Canto 31
Dante betrachtet die Himmelsrose, Beatrice zieht sich unbemerkt auf ihren Himmelssitz zurück und sendet den heiligen Bernhard als Führer. Dante dankt ihr; Bernhard zeigt ihm Maria.
1 In Gestalt einer weißen Rose zeigte sich mir die heilige Heerschar, die Christus mit seinem Blut zur Braut nahm. Aber die andere, die im Flug die Herrlichkeit dessen sieht und besingt, den sie liebt und dessen Güte sie groß erschuf,[760] sie ließ sich wie ein Bienenschwarm auf Blüten nieder und kehrte dann dorthin zurück, wo ihre Mühe sich als Süße sammelt. Sie senkte sich in die große Blume, die so viele Blätter zieren, und stieg wieder dorthin auf, wo ihre Liebe immer wohnt. Das Antlitz aller war lebendig-rotglühende Flamme, die Flügel von Gold, alles andere so weiß, daß kein Schnee daran reicht. Wenn sie sich zur Blume senkten, reichten sie von Reihe zu Reihe Frieden und Glut weiter, die sie oben fliegend erwarben. Daß sich eine solche Vielheit zwischen dem Obersten und der Blume bewegte, hinderte weder Sicht noch Glanz,[761] denn das göttliche Licht durchdringt das Universum so, abgestuft nach Würdigkeit, daß nichts ihm widerstehen kann. Dieses sichere Reich voller Freude, bevölkert vom alten und vom neuen Volk, richtet Blick und Liebe ganz auf ein einziges Ziel.
28 Oh dreieines Licht! Du strahlst aus einem einzigen Stern vor ihren Augen und stillst alle Sehnsucht! Schau doch hier herab auf unsere Stürme! Als die Barbaren aus dem Land kamen, das Helike täglich bedeckt, die mit ihrem Sohn, den sie liebt, Kreisbahnen zieht,[762] da sahen sie Rom und seine hohen Monumente und bewunderten sie voll Staunen, damals, als der Lateran alle irdischen Dinge übertraf – von welchem Staunen mußte ich nun erfüllt sein, kam ich doch vom Menschlichen zum Göttlichen, von der Zeit zum Ewigen, von Florenz zu einem gerechten und verständigen Volk! Vor Staunen und Freude wollte ich nichts hören und stumm dastehen. Und wie ein Pilger, der ankommt in der Kirche seines Wallfahrtsgelöbnisses, sich erholt, indem er sich umschaut und hofft, erzählen zu können, wie sie ist, ging ich aufwärts durch das lebendige Licht und ließ die Augen über die Stufen wandern, mal aufwärts, mal abwärts, mal im Kreis. Ich sah Gesichter, die zur Liebe einluden, verklärt von höherem Licht und eigenem Lächeln, mit Gesten voller Würde. Die Gestalt des Paradieses im Umriß hatte mein Blick jetzt erfaßt, ohne schon auf einem Teil besonders zu ruhen.
55 In mir kam wieder Lust auf, meine Herrin nach den Dingen zu fragen, über die mein Geist unsicher war, und ich wandte mich ihr zu. Aber ich fand nicht, was ich suchte. Wo ich geglaubt hatte, Beatrice zu sehen, sah ich einen Greis, gekleidet wie die anderen glorreichen Gestalten. Über Augen und Gesicht lag gütige Freude, sein Gestus war liebenswürdig wie der eines zärtlichen Vaters. Ich rief sofort: »Wo ist sie?« Darauf er: »Um deinen Wunsch zu Ende zu führen, bewegte Beatrice mich, meinen Platz zu verlassen. Wenn du nach oben schaust, siehst du sie in der dritten Reihe von oben auf dem Thron, den sie durch ihre Verdienste erlangt hat.« Ich antwortete nichts; ich erhob die Augen nach oben und sah sie, die sich einen Kranz schuf aus Strahlen ewigen Lichts. Kein sterbliches Auge ist so weit von der Gegend entfernt, wo der Donner grollt, selbst wenn es sich ins tiefste Meer versenkte, wie mein Auge von Beatrice entfernt war, aber das machte mir nichts aus, denn nichts mischte sich zwischen ihr Bild und mich. »O Herrin, auf der meine ganze Hoffnung ruht, du hast es auf dich genommen, für mein Heil in der Hölle den Abdruck deiner Füße zu hinterlassen: Deiner Macht und deiner Güte verdanke ich die Gnade und die Kraft, die vielen Dinge gesehen zu haben. Du zogst mich aus der Knechtschaft zur Freiheit in jeder Form und auf allen Wegen, die in deiner Macht standen. Bewahre dein reiches Geschenk in mir, so daß meine Seele, die du geheilt hast, dir gefällt, wenn sie den Leib verläßt.« So betete ich, und sie, so fern sie zu sein schien, schaute mich an und lächelte, dann wandte sie sich zur ewigen Quelle.
94 Und der heilige Greis: »Damit du deinen Weg, für den ich bete und zu dem heilige Liebe mich geschickt hat, auf vollkommene Weise zu Ende führst: fliege mit den Augen über diesen Garten hin. Wenn du ihn siehst, stärkt das deinen Blick, weiter aufzusteigen auf dem göttlichen Strahl. Und die Königin des Himmels, zu der ich ganz in Liebe entbrannt bin, wird uns jede Huld erweisen, denn ich bin ihr treuer Bernhard.«[763]
103 Da kommt vielleicht ein Mann aus Kroatien, um unsere Veronica zu sehen,[764] und kann sich wegen des langen Hungerns daran nicht sattsehen in der kurzen Zeit, in der man sie zeigt, und der in Gedanken sagt: ›Mein Herr Jesus Christus, wahrer Gott, so saht Ihr also aus!‹ – so ging es mir, als ich die lebhafte Liebe des Mannes sah, der schon in dieser Welt bei seiner Betrachtung jenen Frieden schmeckte. »Sohn der Gnade, dieses freudige Dasein erkennst du nicht«, begann er, »wenn du die Augen nur nach unten zum Boden senkst. Schau hinauf auf die Kreise, bis zum entferntesten, und du siehst die Königin sitzen, der dieses Reich untertan und ergeben ist.« Ich hob die Augen. Und wie am Morgen der Osten des Horizonts die Seite überstrahlt, auf der die Sonne untergeht, so sah ich – es war, als wanderte ich mit den Augen vom Tal hinauf zum Berg – am äußersten Rand eine Stelle, die den ganzen übrigen Kreis durch Helligkeit überstrahlte.[765] Und wie es dort, wo man die Deichsel erwartet, die Phaethon unglücklich lenkte, hell aufleuchtet, während das Licht links und rechts daneben blaß bleibt, so erglühte die friedfertige Oriflamme in der Mitte, und auf beiden Seiten mäßigte sich das Licht.[766] Und zu dieser Mitte hin sah ich mehr als tausend Engel mit gebreiteten Flügeln eilen; jeder von ihnen war anders als der andere an Glanz und Können. Ich sah, wie ihren Spielen und Gesängen eine schöne Frau zulächelte; die Freude war in den Augen aller anderen Heiligen. Hätte ich an Reden einen solchen Reichtum wie im Vorstellen, auch dann würde ich es nicht wagen, nur den kleinsten Teil ihres kostbaren Wesens zu benennen. Bernhard sah meine Augen versunken in ihre heiße Glut und wandte ihr die seinen zu mit um so größerer Leidenschaft. Das machte meine Augen noch verlangender, sie anzuschauen.