III.
Im Hungerturm
1.
Ganz unten
Am tiefsten Punkt von Dantes Hölle brennt kein Feuer. Es herrscht eisige Kälte. Dort leiden die schlimmsten Verbrecher, ganz nahe bei Satan. Judas und Brutus haben ihre Wohltäter verraten. Unmittelbar vor ihnen erleidet Ugolino seine Strafe. Er hat seine politischen Freunde verraten. Er hat mehrfach die Partei gewechselt. Er hat Verträge gebrochen. Ihm wurde vorgeworfen, er habe als Herr der Stadt Pisa pisanische Festungen an die Koalition der Feinde – Genua, Lucca, Florenz – ausgeliefert.
Dantes Ugolino-Darstellung verteilt sich auf das Ende des zweiunddreißigsten und den Beginn des dreiunddreißigsten, also des vorletzten Höllengesangs.
Ugolino ist ein Ausbund an Verworfenheit. Aber der Erzbischof ist nicht besser, und an ihnen kann der Leser sehen, wie Dante denkt und dichtet. Seine Kunst webt keine Jenseitslegende. Und sie ist kein Strafregister in Versen. Ugolino wird nicht entschuldigt. Er wird nicht heroisiert als großer Verbrecher mit edlem Vaterherz. Er ist Verräter. Er zeigt sich gegenüber seinem Feind Ruggieri, mit dem ihn der Frost für immer zusammengebunden hat, von unmenschlicher Roheit. Aber Dante zeichnet ihn als Verratenen und Vater. Sein Verbrechen tilgt an ihm nicht jede göttlich-menschliche Qualität. Er erzeugt und erträgt die Eiseskälte der Nicht-Kommunikation. Er nagt auf ewig an seinem Feind, der völlig stumm bleibt; er, der Laie, an einem hohen Kleriker. Sein Verhalten zeigt tierischen Haß, mostri per sì bestial segno odio (32, 133). Aber er lebt in einem unzerstörten Familienverband. Der sonst so Grausame teilt, selbst den Hungertod vor Augen, mitfühlend das Schicksal seiner vier Kinder. Er leidet mehr noch als unter dem Hunger daran, daß er den Kindern nicht helfen kann. Das zeigt die Erzählung vom Hungertod des Grafen Ugolino von Pisa (Inf. 32,124–33,90, Übersetzung S. 134–137):
Die Dichter sind jetzt in der tiefsten Hölle, genauer im 9. Kreis. Sie sehen den Grafen Ugolino, der mit Haß und Heißhunger seine Zähne in den Schädel des Erzbischofs von Pisa, Ruggieri, schlägt. Ugolino, der Verräter, erzählt, wie ihn der Erzbischof verraten und mit seinen Kindern im Hungerturm hat umkommen lassen.
Ugolino ist nach Francesca und Odysseus die dritte große Inferno-Persönlichkeit, die in Europa nicht mehr vergessen werden konnte. Sein Haß und die Höllenszene zeigen das Leben auf der Erde, ein Leben, in dem einer den anderen auffrißt. Als einer der bösesten Menschen befindet Ugolino sich auf dem vorletzten Höllenboden. Und doch nehmen wir an ihm Anteil.
Der canto des Ugolino hat eine große Rezeptions- und Auslegungsgeschichte. Er kommt bei Chaucer vor; der deutsche Sturm-und-Drang-Dichter Gerstenberg ließ ihn 1768 mit seinem Drama Ugolino wiederaufleben und brachte Dante in die Nähe der deutschen Shakespeare-Begeisterung. Wie hat Dante das erreicht?
Er zeigt Ugolino nicht als Verräter, der mehrfach die Partei gewechselt hat. Er nennt ihn gleich am Anfang Sünder (33, 2). Ugolino ist nicht gut, nicht wahrheitsliebend; er will von seinem Geschick nur reden, damit dem Erzbischof, der ihn verraten hat, daraus Schande erwächst (33, 7–9). Der Erzbischof hatte Versöhnung geheuchelt und Ugolino beim ersten Zusammentreffen verhaften lassen. Ugolino hört aus den Worten des Besuchers den florentiner Dialekt heraus und schafft daraus die erste Möglichkeit der Anknüpfung: Dante werde wohl vom Schicksal des Grafen gehört haben, nur die Details der Todesart könne er nicht wissen. Und dann macht er ihm verständlich, warum er sich am Erzbischof ewig rächen muß.
