Canto 19
Vierter Kreis: Dante sieht im Traum eine Frau, Sinnbild der maßlosen Neigung zu irdischen Dingen, also des Geizes, der Schlemmerei und der Wollust. Das sind die Laster, die im oberen Purgatorium gebüßt werden. Dante erwacht, ein Engel zeigt den Weg zum fünften Kreis, dem der Geizigen, darunter Papst Hadrian V.
1 Zu der Stunde, da die Tageshitze, besiegt von der Erde, zuweilen auch von Saturn, die Mondeskälte nicht mehr mildern kann – in der die Wahrsager kurz vor dem Morgengrauen ihr Großes Glück im Osten auftauchen sehen auf einer Bahn, die nur kurz noch dunkel bleibt,[372] da erschien mir im Traum eine stotternde Frau, totenbleich.[373] Ihre Augen schielten, ihre Beine hinkten, ihre Hände waren verkrüppelt. Ich schaute sie an, und wie die Sonne kalte nachtbeschwerte Glieder belebt, so löste ihr mein Blick die Zunge. Er richtete sie in kurzer Zeit ganz auf und gab ihrem entstellten Gesicht die Farbe, die der Liebe gefällt. Da jetzt ihre Sprache befreit war, begann sie so schön zu singen, daß ich nur mit Mühe meine Aufmerksamkeit von ihr hätte wegwenden können. »Ich bin«, sang sie, »ich bin die süße Sirene, betöre die Seeleute mitten im Meer; so lustvoll ist es, mich zu hören. Ich zog Odysseus bei seiner Irrfahrt hin zu meinem Gesang, und wer sich mit mir einläßt, zieht selten weiter. Ich erfüll’ ihm jedes Verlangen.« Noch war ihr Mund nicht verschlossen, da erschien mir zur Seite eine Frau, heilig und schnell, um jene zu entlarven.[374] »O Vergil, Vergil, wer ist die?«, rief sie mit harter Stimme, und er kam herbei, die Augen nur auf die würdige Frau gerichtet. Die andere packte er, riß ihr vorne die Kleider auseinander und zeigte mir ihren Bauch; ich erwachte von dem Gestank, der davon ausging. Ich bewegte die Augen, und der gute Meister sagte: »Mindestens dreimal habe ich dir zugerufen: Steh auf und komm! Laß uns die Öffnung finden, durch die du eintreten kannst.«
37 Ich stand auf. Schon überflutete der hohe Tag alle Kreise des heiligen Bergs, und wir gingen, die neue Sonne im Rücken. Während ich ihm folgte mit gesenkter Stirn, wie jemand, der schwere Sorgen hat und aus sich einen halben Brückenbogen macht, da hörte ich die Worte sagen: »Kommt! Hier geht es durch«, in einem so sanften und gütigen Ton, wie man ihn auf irdischem Boden nie hört. Mit offenen Flügeln – sie glichen denen eines Schwans – lenkte uns der, der sie gesprochen hatte, zwischen den beiden Wänden aus hartem Fels nach oben. Dann schlug er die Feder, fächelte uns an und verkündete: ›Qui lugent, die trauern, sind selig, denn ihre Seelen werden Herrinnen des Trostes.‹[375]
52 »Was hast du, daß du immer nur zum Boden schaust?«, begann mein Führer mich zu fragen, nachdem wir beide ein wenig über den Engel hinaufgestiegen waren. Und ich: »Ich gehe mit vielerlei Zweifeln wegen dem, was ich soeben gesehen habe. Es zieht mich so an, daß meine Gedanken davon nicht loskommen.« »Du sahst«, sagte er, »die uralte Zauberin. Nur ihretwegen wird in den Ringen über uns noch gebüßt. Du sahst auch, wie der Mensch sich von ihr befreit. Laß es genug sein! Deine Fersen setz auf den Boden, aber den Blick hebe zu der verlockenden Freude, die der ewige König mit den großen Rädern kreisen läßt.«[376] Wie der Falke erst auf die Füße schaut, dann auf den Zuruf hin sich umwendet und auffliegt aus Begier nach dem Futter, das ihn dorthin zieht, so machte auch ich es und ging, wo der Felsspalt dem Aufsteigenden einen Weg bietet, bis dorthin, wo er den Rundgang erreicht.[377]
