11

Zu Hause wartete niemand auf ihn. Am Flughafen regnete es in Strömen, ein kalter Novemberregen. Er trug seine zwei Koffer selbst zum nächsten Taxistand.

Karen war schmal geworden, ihr Gesicht wirkte blaß und abgespannt, sonst ließ sie sich nichts anmerken. In der Familie Kerckhoff war man dazu erzogen worden, Haltung zu bewahren.

»Du mußt dich umgehend operieren lassen«, redete er auf sie ein. »Ich hab' mit Hildebrand darüber gesprochen. Kaiser übernimmt die Anästhesie …«

Schweigen.

»Ich versteh' nicht, warum du die Operation so hartnäckig ablehnst, obwohl …«

Schweigen.

»Also gut. Es ist unsere einzige Chance, das weißt du genausogut wie ich.«

»Mein Entschluß steht fest. Ich lasse mich nicht verstümmeln. Du darfst keine krebskranke Frau heiraten.«

»Du mußt schon mir überlassen, wen ich heirate. Ich hätte als Arzt keine Alternative zu bieten. Es bleibt also die Operation …«

»Fürs erste, nicht wahr, Hannes? Ich möchte dir sagen, wie ich diese großartige Chance sehe. Zunächst wird man mir die Brust abnehmen und das Muskelgewebe samt Lymphdrüsen bis in die Achselhöhle … ausräumen. Das wird eine lange, häßliche Narbe hinterlassen, die nach den Röntgenbestrahlungen hart, verzogen und noch häßlicher aussehen wird. Du denkst schon an Bestrahlungen, gib's zu, du denkst immer an alles. Nach dieser barbarischen Operation wird man mich sterilisieren. Auch daran hast du gedacht. Werde ich noch eine Frau sein, nachdem ihr all das mit mir gemacht habt? Eine, die du ohne Mitleid heiratest?«

»Ich gebe zu, es hört sich schlimmer an als …«

»Das ist nicht alles, Johannes. Dann werden wir anfangen zu warten. Wir werden auf die Metastasen warten und hoffen, daß sie nicht kommen. Angst davor haben und diese Angst nie laut aussprechen. In ein oder zwei Jahren werden sie doch kommen. Du wirst mich beobachten und heimlich nach Symptomen suchen. Ich werde so tun, als ob ich es nicht merke, und wir werden uns verdammt gefaßt geben …« Sie unterbrach sich jäh und sagte bedauernd: »Entschuldige.«

Am selben Abend sprach sie nochmals darüber: »Unser Unglück ist, daß wir beide Bescheid wissen. Bist du immer noch der Meinung, ich soll mich operieren lassen?«

»Ja.«

»Jetzt spricht der Arzt«, sagte sie, und er schaute sie an, als ob ihm gerade bewußt würde, daß er Arzt ist. Spontan sagte er: »Ich kann mir das Leben ohne dich nicht vorstellen. Ich liebe dich.«

Es schien, als ob der Himmel es mit ihnen gut meinte. Von einem Tag zum anderen hörte das regnerische Wetter auf, die Tage wurden bläulich klar und sonnig, ein wenig von der schweren Farbenpracht des Herbstes kehrte für kurze Zeit zurück. Sie fuhren mit Karens Auto für ein paar Tage in die Berge. Goldgelbe Blätter fielen gegen die Windschutzscheibe, die Bäume waren nahezu kahl.

Der Wind pfiff durch das offene Fenster, wehte Karens Haare in sein Gesicht.

»Du wirst dich erkälten«, sagte er und sah betroffen ihren Blick, der ihn daran erinnerte, daß sie jenseits von solchen Belanglosigkeiten war.

Wenn sich der wahre Charakter eines Menschen am Tage der Prüfung ungeschminkt zeigt, so war die Karen, die er jetzt erlebte, nicht viel anders als die frühere. Sie war beherrscht, vermied jede Sentimentalität und ebenso die leiseste Demonstration ihrer Tapferkeit. Später hatte er daran gedacht, welche Kraft es ihr abverlangte, so zu sein, wie sie immer gewesen war.

Karen erlebte jeden Augenblick ihres Beisammenseins viel bewußter. Selten, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, bekam ihr Gesicht einen grübelnden Ausdruck. Dann lächelte sie ihn an, als ob sie, bei einer unerlaubten Schwäche ertappt, um Nachsicht bäte. Er erfuhr nie, ob sie Angst vorm Sterben hatte.

Er sah sie glücklich, glaubte zu spüren, daß ihr Widerstand nachließ, und redete auf sie ein, drängte auf eine Operation. Sie hörte ihm schweigend zu.

Sie merkten nicht, wie die Tage verflogen.

Am Tage vor ihrer Rückkehr war sie heiter und glücklich. Er mußte sich beherrschen, als er sie so voller Leben sah. Sie gingen spazieren. Auf einem schmalen Weg drehte sie sich um und sagte leise: »Ich hab es mir anders überlegt. Ich bin mit der Operation einverstanden.«

Am nächsten Tag fuhren sie nach Hause. Er war voller Zuversicht und Zukunftspläne, sie schweigsam. Sie fuhren einen holprigen Gebirgsweg hinunter, er mußte sich darauf konzentrieren. Der Gedanke an ihren plötzlichen Sinneswandel beschäftigte ihn lange, bevor er ihr die Frage danach stellte.

»Es war hochmütig von mir«, sagte sie. »Mir ist später klar geworden, was du alles durchmachen mußtest, während ich …«

Der holprige Gebirgsweg mündete in eine breite Asphaltstraße. Er wechselte den Gang und streifte sie mit einem kurzen Blick.

Sie fuhren nach Norden. Der Himmel wurde grau und während der Abenddämmerung erreichten sie das schlechte Wetter. Ohne Vorwarnung hörte der unwahrscheinlich schöne Herbst auf; der erste Schnee fiel.

Karen von Kerckhoff starb an einer Überdosis Schlaftabletten in der Nacht vor ihrer Operation. Sie war gerade siebenundzwanzig geworden. Es geschah in der ersten Dezemberwoche, man verzeichnete die größten Schneefälle seit fünfundzwanzig Jahren. Es wurde nicht richtig kalt, der Schnee fiel weiter, als würde es nie mehr aufhören zu schneien.

Der Chefarzt
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