Der Verfasser der Commedia urteilt nicht, ob er die Rechtfertigung Ugolinos überzeugend findet. Er verdächtigt ihn auch nicht wie ein angesehener Dante-Forscher es tat, er wolle mit geheuchelter Teilnahme am Leiden seiner Kinder von seinen Untaten ablenken. Er läßt ihn eine Rede halten, die nicht philosophisch wie Francesca das Wesen der Liebe oder wie Ulisse den Wert des Wissenwollens darlegt, sondern die nur die Geschichte seines Todeskampfes erzählt; ihn dauert der Unglücksmann, der das Verhungern seiner Kinder und sein Sterben beschreibt. Er stellt die Kerkerszene und das Verhungern in epischer Objektivität einfach hin. Er empfindet das Grauen und die moralische Ungeheuerlichkeit der Rache des Grafen, insistiert aber nicht weiter auf deren moralischer Verwerflichkeit, sondern läßt Ugolino reden. Dessen Erzählung ist die längste Rede, die Dante einem Sünder in Dantes Hölle zugestanden hat.
Er stellt das Geschehen im Hungerturm in drei Abschnitten dar:
Die Dichter sehen zwei im Eis aneinandergefrorene Männer, von denen der eine mit Heißhunger seine Zähne in den kahlen Schädel des anderen schlägt. Um zu erfahren, um wen und um was es sich handelt, bietet Dante dem grausamen Täter an, seine Ehre in der Menschenwelt wiederherzustellen, wenn er ihm erklärt, warum er den Benagten so roh bestraft (32, 124–139).
Zu Beginn des 33. Gesangs sieht Dante den blutbeschmierten Mund des Sünders, der sein Kinn mit den Haaren seines Opfers abwischt. Der Täter stellt sich vor als Graf Ugolino, von dessen Kampf mit dem Erzbischof von Pisa er als Florentiner gewiß gehört habe. Nur wie er zu Tode gebracht worden sei, könne Dante nicht wissen. Dies schildert ihm Ugolino in 74 dramatischen Versen, an deren Ende er wieder wie mit starken Hundezähnen auf den Schädel des Erzbischofs einbeißt (33, 4–78).
Die Episode endet mit einer außerordentlich heftigen Anklage des Autors Dante gegen Pisa. Er wolle nicht den Verräter Ugolino rechtfertigen, aber Pisa habe vier unschuldige Kinder zu Tode gebracht und habe verdient, daß die Fluten des Arno es ertränken (79–90).
Ugolinos Erzählung beginnt mit der Angabe der Dauer der Gefangenschaft. Er hat durch ein schmales Mauerloch mehrmals die Wiederkehr des Mondes beobachtet; nach mehreren Monaten im Kerker sah er im Traum, wie der Erzbischof eine Schar böser Hunde gegen einen Wolf und seine Welpen hetzte, also gegen ihn. Dante erwartete Wahrheit von Träumen, besonders von Vorausahnungen der ersten Morgenstunde. Ugolino erwachte an diesem Morgen früh und hörte das Weinen seiner Kinder, die nach Brot schrien. Zu der Stunde, in der ihnen sonst das Essen gebracht wurde, hörte er, wie unten das Tor zum Turm zugenagelt wurde. Er erstarrte. Der kleine Anselmuccio achtet auf den Gesichtsausdruck seines Vaters und fragt besorgt: Was hast du? Che hai? (51) Der Gefühlszusammenhalt der Familie besteht noch. Der Vater muß sich Gewalt antun; er schweigt, nicht weil er gefühllos erstarrt wäre, sondern um das Leiden der Kinder nicht zu vergrößern (64). Er unterbricht die Kommunikation, um die Kinder zu schonen. Er blickt in die vier Gesichter, er sieht sein eignes Bild und den Widerschein seiner erschreckten Verzweiflung und nicht, wie ein Erklärer schreibt, den seiner Schuld in ihnen, und beißt sich vor Verzweiflung in beide Hände.
