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Weitere Eintragungen in Bertrams Tagebuch:
»Ich habe einige meiner Pflichten über. Die Stationsarbeit langweilt mich, doch die Alltagsroutine im medizinischen Beruf ist anspruchsvoll, weil sie menschliche Anteilnahme verlangt. Das vergessen wir oft. Ich bekomme jedesmal Gewissensbisse, wenn ich mich meinen Patienten gegenüber gereizt oder gar schroff benommen habe. Wehe dem, der glaubt, es sich leisten zu können, am Bett eines Kranken unbeteiligt zu sein, oft erweist sich sein ganzes Wissen als nutzlos. Wenn der Arzt sein Mitempfinden verliert, so ist das sein (stilles) Ende. Was übrigbleibt, ist kalte Technik, die von solchen Menschen zur Perfektion geführt wird. Ich kannte einen Chirurgen, der bei Blinddarmoperationen die Haut samt Bauchmuskel mit einer einzigen Bewegung durchschnitt. Er hat nie den Darm verletzt und war sehr stolz darauf. Daß er ihn verletzen könnte, kam ihm nicht in den Sinn.
Ich bedauere, daß ich Stunden meines Tages mit unnötigen Dingen verbringen muß. Im medizinischen Beruf gibt es eine Menge Schreibarbeit und bürokratischen Kleinkram. Ich würde diese Zeit lieber für meine Patienten verwenden. Inzwischen baue ich die gastroenterologische Abteilung weiter aus, die Zahl der Magen- und Darmspiegelungen ist rapide angestiegen. Ich werde mit Anrufen und Briefen überflutet, seit eine Tageszeitung mein Foto veröffentlichte mit der albernen Überschrift: ›Lassen Sie sich den Magen fotografieren. Dr. Bertram sagt Ihnen, ob Sie einen Frühkrebs bekommen.‹
Ich bin mir wie ein Wahrsager vorgekommen. Ich stelle fest, daß mir das Lehren großen Spaß bereitet. Ich weihe meine Mitarbeiter in die Geheimnisse der Magenspiegelung ein und lasse mir dabei besondere Tricks einfallen, dadurch wird das Ganze anschaulich. Mein Drang zur Perfektion, gegen den ich mich vergeblich auflehne, findet inzwischen in meiner Fingerfertigkeit Genugtuung. Eine meiner Leitregeln: Je gefürchteter die Untersuchung, desto gekonnter muß sie gemacht werden. Das schafft eine solide Basis für gegenseitiges Vertrauen. Um es einfacher zu sagen: Der gute Arzt darf nicht schlecht spritzen, obwohl dies über die anderen Qualitäten des Arztes wenig aussagt. Aber das Zusammenspiel von Arzt und Patient hat nun mal seine eigenen, nicht immer rational zu begründenden Regeln. Malvina Auerbach nimmt mir viele meiner Obliegenheiten bereitwillig ab. Merkt sie, wie lästig mir diese Dinge sind? Sie glaubt hoffentlich nicht, ich werde größenwahnsinnig.
Vor einigen Tagen bat sie mich, bei einer Patientin die Leber abzutasten. Während ich die Untersuchung durchführte, merkte ich, wie sie mich durchdringend beobachtete. Ich stellte die Verdachtsdiagnose Lebermetastasen, die sich bei der Leberspiegelung bestätigte.
Bei dieser Gelegenheit fiel mir Malvinas Blick auf. Sie hat etwas weit auseinanderstehende Augen. Die Farbe: ein ruhiges Grau, weder hart noch weich. Schöne Augen.«
»Unter den Assistenzärzten meiner Station befindet sich ein gewisser Nils Fleissner, ein Hüne von einem Mann, mit mächtigen Pranken, so daß seine äußere Erscheinung die Frage aufkommen läßt, warum er sich ausgerechnet für den Arztberuf entschieden hat. Nur wenige wissen, wie sensibel er unter seinem robusten Äußeren ist. Dieser Nils Fleissner sagte zu mir: ›Auch Sie habe ich gestern auf dem Friedhof gesehen.‹
›Auch? Und wen noch?‹
›Die Kollegin Auerbach. Sie ist kurz vor Ihnen weggegangen. Ich dachte, Sie hätten sie getroffen.‹
›Ist Ihnen ein Todesfall in der Familie Auerbach bekannt?‹
›Der Chef lebt noch‹, sagte er und errötete. Fleissner ist derzeit Auerbachs Opfer. Der Alte kann es nicht lassen, seine Mitarbeiter bei den Visiten zu schikanieren. Das kommt daher, weil er glaubt, auf diese Weise seine Autorität zu festigen. Ich finde es unanständig, sein Selbstbewußtsein zu stärken, indem man den anderen ihre Unzulänglichkeiten unter die Nase reibt. Ich stelle mich vor Fleissner, so gut ich kann, und versuche, den Alten von ihm abzulenken. Seiner sensiblen Natur entsprechend möchte er mir seine Dankbarkeit beweisen.
›Warum waren Sie gestern auf dem Friedhof?‹
›Ich war beim Begräbnis einer Verwandten.‹
›Wieso glauben Sie, ich hätte mich dort mit Malvina Auerbach verabredet?‹
Ich sah, wie er zögerte ›Sie ging in die Richtung, aus der Sie kamen.‹
›Hören Sie‹, sagte ich, ›Sie sind ein vernünftiger Mensch. Mein Gefühl sagt mir, daß Sie etwas verschweigen. Wo liegt die Pointe?‹
Er zögerte abermals. ›Ich habe die Kollegin Auerbach am Grab Ihrer Verlobten gesehen.‹
›An Karens Grab? Sie müssen sich geirrt haben.‹
›Ich stand in der Nähe, sie sah mich nicht, sie war allein, und schmückte das Grab mit Blumen.‹
Ich schwieg. Er sagte: ›Hoffentlich bin ich Ihnen nicht zu nahe getreten. Ich hatte das Bedürfnis, es Ihnen zu erzählen.‹«
»Ich gehe selten zu Karens Grab. Gestern war ich dort, es gab einen Grund dafür.
Es ist inzwischen März geworden. Der Schnee ist überall geschmolzen. Karen ist seit drei Monaten tot.
Ich sah gelbe Krokusse. Die Erde war schwarz, fett und großkörnig und dampfte etwas unter der Sonne. Karens Grab ist ein Provisorium. Noch kein Grabstein. Die Erde muß sich erst noch setzen.
›Ich fahre nach Amerika‹, sagte ich laut. Ich sagte nicht ›Karen‹. Ich sprach nie zu Karen, nicht, weil ich vermeiden wollte, sentimental zu werden oder traurig. Ich war hierhergekommen, weil für mich ein Lebensabschnitt beendet war. Ein neuer begann.
Wir hatten von der Zeit geträumt, wo ich nach Amerika fahren würde, als Gastarzt an eine berühmte Klinik. Immer wieder hatten wir davon gesprochen. Karen wollte mitkommen. Jetzt werde ich allein hinfahren. Das Leben geht weiter.
›Die Universität hat mich auf ein Jahr beurlaubt‹, sagte ich. ›Ich komme in einem Jahr wieder.‹
Ich sah die Blumen, frische Schnittblumen. Ich dachte, sie seien von Elisabeth. Es waren lange Gladiolen, die zartrosa schimmerten. Teure Vasenblumen, keine Grabblumen.« Hiermit endeten Bertrams Eintragungen in diesem Heft.