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Stephan hielt sich tatsächlich für eine Art Gewissen oder für eine Instanz, es kam auf dasselbe heraus. Bertram brauchte Zeit, um zu verstehen, wie ernst es ihm damit war. Schon damals wurde Stephan als ein versierter Pathologe angesehen, seine Erfahrung war so vielseitig, daß man sich die Frage stellte, wann er seine Lehrzeit absolviert hatte. Privat war er nicht übermäßig gesellig, dennoch aufgeschlossen. Die grimmige Art, mit der er seine Kollegen vor den Kopf stieß, kam erst später hinzu. Stephan war schwierig, und oft erlebten die Stationsärzte bei der Obduktion ihrer Patienten peinliche Augenblicke. Doch hinterher verlor er nie ein Wort darüber. Insofern stimmte sogar seine Behauptung, er sei das Gewissen.

Diese und ähnliche Fragen beschäftigten Bertram am Anfang ihrer Freundschaft.

Sie hatten sich damals aus Frauen nicht viel gemacht, sagte sich Bertram wiederholt. Elisabeths Tod hatte Erinnerungen, die er längst vergessen hatte, wachgerufen. Was die Frauen betrifft, hatte er sich mehr aus ihnen gemacht als Stephan.

Stephan und er hatten zu jener Zeit andere Ziele gehabt und das Leben mit anderen Dingen ausgefüllt. Sie zehrten von ihrem Glauben an die Zukunft, die Enttäuschungen wurden zum Ansporn. Sie waren zwei Besessene.

Hatte Stephan jemals versucht, seine Annäherung an Karen zu verhindern, war er eifersüchtig? Vergeblich suchte Bertram in seiner Erinnerung. Stephan war schwer zu durchschauen. Warum hatte er nicht geheiratet? An Gelegenheiten dürfte es ihm nicht gefehlt haben. Stephan sah nicht aus wie ein Frauenheld, aber seit wann stellt das Äußere eines Mannes ein ernstzunehmendes Heiratshindernis dar? Inzwischen hatte es Stephan weit gebracht, er war ein Pathologe von Rang und sicher kein armer Mann.

Stephan verhielt sich fair und hatte nie versucht, sich zwischen ihn und Karen zu stellen. Er hatte geschlichtet, als sie verkracht und beide zu stolz waren, um den ersten Schritt zu machen.

Was hätte er an seiner Stelle getan? Man lernt ein hübsches Mädchen kennen. Eines Tages kommt der Freund und lacht sich das Mädchen an. Der Freund ist in guter Form und bester Stimmung, er sagt: »Sind Sie wirklich eine ›von‹? Sie sehen nicht so aus, als ob Sie Riechsalz bräuchten. Nehmen Sie das Kopftuch weg, ich möchte Ihre Haare sehen.«

Die Pracht ihrer Haare hatte bei ihm einen merkwürdigen Schmerz hinterlassen, das Bedauern, daß so viel Schönheit ihm nie gehören würde. Für den Rest des Abends war er schweigsam und in sich gekehrt.

War Karen hübsch? Die meisten behaupteten es. Er sah es anders. Karen verkörperte seine Schönheitsvorstellung in den fünfziger Jahren, wie Malvina mit ihrer beinah knabenhaft wirkenden Figur seiner Vorstellung des Weiblichen in den sechziger Jahren entsprach. Karens Haare hatten ein kräftiges Blond und glänzten, Malvinas waren dunkler. Könnte man auf diese Weise eine Frau beschreiben? Er sagte sich: Karen besaß den schönen, leidenschaftlichen Körper eines gesunden Mädchens vom Lande, obwohl sie aus einer alten Adelsfamilie stammte. Sie hatte wunderschöne, sehr weibliche Schultern und war, wenn auch heimlich, stolz auf ihre Brüste. Großer Gott! Das war nicht seine Karen.

Der Chefarzt
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