Der canto zeigt verschiedene Arten des Beißens: Sichbeißen aus Verzweifeln, Beißen, um satt zu werden, Beißen aus Rache. Die Kinder reagieren sofort auf den Gestus des Vaters; sie bieten ihm ihren Körper zur Speise an. In dieser Kältewelt des Hasses gibt es noch selbstlose Fürsorge füreinander. Die Familie hat die monatelange Kerkerhaft lebendig überstanden; Vater und Söhne beziehen sich aufeinander. Die Kinder sind bereit, sich für den Vater zu opfern. Das Thema des Kannibalismus klingt an; es wird gegen Ende verstärkt mit der Wendung, der Hunger habe, als die Kinder tot waren, mehr über ihn vermocht als der seelische Schmerz (75). Nun läßt sich der Verdacht auf Menschenfresserei nicht gänzlich von Ugolino fernhalten; schließlich sehen wir, wie er seinen Hunger mit Hirn und Nacken des Erzbischofs stillt. Aber der Satz, der Mangel an Nahrung (digiuno) sei zuletzt mächtiger gewesen als der Schmerz (75), bedeutet doch wohl, daß nach zwei Tagen der Trauer, des Schmerzes und des sinnlosen Rufens nach den Kindern der Mangel an Nahrung seinem Leben ein Ende gesetzt hat. Die krasse Schilderung der Not vertieft im Leser die Teilnahme am Schmerz des Vaters; sie zieht ihn in eine Familiensituation, die trotz des Leidens bis zuletzt intakte Gefühle kennt. Wir sehen, wie der erblindete Vater über die verhungerten Kinder torkelt. Dante behauptet nicht, er habe sich die letzten Tage seines Lebens vom Fleisch seiner Kinder ernährt, aber seine dunkle Ausdrucksweise läßt diese Frage aufkommen, und diese Zweifelsfrage verdüstert zusätzlich Ugolinos Sterben im Hungerturm.
Dante sagt nicht, er habe Mitleid mit Ugolino. Er hat zu viele Qualen gesehen. Die Struktur der Hölle ist so angelegt, daß der Bosheitsgrad nach unten hin steigt. Zutiefst kommt der Verrat, der kein Mitleid verdient. Aber Dante zeichnet Ugolino nicht als Verräter, sondern seine Not. Er ist ein verratener Verräter. Vor allem ist er Vater, und an ihm, dem Verbrecher, leuchtet die göttlich-menschliche Schönheit des Vaterseins auf. Der erste Grund der Welt ist auch am tiefsten Punkt der Hölle nicht zu verkennen. Der gute Vater verzweifelt, weil er seinen Kindern nichts zu essen geben kann; er verhungert nach seinen vier Kindern. Der Familiensinn ist das Letzte, was in Italien stirbt. Dante läßt uns teilnehmen am Schmerz Ugolinos, an seiner Vatersorge. Dessen Rachebedürfnis entsteht vor unseren Augen aus Ohnmacht und Wut. Dante entschuldigt es nicht; aber er findet es überflüssig, es zu verurteilen. Er moralisiert nicht, aber führt die Erzählung so, daß, wenn Ugolino zuletzt wieder wie am Anfang seine harten Zähne in den Schädel des Bischofs schlägt, der Leser diesen barbarischen Gestus nicht so monströs findet, wie er zunächst aussieht. Wir kennen jetzt seinen Ursprung. Dieser ist menschlich, auch im vertierten Verräter und Sünder.
Historiker haben festgestellt, daß die Kinder und Neffen, die mit Ugolino im Hungerturm umkamen, erwachsen gewesen sein müssen; Dante läßt sie kleine Kinder sein; so ziehen sie uns stärker hinein: in ihre Bitte um Brot und in die Not des Vaters, der ihnen nicht helfen kann. Den Leser ergreift ihr Mitgefühl mit dem hungergeplagten Vater. Als sie sehen, daß er sich vor Verzweiflung in die Hand beißt, bieten sie ihm ihr eigenes elendes Fleisch an, queste misere carni (63). Sie verstehen ihr Fleisch als ein Kleid, das der Vater ihnen gegeben hat und das sie zurückgeben können. Das ist übrigens nicht christlich motiviert, sondern stammt aus der Antike (Aen. 2, 215).
Dantes Phantasie erreicht ein Äußerstes: Ugolino nagt in alle Ewigkeit am kahlen Schädel des Erzbischofs, ohne daß uns erklärt werden muß, wie man an einem Schattenschädel nagen kann. Alles Allegorisieren hört hier auf. Wir sehen eine hochindividuelle Situation. Sie ist von allgemeiner Bedeutung, denn wir sehen in den Abgrund der friedlosen Welt, in der Verrat und Haß herrschen, aber nichts wird ›symbolisiert‹. Man braucht nur einmal zurückzublättern zum ersten canto: Dort: Wald, Berg, Sonnenstrahlen, wilde Tiere, Jagdhund. Alles mit höherer Bedeutung. Hier herrscht kalter Realismus in einer ethisch-politisch inspirierten Lektion über den Frieden als höchsten Wert. Dante zeichnet eine Situation, ein Familienschicksal. Die harten Regeln einer unmenschlichen Politik nehmen dieser kleinen Gruppe die Lebensmöglichkeiten, die sie von sich her noch hätte. Wir lernen, was es heißt, wenn auf der Erde kein Friede herrscht. Dann werden auch die kleinen familiären Zentren wechselseitiger Rücksichtnahme vernichtet. Diesen äußersten Verfall umreißt Dantes Diktion knapp und hart, in ›rauhen‹ Versen, mit genauen Zeitangaben der Tage des Verhungerns: der erste Tag und der nächste (65), der vierte Tag (67), der fünfte Tag und der sechste (72), die beiden letzten Tage (74).
