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Der Gedanke an das leere Haus belastete seine Tage. Er hielt sich in der Klinik auf und suchte nach Unerledigtem. So stieß er auf den Namen Schönhage. Er erinnerte sich gleich an diesen Fall, die Patientin mit dem Oberbauchtumor. Der Stationsarzt drängte auf eine Probe-Laparotomie. (Für kurze Zeit kehrten seine Gedanken zu Malvina zurück. Wie gefaßt sie die ganze Zeit war. Mit ihrer Ruhe hatte sie an seinen Nerven gezerrt.) Dann betätigte er die Sprechanlage und sagte: »Frau Schönhage von 7b soll zur Untersuchung herkommen.«
Wenig später öffnete sich die Türe und Lisa trat ein. Ausgerechnet Lisa sollte für Fritsch der Stein des Anstoßes werden, ihretwegen wurde er zum Klinikchef zitiert. »Die Patientin hat keinen Tumor«, sagte Bertram. »Was Ihre großartige Diagnose betrifft: Es ist die Leber. Ein harmloser Riedelscher Lappen.« Der Riedelsche Lappen war eine Normvariante, eine zungenförmige, in die Bauchhöhle vorspringende Lappenbildung. Den vor Erleichterung und Freude durcheinandergeratenen Fritsch berührte Bertrams Vorwurf kaum, er nahm ihn nur am Rande wahr.
Der Klinikchef machte seiner Verärgerung Luft.
»Sie haben die Untersuchung auf eine falsche Spur gelenkt. Nur aufgrund eines vagen Verdachtes haben Sie mit außerordentlicher Hartnäckigkeit eine ganze Reihe von Eingriffen durchgeführt. Es ist Ihnen hoffentlich bewußt, daß ich das bestenfalls als Einfältigkeit bezeichnen kann. Von den Ängsten und Qualen dieser Frau ganz zu schweigen.« Eine Spur Neugierde schwang in Bertrams Stimme mit, als er fortfuhr: »Was ich nicht verstehe, warum haben Sie kein Leberszintigramm veranlaßt? Oder eine Leberspiegelung? Damit wäre alles geklärt worden.«
»Weil«, murmelte Fritsch, »die Leber nie zur Diskussion stand.« Er hätte hinzufügen können: ebensowenig für Sie. Er sagte nur: »Ich wollte ihr alles ersparen, was nicht notwendig erschien.«
»Genau das Gegenteil haben Sie getan!« Bertram sah auf den zerknirschten jungen Mann vor sich: »Wie wollen Sie das verantworten?«
›Ich freue mich ja‹, dachte Fritsch verwirrt. ›Wenn man Freude zu verantworten hat, bin ich allzugern bereit.‹
›Ich habe Angst‹, redete er sich gleichzeitig ein, ›ich habe immer vor ihm Angst gehabt.‹ Als er aber jetzt in sich hineinlauschte, war die Angst plötzlich verschwunden. »Äußern Sie sich«, befahl Bertram. Mit keinem Wort erwähnte er, daß er selbst Fritschs Diagnose zunächst zustimmte. Es lag nicht in Fritschs Natur, kleinlich zu sein. Bereit, die ganze Verantwortung auf sich zu nehmen, breitete er bedauernd seine Hände aus. Dann sagte er: »Ich freue mich für die Patientin …«
Seine Antwort verärgerte Bertram. »Ich möchte meine Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen. Sie haben mich enttäuscht.«
Fritsch schien es eine Ewigkeit, nicht nur ein paar Wochen her zu sein, seit er in diesem Zimmer voller Begeisterung saß. Und wieder ließ er seinen Blick im Raum umherschweifen, als suche er irgendwo einen Konzertflügel.
Er sagte, als würde sein Gemüt endlich von der langersehnten Ruhe erfüllt. »Das mußte so kommen, früher oder später. Wenn es Ohlhaut gewesen wäre …«
»Was wäre dann?« fragte Bertram in scharfem Ton.