70 Ich hatte die enge Stelle hinter mir und war im fünften Kreis. Da sah ich überall Leute mit dem Gesicht zum Boden herumliegen und weinen. ›Adhaesit pavimento anima mea. Meine Seele klebte am Boden‹, hörte ich von ihnen mit so tiefen Seufzern, daß die Worte kaum zu verstehen waren.[378]
76 »O ihr Erwählten Gottes, Eure Leiden lindern Gerechtigkeit und Hoffnung: Zeigt uns den Weg zum hohen Aufstieg.« »Wenn ihr kommt, ohne hier liegen zu müssen, und wenn ihr schnell den Weg finden wollt, dann sei eure rechte Hand immer außen.« So hatte der Dichter gefragt, und so wurde ganz aus der Nähe geantwortet, und ich erkannte aus dem Reden etwas, was mir zuvor verborgen war. Ich wandte meine Augen zu den Augen meines Herrn, und er gewährte mir mit heiterem Wink, was er als meinen Wunsch den Augen ansah. Ich konnte nun handeln, wie’s mir im Sinn lag, und zog mich hin zu dem Geschöpf, dessen Worte mich zuvor aufmerken ließen, und sagte: »O Geist, in deinen Tränen reift, was nötig ist, zu Gott zurückzukehren: stelle für mich eine Weile deine Hauptsorge zurück, wenn du willst, daß ich dort, von wo ich lebend herkomme, etwas für dich erreiche, und sag mir, wer du warst und warum ihr den Rücken nach oben kehrt.« Und er zu mir: »Warum unsere Rückseiten sich dem Himmel zukehren, sollst du erfahren, aber zuerst scias quod ego fui successor Petri, wisse, daß ich der Nachfolger Petri war.[379]
100 Zwischen Sestri und Chiavari senkt sich ein schöner Fluß zum Meer; in seinem Namen gipfelt der Adelstitel meines Geschlechts. Einen Monat und wenig länger erfuhr ich, wie schwer der große Mantel wiegt für den, der ihn vor Kot bewahrt; alle anderen Lasten scheinen dagegen Federn. Meine Bekehrung, o weh, kam spät; aber nachdem ich der Hirte von Rom geworden war, da erst durchschaute ich den Trug des Lebens. Ich sah, daß in ihm das Herz nicht zur Ruhe kommt, denn höher kann man nicht steigen in jenem Leben; deshalb entbrannte in mir die Sehnsucht nach dem hiesigen. Bis zu dieser Zeit war meine Seele elend und von Gott getrennt, habgierig in allem, und dafür werde ich hier, wie du siehst, bestraft. Was Habgier zerstört, das zeigt sich hier in der Reinigung bekehrter Seelen; der Berg hat keine bitterere Strafe. Weil unser Blick sich auf irdische Dinge richtete und sich nicht nach oben erhob, richtet Gerechtigkeit ihn hier auf die Erde. Weil Habgier unsere Liebe zu jedem Guten auslöschte und alles gute Wirken hinderte, hält Gerechtigkeit uns hier fest, an Händen und Füßen gefesselt. Solang es dem gerechten Herrn gefällt, so lange bleiben wir unbeweglich hingestreckt.«
127 Ich war niedergekniet und wollte sprechen, doch als ich anfing und er nur durchs Hören meine ehrfürchtige Haltung erkannte, sagte er: »Warum beugst du dich so tief herab?« Und ich zu ihm: »Solang ich aufrecht neben euch stand, mahnte mein Gewissen mich wegen eurer Würde.« »Streck deine Beine und steh auf, Bruder! Laß dich nicht irren: Ich bin Knecht wie du und die anderen unter der einzigen Macht. Hast du jemals auf den Ton des heiligen Evangeliums geachtet, das sagt ›Neque nubent. Und sie heiraten nicht‹, dann siehst du wohl ein, warum ich so rede.[380] Jetzt geh! Ich will nicht, daß du länger bleibst. Denn dein Bleiben stört mein Weinen, mit dem ich zur Reife bringe, wovon du gesprochen hast. Drüben habe ich eine Nichte; sie heißt Alagia. Sie ist an sich eine gute Frau, wenn nur unser Haus sie nicht durch schlechtes Beispiel verdirbt. Sie allein ist mir drüben geblieben.«