Goethe bemerkt zum Stil der Episode:
»Die wenigen Terzinen, in welche Dante den Hungertod Ugolinos und seiner Kinder einschließt, gehören mit zu dem Höchsten, was die Dichtkunst hervorgebracht hat; denn eben diese Enge, dieser Lakonismus, dieses Verstummen bringt uns den Turm, den Hunger und die starre Verzweiflung vor die Seele.«[784]
Die Jenseitsszene beleuchtet das irdische soziale Leben, in dem die Großen die Kleinen auffressen. Die ethisch-politische Komponente fehlt nicht; manche Leser erinnern an die Stelle aus dem Galaterbrief (5, 14–15), wo Paulus warnt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. »Wenn ihr aber einander beißt und auffreßt, dann seht zu, daß ihr euch nicht gegenseitig vertilgt!« Dante zitiert die Stelle nicht, die zeigt, wieviel krasser Realismus sich aus der Ermahnung zu christlicher Nächstenliebe entwickeln ließ.
2.
Der Verräter als Vater
Dante hat aus einer Verräterepisode einen Hymnus auf Vaterschaft und Familiensinn gemacht. Er hat gezeigt, wie er sich das Böse in einer gut erschaffenen Welt denken kann. Er lehrt, wie Poesie über das Suchen nach Verfehlungen hinausgeht. Sie zeigt Weltverhältnisse: Die Macht des Liebesgottes, den Naturdrang des Menschen nach Wissen, den Familiensinn selbst im Untergang, die Lebensvernichtung durch Verrat und Haß. Sie führt vor Augen, wie weit Menschen sich gegenseitig zerstören können. Insofern ist sie ethisch-politische Reflexion. Aber sie ist es auf poetische Weise. Sie führt produktiv, weit über alles Chronikwissen hinausgehend in gestalteter Sprache, im sinnlichen Wohlklang des Reims, in eine Situation, die auch belehrend sein will. Sie zeigt, wohin die Verletzung von Friedenspflicht und Vertragstreue führt. Aber sie besteht nicht im Etikettieren von Verfehlungen. Sie nimmt die Sünder nicht als Sünder. Sie macht Sünder in der tiefsten Hölle zu Menschen im göttlichen Kosmos.
Auch wenn er von der Eiszone des Inferno spricht, betreibt Dante poetische Theologie. Sie zeigt als Poesie den allgegenwärtigen Gottesglanz, den auch extreme Bosheit nicht ganz verdrängt. Die Koinzidenz von Gottesbewußtsein und Dichtung verfehlt aber, wer das bloße Namhaftmachen von Sünden und der für sie vorgesehenen Strafen für Theologie hält. Dante erklärt seine poetische Theologie im Paradiso. Für die Erfahrung Ugolinos und seiner Kinder gilt Paradiso 1, 1–6: Das Licht des ersten Grundes leuchtet überall, abgestuft, auch in der Hölle. Im tiefsten Eis noch menschliche Wärme, bei den Kindern ohnehin und bei Ugolino gerade darin, daß er deren Äußerung unterdrückt, um das Sterben der Kinder nicht noch schwerer zu machen.