»Ohlhaut enttäuscht niemand«, entgegnete Fritsch ohne Verbitterung, »was immer er auch tut.«
»Nicht er steht zur Diskussion, sondern Sie.«
»Das ist es ja.« Jetzt sprach Fritsch mit der Gleichgültigkeit der Verzweiflung. »Und weil wir gerade dabei sind, möchte ich Ihnen nicht verheimlichen, daß ich den Tod einer Patientin verschuldet habe.«
»Was haben Sie?«
»Es war eine Wiederrhythmisierung. Ich habe sie umgebracht.«
Bertrams Nasenflügel bebten. »Für den Versuch hätten Sie meine Zustimmung gebraucht.«
»Es ging auch ohne. Schief.«
»Was ist passiert?«
»Kammerflimmern. War gleich tot.«
»Ich verstehe Sie nicht ganz. Warum haben Sie das gewagt?«
»Aus Ehrgeiz, nehme ich an. Ich wollte mir beweisen, daß ich was kann. Ich war von meiner eigenen Bedeutung überzeugt.«
»Die Todesursache, sind Sie sich dessen sicher? Die Obduktion …«
»Fand nicht statt. Ich habe die Leiche freigegeben.«
»Unter diesen Umständen«, Bertram war sehr förmlich, »sehe ich keinen Anlaß, Ihre weitere Mitarbeit in Anspruch zu nehmen.«
»Gewiß«, sagte Fritsch entgegenkommend, »das dürfte Ihnen kaum schwerfallen.«
Dann, als ob ihm das Ganze erst jetzt bewußt würde, sprach er schnell: »Aber was habe ich denn getan, was Sie nicht auch getan haben? Sie benehmen sich, als wären Sie unfehlbar, aber auch Sie sind einmal jung gewesen. Vielleicht macht es Ihnen Spaß, wenn alle vor Ihnen zittern, es ist eine verfeinerte Art von Unmenschlichkeit. Auch wie Sie mit mir umgehen. Man soll nicht so tun, als wäre die Welt aus den Fugen, sie war eine alte Frau, die ihr Leben gelebt hatte, und ich der Arzt, der versuchte, ihr Herz wieder in Ordnung zu bringen. Es hat eben nicht geklappt. Muß ich dafür mit dem Ruin meiner Existenz büßen?!« Er wiederholte den letzten Satz, um festzustellen, wie er sich anhörte, und rief aus: »Was erwarten Sie von mir? Sie werden doch nicht behaupten, es wäre Ihnen noch nie etwas Ähnliches passiert? Sie selbst wissen, wie oft …«
»Ja«, sagte Bertram, »nur sehen Sie den Unterschied?«
»Welchen?«
»Ich bin Ihr Vorgesetzter.«
»Sie meinen«, entgegnete Fritsch, »auf Anordnung eines Ordinarius stirbt es sich leichter.«
Das war mit der Würde des Klinikchefs nicht vereinbar. »Gehen Sie«, sagte Bertram.
›Hier bin ich‹, dachte Fritsch ohne Überzeugung, ›hier gehöre ich her.‹
Zu Lisa, der er im Flur der Frauenstation begegnete, sagte er: »Wie sehr Sie mich jetzt hassen!«
»Ich Sie hassen?« entgegnete sie.
»Ich habe Sie irregeführt. Sie haben meinetwegen Todesängste ausgestanden, ist das nicht Grund genug?«
»Sie haben mir sehr geholfen«, sagte sie aufrichtig. »Sie handelten nach Ihrer Überzeugung.«
Und weil er sie ungläubig ansah, sagte Lisa: »Sie taten Ihr Bestes.«
»Soll das heißen«, Fritsch atmete vernehmlich, als würde er dieser Frage eine außerordentliche Bedeutung beimessen, »Sie würden einen Arzt, der so wie ich gehandelt hat, trotzdem wieder aufsuchen?«
»Jederzeit«, war ihre Antwort. Sanft korrigierte sie ihn: »Nicht trotzdem, deswegen.«
»Heißt das, Sie verzeihen mir?«
Der dumme, dumme Junge. Jetzt wußte Lisa, daß die Liebe nicht aus gemeinsamen Abenden vorm Fernseher bestand, aus einer sauberen Wohnung und regelmäßigen Mahlzeiten. Die Liebe war etwas ganz anderes als Verpflichtung, Dankbarkeit und Nebeneinanderleben.
Sie stand vor Fritsch und berührte ihn fast, nur war diese Liebe, so zum Greifen nahe, für sie unerreichbar.