Geburt eines Traumes
1
Auf der Treppe zur chirurgischen Unfallambulanz steht Schwester Rosemarie Schwarz und verfolgt, wie Gräfin Kerckhoff in einem Rollstuhl spazierengefahren wird. Sie denkt an die Schmuckkassette der Gräfin in ihrem Krankenzimmer. Dabei breitet sich auf Rosemaries schmalem, spitzem Gesicht ein Ausdruck unbewußter besitzergreifender Gier aus. Sie ist ein junges Mädchen, an dem nichts Auffallendes ist, ausgenommen ihre schwere schwarze, unter der Schwesternhaube etwas in Unordnung geratene Haarpracht. ›Eine nutzlose alte Frau‹, denkt Rosemarie, ›die dem Tod zürnt.‹
»Viele Mannsperson«, sagt der Inder Schi, als er die Bahre in den stickigen Vorraum der Unfallambulanz fährt. Es ist Mittwochabend. Er schiebt sie zwischen ein achtjähriges Mädchen mit einem unkomplizierten Unterschenkelbruch und eine alte Dame, die eine Platzwunde an der Stirn hat. Auf der Bahre liegt, ausgestreckt und etwas blaß, der Gastarbeiter Antonio Dellonga. Schi sieht auf Rosemaries Rücken, er lächelt und zupft eine durchnäßte pechschwarze Haarsträhne von Antonio Dellongas Stirn.
Flink bewegt sich Rosemarie zwischen dem kleinen Operationssaal und den beiden Vorräumen, wo die Verletzten eines Verkehrsunfalles auf ihre Wundversorgung warten. Ihre Aufgabe besteht darin, sie zu überwachen und warm zu halten, ihnen Schmerzmittel zu geben und vor allem aufzupassen, daß niemand plötzlich einen Schock bekommt.
»Ich viel Schmerz«, sagt Antonio Dellonga zu der strengen Ragazza in Schwesternuniform.
Antonio hat zwei ungefährliche Messerstiche ins Gesäß gekriegt in der Gaststätte ›Zum goldenen Hirsch‹, die vorwiegend von Gastarbeitern frequentiert wird. Rosemarie, die sein Stöhnen hört, mißt den Blutdruck und gibt ihm eine Spritze in den Oberarm. »Es ist eine Plage mit euch, immer viel Schmerz«, sagt sie und bleibt unvermittelt stehen.
Sie weiß, daß sie es tun wird, heute Abend.
Um elf Uhr ist es soweit. Das Problem, denkt Rosemarie, sind die beiden hier, die Frau und der Gastarbeiter. Zwei Zeugen.
Kurzentschlossen fährt sie die Bahre mit Antonio Dellonga in ein Zimmer gegenüber der Ambulanz, es ist ein schmaler, fensterloser Raum, wo die Putzfrauen ihr Zeug aufbewahren. Eine nackte Birne leuchtet grell. »Du hier warten«, sagt sie und schiebt die Bahre hinein. Ein Emailleeimer kracht auf den Zementboden.
»Ich bald kommen«, sagt Rosemarie zu Antonio Dellonga, der dankbar lächelt. Dann rennt sie die Kellertreppe hinunter, an den Heizungsräumen vorbei, und vor der Kellertreppe zu Bertrams Privatstation, die sich im Erdgeschoß befindet, hält sie einen Augenblick und versucht, ihren Atem zu beruhigen.
Im Flur, vor dem Zimmer der Gräfin, zieht sie ihre Schuhe aus, gebückt geht sie auf Zehenspitzen hinein.
Sie bleibt stehen.
Die Gardinen sind nicht zugezogen. Ein bedeckter, sternenloser Himmel vertieft die Dunkelheit. Sie sieht undeutlich die Umrisse der liegenden Frau. Sie schläft. Ihre Atemzüge sind tief und regelmäßig, sie schnarcht etwas. Die Schmuckkassette liegt auf dem altmodischen eisernen Nachtkasten, unverschlossen. Mit hastigen Bewegungen leert Rosemarie die Kassette, wahllos stopft sie alles in ihre Taschen, bald stoßen ihre Finger auf Papier, sie hat den Kassettenboden erreicht. Da merkt sie, daß die Kranke wach ist.
Bevor sie diesen Gedanken richtig fassen kann, fragt eine tiefe, unerwartet kraftvolle Stimme: »Bist du es, Hannes?«
»Nein«, flüstert Rosemarie, »ich bin's … Schwester Aida.«
Sie hört, wie die Kranke nach dem Lichtschalter tastet, und weiß, daß sie verloren ist.