Ein bedeutender Historiker der italienischen Literatur hat Dante-Lesern empfohlen: »Werft die Kommentare weg!« Ich meine zwar, so sollte sich nicht ausdrücken, wer gerade dabei ist, Dante zu kommentieren. Die zahlreichen älteren Dante-Erklärungen, deren Zahl sich auf über siebzig beläuft, sind nicht wegzuwerfen, sondern beim Lesen zu historisieren. Ihre Abhängigkeit von der intellektuellen und gesellschaftlichen Situation ihres Verfassers und ihrer Entstehungssituation ist zu analysieren. Ein Kommentator des 14. Jahrhunderts mußte die Commedia gegen den Verdacht der Häresie oder der Kirchenfeindlichkeit verteidigen. Dabei hatte er andere Vorgaben zu beachten als ein Freund Dantes im 19. Jahrhundert, der im Blick auf sein Publikum auf Einfühlbarkeit oder auf historischen Stoff drängen mußte. Heute sind weder die christliche Glaubenslehre noch die religiösen Symbole Allgemeingut; mancher Dante-Erklärer hat sie sich mühsam angeeignet. Da wird es begreiflich, wenn er Übereifer an den Tag legt, Dante als ›christlichen‹ Dichter zu präsentieren. Er wird vorbringen, er stelle sich gegen die Romantisierung der liebenden Francesca oder die Heroisierung des Ulisse als Weltentdecker und Vorfahre des Kolumbus. Er versteht sich als wackeren Kämpfer gegen ahistorische Modernisierungen der Figuren Dantes. Bei Ugolino liegt die Gefahr rhetorischer Heroisierung weniger nahe, aber auch bei ihm zeigt sich mancher Dante-Erklärer besorgt, Dantes knappe Charakteristik Ugolinos als Sünder in 33, 2 würde überdeckt durch die vielen Verse, die das Unmaß des Leidens und das Höchstmaß an Vaterliebe schildern.
Dann entstehen banal-theologische Überzeichnungen. Während Dante eingangs klarstellt, daß Ugolino Sünder ist, dann aber mitfühlend Ugolinos letzte Tage schildert und erfahrbar macht, was bei fehlendem Frieden aus Menschen wird, schreiben neuere amerikanische Erklärer:
Dante’s text insists again and again that God validates Ugolino’s moral outrage; it shows God’s justice using Ugolino’s hatred as the instrument of the punishment of Ruggieri.[785] Diese erbauliche Zurechtlegung von Ugolinos Schicksal steht in Dantes Text weder again and again noch überhaupt. Während Dante erklärt, die Fehlhaltungen der Sünder teile er nach der Ethik des Aristoteles ein (Inf. 11), finden dieselben Autoren, die canti 32 und 33 seien voll von Bezügen auf die Bergpredigt. Sie halten bibelfest eine Mahnpredigt an den vor Hunger sterbenden Ugolino. Sie raten dem Verhungernden, er solle sich nicht Sorgen machen um den morgigen Tag, nach Matthäus 6, 33–34, als wäre das die Vorhaltung, die Dante ihm mache. Sie nennen Ugolinos hungernde Kinder Christus-Figuren und werfen Ugolino vor, Ugolino sehe in seiner Versteinerung, wenn er sein eigenes Gesicht auf ihren Gesichtern gespiegelt sehe, nur death and guilt. Sie ermahnen ihn – ich finde: verspätet: Sähe er wie sie in den Gesichtern der sterbenden Kinder den Widerschein Christi, dann wäre er gerettet.[786]
3.
Poesie
Dantes spekulative Poesie erwächst auf theologisch-philosophischem Grund. Sie wird aber verfehlt, wenn Dantisten Körbe von Bibelzitaten über sie ausschütten oder neuere Theologeme als überzeitlich gültig unterstellen. Nehmen wir ein Beispiel: Ugolinos Sohn Gaddo wirft sich ihm zu Füßen und ruft: Mein Vater, warum hilfst du mir nicht? Padre mio, ché non mi aiuti? (69) Der Junge stirbt bald vor Hunger; seine Frage ist leicht zu verstehen. Aber einige Dantisten hoffen ihn besser zu verstehen, wenn sie ihre laientheologischen Kenntnisse aktivieren und Gaddos Hilferuf neben das Matthäusevangelium legen, in dem Jesus am Kreuz ruft (Matth. 27, 46): »Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Die Analogie ist verfehlt: Die Gottverlassenheit des Erlösers ist nicht vergleichbar der Bitte des Kindes um Brot. Dieses Zitat ist so ungenau, daß es eine bloß private Assoziation bleibt, die zum Text nichts beiträgt. Der Erlöser am Kreuz bittet nicht seinen Vater um Hilfe; er klagt, daß Gott ihn verlassen hat. Das ist eine Erfahrung ganz anderen Zuschnitts als die Szene im Hungerturm. Es ist Frömmelei, einem hungernden Kind im ›Mittelalter‹ nicht zuzutrauen, seinen Vater anzuflehen: Vater, warum hilfst du mir nicht?, ohne dazu biblische Assoziationen nötig zu haben.
