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Trotz seiner Skepsis wurden Stephans ehrgeizige Pläne bald Wirklichkeit. Schneller als in seinen kühnsten Träumen. Bertrams erstes Ziel war Japan.

Japan hinterließ in seinen Erinnerungen ein nahezu gleichbleibendes Bild: verdunkelte Untersuchungszimmer, liegende Patienten, leises Summen der Kaltlichtquelle. »Sehen Sie sich das genau an, Mr. Bertram! Diese weichen, voll beweglichen Instrumente werden bald die Medizin revolutionieren. Die 300 Watt dieser Lichtquelle erzeugen keine Wärme. Kaltlicht. So einfach ist jede geniale Idee. Mit den hochwertigen Optiken, mit eingebauten Kameras, sind wir in der Lage, jeden Millimeter der Speiseröhre, jeden Winkel des Magens auszuleuchten. Sehr bald werden alle Organe ihre Geheimnisse preisgeben …« Medizinische Klinik der Intendo-Universität, Tokio, Japan. Die Speiseröhre eines vierundvierzigjährigen Japaners mit braunen Rehaugen. Ein Tumor hat das untere Drittel der Speiseröhre ummauert.

»Sehen Sie es, Dr. Bertram?«

Medizinische Klinik der Universität Chiba, in Chiba, Japan. Der Magen einer einunddreißigjährigen Frau. Schleimhautkarzinom Typ I.

»Die kleine Vorwölbung am Magenausgang, Mr. Bertram. Groß wie der Kopf einer Stecknadel.«

National Cancer Center Hospital, Tokio. Kleine, höfliche Japaner.

»Um die Jahrhundertwende war Japan ein Entwicklungsland, Mr. Bertram. Damals hatte die deutsche Medizin auf allen Gebieten Weltgeltung. Die japanische Regierung wandte sich an die deutsche mit der Bitte um Entsendung von Experten. Junge Wissenschaftler, Privatdozenten und außerplanmäßige Professoren wurden von Ihren Universitäten beurlaubt und zu uns geschickt. Den Deutschen haben wir viel zu verdanken. Was können wir noch für Sie tun?«

»Danke«, sagte Bertram, »ich habe viel gesehen. Sie haben sich große Mühe gegeben.«

Im Oktober ist es schön in Japan. Es kommt ihm vor, als ob er sehr lange von zu Hause weg gewesen wäre. Das Geld für seine Reise hat er von Karens Mutter bekommen. Er wird es erst zurückzahlen, wenn er genug verdient. Demnach mußte Elisabeth Kerckhoff von seinem Erfolg überzeugt sein. Alles war schnell gegangen und ohne sein Zutun: Elisabeths Vorschlag, ihm das Geld zur Verfügung zu stellen, Karen, die ihn drängte, und Auerbach, der viel zu bereitwillig sein Gesuch auf einen unbezahlten Studienurlaub genehmigte. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um zu wissen, daß Stephan dahintersteckte.

Im November ist es in Japan warm. Er führt Selbstgespräche und hat Heimweh.

»Möchten Sie nicht ins Theater gehen, Mr. Betram? In Tokio haben wir ein Kabuki-Theater, entzückend.«

»Eine Vorstellung, die sechs Stunden dauert? Sie haben hier die Ewigkeit gepachtet!«

Dann wird er eines Abends ans Telefon geholt. In einem Stimmengewirr hört er Elisabeths Stimme, die ihm etwas Unfaßbares sagt, etwas völlig Absurdes, er weigert sich, es zu glauben.

»Du mußt gleich zurückkommen, Hannes«, sagt sie, »es ist wegen Karen … Sie hat Brustkrebs.«

»Nein«, antwortet er. »Nicht Karen. Es muß ein Irrtum vorliegen. Nicht Karen …«

Dann erst wird ihm bewußt, worum es geht. Jetzt schreit er: »Wo ist Stephan?! Ich muß Stephan sprechen …«

»Ich geb' ihn dir gleich«, sagt Elisabeth, und fast gleichzeitig hört er Stephans Stimme: »Komm zurück, es ist wahr. Ich habe es selbst …«

Die halbe Nacht wartete er auf dem Flughafen. Es gab Zwischenlandungen. Die meiste Zeit starrte er vor sich hin, dann redete er mit seiner Nachbarin. Mitten im Satz hörte er plötzlich auf, regungslos, mit herabhängenden Kiefern.

»Fühlen Sie sich nicht gut?« fragte sie beunruhigt. »So sprechen Sie doch, junger Mann.«

Der Chefarzt
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