten extremsten Ausdruck in seiner Bulle Unam sanctam.
Den Päpsten standen mehrere historische Legenden zur Verfügung, um den Anspruch auf politische Oberherrschaft zu begründen: Da war die Erzählung von der Konstantinischen Schenkung, als habe Konstantin dem Papst die gesamte Herrschaft im Westen geschenkt. Da war die Legende, es sei der Papst gewesen, der die deutschen Könige mit der Kaiserwürde ausgestattet habe und die er ihnen also auch wieder nehmen könnte, so Papst Bonifaz VIII.[926] In der Hand des Papstes waren demnach beide Schwerter, das geistliche und das weltliche.
Das Programm war unausführbar, es widersprach der älteren Tradition sowohl der Kirche wie des Reichs. Und in derselben Zeit, in der es immer konsequenter ausgearbeitet wurde, wuchs das Selbstbewußtsein auch der weltlichen Herrschaft. Mit der Rezeption des Aristoteles verbreitete sich die Einsicht, der Mensch sei seiner Natur nach, also mit Notwendigkeit ein politisches Wesen und die politische Herrschaft habe ihre Legitimation nicht durch religiöse Zeremonien, sondern durch die Natur des Menschen. Das päpstliche Herrschaftskonzept lief aber darauf hinaus, die Wahl eines deutschen Königs bestimmen zu können wie die eines Bischofs. Der Papst konnte vorschreiben, wen die deutschen Fürsten zu wählen hatten. Das stieß auf Widerstand, aber es hatte damals auch eine gewisse Plausibilität: Wenn alles Geistliche höher steht als das Weltliche, soll es über jenes herrschen. Wenn der Papst nicht nur Vertreter des Apostels Petrus, sondern Christi, also Gottes, war, konnte er in aller Demut sich von allen Herrschern die Füße küssen lassen. Seine Nachfolger im beginnenden 13. Jahrhundert, Honorius III. (1216–1227) und Gregor IX. (1227–1241) bestimmten, wie gesagt, welche Bücher in Paris verboten waren. Andere große Päpste wie Innozenz III. (1198–1216), Bonifaz VIII. (1294–1303) und Johannes XXII. (1316–1334) brachten dieses Projekt an den Rand der Realisierbarkeit und damit zum endgültigen Scheitern. Zuvor war es der Grund für eine Serie von Konflikten mit wechselndem Ausgang. In den Diskussionen und Traktaten über die plenitudo potestatis, also über den weltlichen Herrschaftsanspruch der Päpste, fand es literarischen Ausdruck. Für die Kontrolle der intellektuellen Arbeit behielt es Kraft bis über die Verbrennung von Hus hinaus; die Vielzahl aufsässiger und einander widersprechender Theorien konnte es freilich nicht verhindern. Der Vernunftanspruch vieler Städter und die intellektuelle Produktion hatten bereits eine Eigendynamik, die nicht mehr vollständig zu beherrschen war. Daher die Bekämpfung der Ketzer, die im 13. Jahrhundert dabei waren, ganze Landstriche aus der Oberherrschaft des Papstes herauszubrechen, was zu den grausamen Kämpfen gegen die Albigenser führte (1209–1229).
Ich fasse zusammen: Dante stellte sich als Dichter und Politiktheoretiker gegen drei Haupttendenzen des 13. Jahrhunderts. Er stemmte sich gegen alle drei zugleich, denn sie hatten einen gemeinsamen Ursprung: die Politik der Päpste.
Dante verurteilte die Rebellion der reichen italienischen Städte gegen den Kaiser, die oft vom Papst gestützt und gedrängt wurden, um den Kirchenstaat zu schützen und abzurunden;
er wandte sich gegen die offiziellen Ansprüche auf allumfassende Macht des Papstes, die plena potestas, weil sie dem Gemeinwesen die naturentsprungene Eigenwertigkeit nehmen;
er weigerte sich, Wissen und Gemeinwesen dem Befehl des Papstes zu unterstellen. Er verteidigte das unabdingbare Eigenrecht natürlicher Werte und Institutionen. Unter Nutzung thomistischer Motive sah er sie als Folge der Erschaffung. Als Dichter, Philosoph und politischer Denker antwortete er schroff und klar auf diese geschichtlichen Herausforderungen.