Aber nehmen wir einmal an, Dante habe Gaddos Anruf tatsächlich nach dem Vorbild Christi am Kreuz formuliert, dann hieße es doch, daß Gaddo in der höchsten Not gerade nicht zum himmlischen Vater riefe, sondern nach Ugolino. Dante hätte Christi Wendung in den Hungerturm herübergezogen und ihr einen innerfamiliären, säkularen Zusammenhang gegeben. Er hätte sie verweltlicht. Auf die Frage möglicher Säkularisierungen biblischer Wendungen bei Dante komme ich später zurück. Nicht der wörtliche Anklang, wenn er denn bestünde, wäre das originäre Textphänomen, sondern dessen Transposition in einen irdisch-familiären Kontext. Dann hätte Dante den Verlassenheitsruf Jesu, bei dem es nicht um Brot ging, profaniert; religiös gesehen wäre er durch die Übertragung auf eine Szene des Familienlebens bedeutungslos geworden.
Unser canto hat von dieser frommen Beflissenheit und dem Mangel methodischer Reflexion schon viel zu leiden gehabt. So assoziierte der Italianist Georges Güntert[787] die Hingabebereitschaft der Kinder Ugolinos (61–63) mit der kirchlichen Eucharistie. Der Text sagt davon nichts. Eine solche Auslegung verwechselt den spirituellen Sinn des Abendmahls mit dem Stillen des Hungers nach Brot. Sie saugt Fakten aus einem religiös-romantisierten Bild vom ›christlichen Mittelalter‹. Sie gibt sich als mittelalternah, geschichtsbewußt, aber sie fügt unnütze Assoziationen aus dem Religionsbedürfnis des Auslegers hinzu und unterstellt, ein vom Hungertod bedrohter Mensch der Zeit um 1300 sei nicht imstande gewesen, ohne Bibelsprüche seine Situation schlicht auszudrücken. Gewiß verdankt die Sprache mittelalterlicher Autoren viel der Bibel, anderes verdankt sie Vergil, Ovid und Aristoteles-Übersetzungen. Aber nicht alles ist Zitat, nicht alles ist Anspielung. Wer eine solche für eine bestimmte Textpassage behauptet, muß mehr tun, als die Bibel zu zitieren. Und sollte den Anschein vermeiden, er unterstütze die These von Singleton, Atheisten könnten Dantes Commedia überhaupt nicht verstehen. Denn das hieße, ein universales menschheitliches Poem als Eigentum einer ausgewählten Gruppe zu reklamieren. Die Bibel zu kennen, ist notwendig, aber überall die Bibel herauszuhören, ist historistischer Biblizismus. Als hätte Dante nichts Neues sagen können, das er nicht dem Wortlaut der Bibel entnommen hätte. Das ist methodisch falsch.
4.
Politisches Lied
Dante schrieb die Ugolino-Szene nicht nur als poetischer Theologe, sondern auch als Politiker. Er beendet die Ugolino-Szene mit einer maßlosen Verwünschung Pisas (33, 79–80):
Ahi Pisa, vituperio dele genti / del bel paese là dove ’l ›si‹ suona.
O weh Pisa! Schande der Leute, die das schöne Land bewohnen, in dem das ›si‹ ertönt!
Dante redet gegen Pisa mit dem leidenschaftlichen Haß eines Florentiners, der lieber einen Toten im Haus als einen Pisaner vor seiner Tür sehen will. Er fordert: Wenn schon die Nachbarstädte Lucca und Florenz es versäumen, die Stadt zu zerstören, dann soll das Arnowasser alle ihre Einwohner ertränken. Dante ist grausamer als der Erzbischof Ruggieri. Er läßt mehr Kinder umbringen als der Erzbischof. Auch solche Haßausbrüche gehören zur Commedia. Sie ist ein Werk der politischen Rhetorik, unglatt und ungeschönt. Dantes Vernichtungswunsch läßt sich in milderes Licht stellen durch den biographischen Hinweis: Auch er war Vater von vier Kindern und mußte es schändlich finden, Kinder wegen der politischen Optionen ihrer Eltern mit dem Tod zu bedrohen. Dante wünschte ja auch der Stadt Florenz all das Unglück, das die Einwohner von Prato ihr zudenken. Und das ist nicht wenig. Im Mund Dantes überrascht es doch. Ein ›sanfter‹ Christendichter war er nicht. Seine Poesie ist selbst beißend.
5.
