Canto 9
Widerstand der Teufel am inneren Höllentor. Vergil tröstet Dante, indem er von seiner Höllenfahrt berichtet. Drei Furien erscheinen, dann Medusa. Ein Engel schließt das Tor auf. Dante betritt den sechsten Kreis, den der Häretiker.
1 Die bleiche Farbe, mit der die Angst mein Gesicht zeichnete, als ich meinen Führer zurückkommen sah, bewirkte bei ihm, daß die Zornesröte, die soeben aufgekommen war, sich nach innen zurückzog.[63] Aufmerksam blieb er stehen, wie ein Mensch, der lauscht, denn das Auge reichte nicht weit in der schwarzen Luft bei dichtem Nebel. »Und doch müssen wir diesen Kampf gewinnen«, begann er, »sonst … Doch hat jemand Hilfe angeboten. Ach, wie lang dauert es mir, bis er kommt!« Ich merkte sehr wohl: Was er zuerst gesagt hatte, deckte er zu mit dem Satz, der danach kam – das waren ganz andere Worte als die ersten. Und doch machte seine Rede mir Angst, vermutlich ergänzte ich den abgebrochenen Satz im schlimmeren Sinn, als er gemeint war. »Steigt denn nie einer aus dem ersten Kreis hier herab auf den Boden der düsteren Mulde, einer, dessen einzige Strafe die versagte Hoffnung ist?« Diese Frage stellte ich, und er antwortete: »Selten kommt es vor, daß einer von uns den Weg nimmt, den ich jetzt gehe. Aber wahr ist, ich bin schon ein anderes Mal hier unten gewesen, beschworen von der wilden Erichtho, die die Schatten in ihre Leiber zurückrief.[64] Kurze Zeit, nachdem mein Fleisch abgelöst war von mir, hieß sie mich diese Festung betreten, um einen Geist aus dem Kreis des Judas herauszuholen. Das ist die tiefste und dunkelste Stelle, am weitesten entfernt von der Himmelssphäre, die alles bewegt. Ich kenne den Weg gut; darum sei unbesorgt. Dieser Sumpf mit dem großen Gestank umschließt ringsherum die Stadt der Leiden; ohne Gewalt kommen wir daher nicht hinein.«
34 Er sagte noch mehr, aber ich habe es nicht behalten, denn mein Auge zog mich ganz zu dem hohen Turm mit der feurigen Spitze. Dort richteten sich plötzlich in einem einzigen Augenblick drei höllische Furien auf, blutbeschmiert, mit weiblichen Gliedern und Gebärden, mit giftiggrünen Schlangen rings umgürtet. Statt der Haare trugen sie Vipern und Nattern um die wilden Schläfen. Er kannte sie wohl, die Mägde der Königin des ewigen Jammers, und sagte: »Schau die grimmigen Erinnyen. Die auf der linken Seite ist Megära, die Weinende rechts ist Alekto, Tisiphone steht in der Mitte.« Dann schwieg er. Mit den Klauen zerkratzte sich jede die Brust, sie schlugen sich mit den flachen Händen und schrieen so laut, daß ich mich an den Dichter drängte vor Angst. »Medusa soll kommen! Dann machen wir ihn zu Stein!«, riefen sie alle und schauten herunter, »schade, daß wir das Eindringen des Theseus nicht gerächt haben!«[65] »Dreh dich um und halte die Augen geschlossen! Denn wenn das Gorgonenhaupt sich zeigt und du siehst es, dann ist es aus mit der Rückkehr nach oben.« So sagte der Meister, und er selbst drehte mich um. Meine Hände waren ihm nicht genug; er umschloß mich noch mit seinen. O ihr mit gesundem Verstand, schaut auf die Lehre, die sich unter dem Schleier fremdartiger Verse verbirgt![66]
64 Da brach auch schon über die trüben Wellen ein Getöse herein mit einem Ton voller Entsetzen. Beide Ufer erzitterten, wie von einem Sturm, der durch Temperaturunterschiede zum Orkan wird, in den Wald einschlägt und ohne Widerstand Äste zersplittert, herunterwirft und fortfegt; hinter Staubwolken kommt er stolz daher und schlägt Tiere und Hirten in die Flucht. Vergil gab meinen Augen jetzt den Blick frei und sagte: »Nun richte die ganze Kraft deines Blicks über die schäumenden Wasser des Styx dorthin, wo der Rauch am beißendsten ist.« Wie Frösche vor der feindlichen Natter im Wasser auseinanderstieben und sich ans Land anklammern, so sah ich mehr als tausend verlorene Seelen fliehen vor einem, der trockenen Fußes den Styx überschritt. Von Zeit zu Zeit fuhr er mit der Linken aus und wischte sich die dicke Luft vom Gesicht weg, die offenbar das einzig Ärgerliche war, das ihn belästigte. Ich bemerkte wohl, daß er vom Himmel geschickt war, und wandte mich an den Meister, aber der gab mir ein Zeichen, ich solle still sein und mich vor ihm verneigen. Oh, in seinen Zügen war nichts als verachtender Zorn! Er trat vors Tor und öffnete es mit einem Stab, ganz ohne Widerstand. »O ihr aus dem Himmel Geworfene! Ihr verachtetes Volk!«, begann er auf der furchtbaren Schwelle, »woher nehmt ihr die Vermessenheit? Warum löckt ihr gegen den Willen, der sein Ziel immer erreicht und der schon öfter euer Leiden vermehrt hat? Was nutzt es, gegen das Schicksal zu bocken? Eurem Cerberus fehlt davon, wenn ihr euch erinnern wollt, heute noch an Kinn und Hals das Fell.«[67] Dann kehrte er um auf der kotigen Straße des Styx. Er sagte zu uns kein Wort, sondern machte den Eindruck eines Menschen, den eine andere Sorge bedrängt und bedrückt als die dessen, der vor ihm steht. Wir lenkten nun unsere Schritte zu der Stadt, voller Zuversicht nach den heiligen Worten. Wir traten ein, ganz ohne Kampf.
107 Ich wollte die Zustände sehen, die in einer solchen Festung herrschen, und ließ, sobald ich drinnen war, mein Auge im Kreis gehen. Ich sehe auf jeder Seite eine weite Ebene, bedeckt mit Schmerz und grauenvoller Qual. So wie bei Arles, wo die Rhone zum Stillstand kommt, und wie bei Pola am Golf von Carnaro, der Italien abschließt und seine Grenzen badet, Gräber recht verschiedener Art den Boden bedecken, so war es auch hier überall, nur viel schlimmer, denn in die Särge waren Flammen verteilt, dadurch waren sie so eingeheizt, daß kein Schmied das Eisen glühender braucht. Ihre Deckel waren alle angehoben, und heraus drangen schwere Schmerzensschreie, wie sie von unglücklichen Gefolterten kommen. Und ich: »Meister, was sind das für Leute, die in diesen Steinsärgen begraben sind und so qualvolle Seufzer hören lassen?« Und er zu mir: »Das sind die Stifter der Ketzereien unterschiedlicher Sekten mit ihrem Anhang, und die Gräber sind voller, als du meinst. Was zusammengehört, ist zusammen begraben, und die Steinsärge sind unterschiedlich heiß.« Dann wandte er sich nach rechts, und wir gingen dahin zwischen Leidensstätten und hohen Mauern.