Drei von hundert
Francesca, Ulisse und Ugolino haben sich vorgestellt. Sie repräsentieren die großen Dante-Themen: Liebe, Wissenwollen, Friedensgebot. Daher führen sie den Leser ein in Dantes Weltgedicht. Sie haben pädagogische Mätzchen nicht nötig. Ihre Dramatik verjagt die Schläfrigkeit, die sich bei Klassikerverehrung leicht einstellt. Ihre Sprache ist knapp, klar und sinnlich; sie hört sich nur in veralteten Übersetzungen alt an. Sie ist 700 Jahre alt, aber sie ist unverwelkt in ihrer Direktheit und poetischen Kraft. Sie hält an, auf Dantes Regie zu achten: Er gibt anschaulich irdische Details, aber begnügt sich dabei mit dem Nötigsten. Wie wortesparend konnte er sagen: An diesem Tag lasen wir nicht weiter (5, 138). Wie gemeißelt schildert er den Schiffbruch des Ulisse: Nach sieben Zeilen schließt sich der Ozean über ihm für immer. Er duldet weder Geschwätzigkeit noch vage Besinnlichkeit. Alles ist genau abgezirkelt: Canto 26 hat wie der fünfte Gesang genau 142 Verse. Strenger kann ein Dichter seine Formvorgaben nicht einhalten. Diese Strenge kommt nicht zeremoniös, gesucht oder hochpriesterlich daher; sie bleibt in Wortschatz, in Syntax und Reimwort fast immer einfach. Man könnte ihre Kunst ›natürlich‹ nennen.
Die drei Szenen des Vorspiels sind relativ leicht zugänglich. Sie spielen drei Todesfälle, die auch in anderen Kriminalgeschichten vorkommen könnten. Sie enthalten zunächst keine undurchdringlichen Geheimnisse: Francesca wird von ihrem Ehemann ermordet; ein erkenntnissüchtiger Seefahrer verläßt alle bekannten Ufer und kommt im Meer um; ein grausamer Kirchenfürst läßt seinen Gegner einkerkern und verhungern; er praktiziert Sippenhaft und läßt dessen Kinder mitverhungern. Das alles sind erfundene Geschichten; sie gehen nur sehr teilweise auf tatsächliche Vorkommnisse zurück. Sie sehen dem realen geschichtlichen Leben so ähnlich, daß wir daran erinnert werden müssen, daß es sich um Erzählungen von Höllenbewohnern handelt. Es sind unsterbliche Seelen, die in alle Ewigkeit fortleben und dadurch die Möglichkeit haben, ihren eigenen Untergang zu berichten. Der fingierte Blick vom Jenseits her ermöglicht es dem Dichter, ein abgeschlossenes Leben in einem einzigen Ereignis konzentriert darzustellen. Höllenbewohner erzählen vom Ausgang ihres irdischen Lebens. Sie erzählen von ihrem Unglück – Ugolino berichtet maßloses Unglück –, aber sie stilisieren sich nicht als Opfer. Aber Mitleid erfreut sie, und sie erwarten Tränen des Besuchers. Ihre Berichte sind nüchtern und hart. Beim schlimmsten Verbrecher, bei Ugolino, bringt sein Bericht über das Sterben der vier Kinder eine gewisse Weinerlichkeit mit sich. Und Ugolino fragt: Wenn du hier nicht weinst, worüber weinst du denn dann überhaupt? (33, 42) Aber der Autor kehrt sofort wieder zu strenger Sachlichkeit zurück, indem er die einzelnen Tage der Hungerwoche numeriert und die ganze Erzählung einrahmt mit der Szene des blutigen Fraßes. Zu ihr hat er schon im Vorbereitungsteil Distanz geschaffen, nicht durch den literarischen Vergleich, nicht mit einer der zahllosen grausamen christlichen Märtyrerlegenden, sondern durch den antikisierenden Hinweis auf Tidaeus von Theben, der, zu Tode verwundet, sich das abgetrennte Haupt seines Feindes reichen läßt, um es zum Zeichen der Verachtung (per disdegno) zu benagen (32, 130–132). Dante stellt vorweg klar: Was in der Hölle passiert, ist schon auf der Erde, nämlich in Theben, vorgekommen.
So sind denn die canti 5, 26 und 32/33 wie geschaffen, in Dantes Dichtkunst einzuführen. Sie zeigen den höheren ›Realismus‹ einer ethisch-politischen Poesie, die krasse Vergehen nicht nur als bestraft, sondern als im göttlichen Kosmos durch andere Qualitäten der Sünder fast aufgewogen und von der göttlichen Gegenwart wie durchleuchtet präsentiert: als die radikale Liebesbereitschaft Francescas, die den Tod riskiert; als Wissenwollen des Ulisse ohne Selbstschonung; als Vatersorge des Verräters. Sie entreißt uns die Selbstsicherheit des moralistischen Verwerfens. Sie zeigt in großherziger Wahrheitsliebe, was ist. Dante selbst gibt zu verstehen, daß ihm diese drei Episoden besonders am Herzen lagen, wohl am meisten die des Ulisse. Aber wer diese Vorübung mitvollzogen hat, muß sich klarmachen, daß er jetzt drei von hundert Gesängen kennt. Er hat sich bisher nur in der Hölle aufgehalten. Paradies und Läuterungsberg stehen ihm noch bevor. Er darf nicht erwarten, alle diese canti hätten die konzeptionelle Bedeutung und künstlerische Perfektion der Gesänge 5, 26 und 32/33. Diese berühren auch einige Themen nicht, die für Dantes Commedia wichtig sind: Von Beatrice war darin nicht die Rede, und dabei ist doch das ganze Werk geschrieben, um einer einfachen florentinischen Frau, die im Alter von 25 Jahren gestorben ist, ein Denkmal zu setzen, dem kein anderes vergleichbar ist. Auch christlich-theologische Motive sind nicht vorgekommen. Die drei Hauptpersonen sind zwar ›Sünder‹, aber die Kriterien zu dieser Beurteilung stammen, wie Dante in Inferno 11 ausdrücklich festhält, der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Die drei Erzählungen kommen aus einer langen Geschichte, zu der antike Ethiken und historische Nachrichten ebenso gehören wie französische Liebesgeschichten und deren Echo in Italien.
Dantes Werk ist die auswählende Zusammenfassung der Menschheitsgeschichte, nicht nur der literarischen, der philosophischen und theologischen, sondern auch der ökonomischen, politischen und sozialen. Sie ist eine Reaktion auf die Weltmachtstellung der florentinischen Ökonomie; ständig bezieht sie sich auf die Machtpolitik der Päpste.
Von all dem muß noch die Rede sein. Wenn ich vorhin sagte, die drei Episoden seien zunächst leicht zugänglich, dann wollte ich andeuten, daß sie Dunkelheiten enthalten, die sich aus der historischen Entferntheit ergeben. Damals konnte ein Fürst seine Ehefrau, die er beim Ehebruch antraf, ermorden, ohne Sanktionen befürchten zu müssen; er war der oberste Gerichtsherr. Die radikale Art, in der Boccaccio dieses Ehedrama umgeschrieben hat, belegt, daß schon kurze Zeit nach Dante nicht alle Zeitgenossen die strenge Bestrafung der Ehebrecherin akzeptierten. Da waren geschichtliche Wandlungen im Gange, die Dante teils ausgesprochen, teils ausgelöst hat, die analysieren muß, wer Dantes historische Stellung erfassen möchte.
Die Ugolino-Episode erteilt eine Lektion politischer Ethik, aber bezieht sich auf eine konkrete geschichtliche Welt: In ihr kämpfen politisch mächtige Kirchenfürsten ohne jedes moralische Kriterium gegen ebenso bedenkenlose Herrscher, die keiner ordnenden Hand unterstehen. Sie zeigt, wie es zugeht, wenn kein Kaiser mehr sich um Italien kümmert. Sie ist auch ein historisches Lehrstück über die kaiserlose Zeit.
Die Ulisse-Erzählung handelt unbefangen von dem Erkenntnisdrang, der die menschliche Natur ausmacht. Sie wäre nicht möglich gewesen, ohne daß ein Umbruch in der Bewertung der Wissensgier vorausgegangen ist. Statt des Verbotes der Neugier kannte nun jeder Studierte den ersten Satz der Metaphysik des Aristoteles: Alle Menschen verlangen von Natur aus zu wissen. Dieser Grundsatz war aufgenommen in die Zitatsammlungen für Studienzwecke. Er war gar nicht zu übersehen. Denn auch diese schlichten Textbooks begannen mit dem Satz: Omnes homines naturaliter scire desiderant.[788]
Auch technische Standards setzte Dante voraus. Wenn Ulisse der Sonne nachsegeln wollte, mußte das auch technisch möglich sein. Der zeitgenössische Schiffsbau hatte gegen 1300 ein hohes Entwicklungsstadium erreicht. Der lateinische Westen besaß jetzt Weltkarten und den Kompaß. Dante hat sich im Arsenal von Venedig über den Schiffbau kundig gemacht, so wie er in Paris und Bologna Aristoteles studiert hat. Es mußte historisch bereits viel passiert sein, materiell, soziologisch, politisch und intellektuell, bevor ein Mensch auch nur die drei Szenen, die ich jetzt verlasse, schreiben konnte, historische Schübe, die Dantes Werk ermöglichten und die er weitertrieb. Da waren Voraussetzungen geschaffen und ausgreifende Prozesse im Gang, von denen fortan die Rede sein muß.